Von der

 

(Un)Möglichkeit eines

 

freireligiösen

 

Bekenntnisses

 

 

 

 

 

 

und von der Nachhaltigkeit

freireligiöser Grundsätze

 

 

1875

 


 

 

  

 

2015

Selbstverlag

Lothar Geis (Herausgeber)

Mainz

_________________________________________

 

 


 

Im Jahr 1875, also genau 140 Jahre vor Herausgabe dieser Schrift, ereignete sich bei den freireligiösen Gemeinden in Deutschland der Versuch eines radikalen Bruchs mit einem althergebrachten und bis dahin hochgehaltenen Grundsatzes. Dass dieser fehlschlug, lag nicht zuletzt an Wilhelm Hieronymi, dem Prediger der Deutschkatholischen Gemeinde Mainz, der mit überzeugenden Argumenten den Anfängen erfolgreich wehren konnte.

Was war geschehen?  Die heute nicht mehr bestehende freie Gemeinde Greifswald hatte beschlossen,
etwas gegen den, wie die Verantwortlichen meinten, sich abzeichnenden Niedergang der freireligiösen  Idee und die damit einhergehende Stagnation der freien Gemeinden in Deutschland zu unternehmen. Als Hauptgrund für das nachgelassene öffentliche Interesse an den Bestrebungen der Freireligiösen zur Erreichung religiöser Geistesfreiheit vermeinte man eine unzureichende Kooperation untereinander
sowie eine unzulängliche Wahrnehmung der Gemeinden in der Öffentlichkeit ausgemacht zu haben.

Den Greifswaldern erschien es deshalb sinnvoll, die freien Gemeinden in Deutschland mit einem schärferem Profil zu versehen und sie darüber hinaus einem einheitlichen Ziel unterzuordnen. Ein erster grundlegender Schritt zur Positionierung sollte mit der Formulierung eines gemeinsamen Glaubensbekenntnisses getan werden.

Deshalb erging der Vorschlag, ein solches zu entwerfen, es in allen freien Gemeinden Deutschlands zu verbreiten und ausführlich zu diskutieren. Nach einer endgültigen Aussprache sollte darüber abgestimmt werden, um dann eine von allen zu tragende Endfassung anzufertigen. Das so entstandene freireligiöse Glaubensbekenntnis müsse dann für alle Gemeinden bindend sein. Die Initiatoren erhofften sich, dass die  freireligiösen Gemeinden zukünftig in der Öffentlichkeit als geschlossene Einheit wahrgenommen werden würde.

Das war insofern revolutionär, als der Vorschlag einen eklatanten Bruch einer bis dahin gepflegten freireli-
giösen Tradition bedeutet hätte.

Leit-[1] und Richtlinien, Grundgedanken und Erklärungen zur freireligiösen Religions- und Weltanschauung waren und sind nichts außergewöhnliches. Es hat sie immer wieder gegeben. Sie waren notwendiger Weise verfasst worden, um interessierten Mitmenschen, und damit potenziellen Mitgliedern, eine schnell fassbare Orientierungshilfe an die Hand geben zu können.

Aber dabei herrschte stets allgemeine Übereinstimmung, dass der religiöse Glaube ausschließlich Sache der einzelnen Gemeindeglieder sein soll.  Denn vor allem aus diesem Umstand leitet sich die Bezeichnung "freie" religiöse Gemeinde ab, weil niemand und nichts, weder den Mitgliedern noch den Gemeinden, in Sachen religiöser Anschauung irgendwelche
Vorschriften machen soll und darf.

Angesichts neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und einer im stetigen Wandel begriffenen Weltsicht galt es freireligiösen Menschen nicht mehr als vertretbar, sich in religiöser Hinsicht an antiquierte Buchstabenformeln und alte Bekenntnisse zu binden.

In Greifswald wollte man 1875 mit diesem grundlegenden freireligiösen Prinzip brechen. Zugunsten
einer eventuellen Öffentlichkeitswirksamkeit sollte  diese Grundauffassung des freien Gemeindetums geopfert werden, indem man alle freien Gemeinden auf ein gemeinsames freireligiöses Glaubensbekenntnis zwingend verpflichten wollte. 

Die Voraussetzungen zu einem solchen Neubeginn schienen günstig, denn zur Greifswalder Gemeinde war ein Medizinstudent gestoßen, der sich eifrig für diese Idee einsetzte und einen auf den ersten Blick brauchbaren Entwurf vorgelegt hatte.

Die Angelegenheit nahm ihren Lauf, nachdem der
Student M. Großmann neben seinem Bekenntnisentwurf noch einen erläuternden Artikel verfasste, in dem er die aus seiner Sicht bestehende Notwendigkeit
eines gemeinsamen Bekenntnisses als unumgänglich für die Zukunftssicherrung der freien Gemeinden
dargestellt hatte.

Der Artikel erschien in dem von Leberecht Uhlich[2] begründeten "Sonntagsblatt" und wurde, weil der Vorschlag in allen Gemeinden diskutiert werden sollte, auch in anderen freireligiösen Zeitschrift abgedruckt.

Der Pfarrer der Deutschkatholischen Gemeinde Mainz, Wilhelm Hieronymi, nahm im "Deutsch-katholischen (freireligiösen) Sonntagsblatt" ent-schieden Stellung gegen diese Pläne. Seine Ausführungen sind ein Lehrstück über die Prinzipien der freien Gemeinden und deshalb auch heute noch wert, gelesen zu werden.

Es spricht für die Qualität von Hieronymis Artikel, dass die ganze Angelegenheit danach sang- und klanglos erledigt war. Hieronymis Bewertung erfüllt damit alle Voraussetzungen eines freireligiösen Klassikers. Seine Gedanken der Vergessenheit zu entreißen, soll mit dieser Wiederveröffentlichung erreicht werden.

So wie im Jahr 1875 geschehen, hat es in der
Geschichte der Freireligiösen immer wieder Anläufe einzelner oder von Gruppen gegeben, althergebrachte, bewährte und sinnvolle Grundsätze zugunsten fragwürdiger Anpassungen an den so genannten Zeitgeist ändern zu wollen. Entsprechende Versuche
fanden bis in die Gegenwart mit gewisser Regel-mäßigkeit in mehrjährigen Abständen statt. Leider verliefen solche Ereignisse immer zu Lasten und zum Nachteil für die Gesamtbewegung.

Ob es sich dabei um ein einheitliches, bindendes Glaubensbekenntnis, einen Namenswechsel für einzelne Gemeinden oder die gesamte Organisation oder einen totalen Richtungswechsel, wie den von religiös zu areligiös, handelte, bleibt letztlich gleich. Denn
die Motivation solcher Versuche waren immer dieselben. Man wollte stets die Gemeinschaft attraktiver machen, also mit neuen Ideen mehr Mitglieder gewinnen, leider ohne zu wissen, auf wen man dann attraktiv wirken würde.

Glücklicherweise sind solche Versuche bislang stets gescheitert, weil dabei immer die Geistesgeschichte der Freireligiösen unbeachtet blieb.

Die Neuerer und Verbesserer, sie reden, sie schreiben, sie diskutieren, aber sie lesen nichts. Sie
nehmen nicht die althergebrachten Positionen ihrer Gemeinschaften zur Kenntnis. Immer erschien es
ihnen sehr viel leichter, etwas ganz Neues zu beginnen und das Alte unbeachtet hinter sich zu lassen. Darin liegt der Kardinalfehler: Wer Außenstehende gewinnen möchte, muss über besonders überzeugende Gedanken verfügen. Diese aber wollen erarbeitet, gepflegt und weiter entwickelt werden.

Deshalb erscheinen mir die Gedanken Hieronymis auch heute noch - 140 Jahre nach dem geschilderten folgenlosen Ereignis - so klar, so zeitlos, so aktuell und so lehrreich. Es würde mich freuen, wenn wir - die noch Freireligiösen - seine Hinweise und Argumente dazu nutzen können, um zukünftige "Reform-versuche", also solche, die gegen freireligiöse Prinzipien verstoßen, zu erkennen und abzuwehren.

Im Nachfolgenden beschränke ich mich darauf, den Greifswalder Bekenntnisentwurf "Grundsätze und
Anschauungen der freien religiösen Gemeinden" von M. Großmann sowie die daraufhin abgegebene Kommentierung und Bewertung Hieronymis  zu veröffentlichen
[3].  

 

Lothar Geis

Mainz, 2015


 


 

Deutschkatholisches  (Freireligiöses)

Sonntagsblatt,

25. Jahrgang

Beginnend mit Nr. 39  (26. September) 1875

Die Redaktion von Uhlichs "Sonntagsblatt" bemerkt [zum  nachfolgenden Entwurf]:  

Wir haben diesen Versuch oder diese Vorlage von
einem Studenten der Medizin an der Universität Greifswald umso lieber aufgenommen, als ja gerade die Frage der Aufstellung eines Bekenntnisses in unseren
Gemeinden in letzter Zeit lebhaft angeregt wurde, wenn wir auch  bekennen müssen, dass wir nicht mit allen Punkten mit dem Verfasser übereinstimmen.

Dieser Vorlage soll in nächster Nummer unseres Blattes ein Aufruf von demselben Verfasser folgen.

Wir wünschen nur, dass die Vorlage recht viel Beachtung finde und dass die freireligiösen Gemeinden und Vereine sich darüber aussprechen mögen.


 

Grundsätze und Anschauungen

der freien religiösen Gemeinden

I.

Unser Religionsbegriff

1.      Die freien religiösen Gemeinden suchen die
wahre Religion in der frommen Ehrfurcht, welche die erhabene Weltordnung dem Menschen
einflößt, in der Verpflichtung des Menschen, sein Dasein zur Würde seiner natürlichen Stellung zu erheben, der Natur  und Sittlichkeit gemäß zu
leben und mit allen Kräften für das Wohl der
Gesamtheit zu wirken.

Sie begründen ihre Religion nur auf die Natur, führen sie nicht über die Grenzen menschlichen Begriffsvermögens hinaus und erkennen die
Vernunft als einzig berechtigt an, das Gemüt auf die richtigen Wege zu leiten. 

Sie verwerfen daher den Glauben an Dogmen, an göttliche heilige Menschen, an Wunder und überhaupt an künstliche Religionssysteme und an die Wirksamkeit geheimnisvoller Mittel;
ebenso die Berechtigung der Kirchen, Überirdisches in ihre Religionssysteme hineinzuziehen.

II.

Gottheit und Welt

2.      Die freireligiösen Gemeinden berücksichtigen die wunderbare Einheit in der ganzen Natur, die sich im Größten wie im Kleinsten der geschaffenen Dinge zeigt, das großartige Gesetzmäßige aller Erscheinungen im Leben der bewussten und
unbewussten Geschöpfe, und sehen hierin
etwas für menschliche Begriffe Unergründliches, Unbegreifliches; sie nennen das "das Göttliche in der Natur!"  

Sie erkennen demnach keinen persönlichen Gott an, der an einem einzigen Orte, Himmel oder ähnlich genannt, seinen Wohnsitz habe, der von menschlichen Leidenschaften bewegt werden könne und menschliche Eigenschaften besitze.

3.      Sie wissen, dass das Leben in der Natur im
ewigen Wechsel besteht, dass es sich unveränderlichen ewigen Gesetzen fügt. Sie wissen, dass alles Seiende einen Anfang, ein Bestehen und ein Ende hat, dem es nicht entgehen kann.

Sie begreifen und erkennen, dass jede Ursache eine unausbleibliche Wirkung hat, die unweigerlich eintritt. Sie wissen daher, dass ein natur-gemäßes Leben von selbst glücklich ist, und dass andererseits jedes Fehlen gegen die natürlichen Gesetze sich selbst durch seine natürlichen
Folgen irgendwie bestraft.

Sie verwerfen daher entschieden den Glauben an die Gnade Gottes, welche durch Gebete, Sakramente, Bußübungen usw. erlangt werden könne und in gleicher Weise den Glauben an
eine Erlösung, an die Wirksamkeit "überschüs-siger guter Werke" anderer usw. sowie auch den Glauben an Teufel und Zauber.

4.      Sie wissen, dass die Erde gegenüber dem
unendlichen All nur ein verschwindend kleiner Punkt ist, ebenso entstanden wie alle anderen Weltkörper und dass die Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass auf anderen ebenfalls
bewusste menschenähnliche Geschöpfe leben.

Sie verwerfen daher die Annahme, dass sie Erde eine besondere Berücksichtigung eines höchsten Wesens erfahren und durch besondere Gaben geehrt werden könne.

5.      Sie wissen, dass in der Natur alles vorhanden ist, wodurch die Geschöpfe der Erde, insbesondere die Menschen, wenn sie von ihren natürlichen Anlagen den richtigen Gebrauch machen, sich ein glückliches Leben bereiten können, und
streben dahin, die Möglichkeit eines solchen glücklichen, mit den Naturgesetzen übereinstimmenden Lebens auf der Erde, das auf wahre
Bildung und gegenseitige Duldung gerichtet  sein muss, näher zu rücken, meinen auch, dass es Sache der Menschen sei, sich der von der Natur gebotenen Gaben in mäßigem Genusse zu
erfreuen. Ebenso glauben sie, es sei sogar Pflicht des Menschen, besonnen für sein eigenes Wohlbefinden zu sorgen, wenn dies nicht etwa für seine Mitmenschen zum Schaden gereichen sollte, weil er nur dann etwas Tüchtiges leisten kann, wenn sein Körper, seine Verhältnisse und sein Geisteszustand keine Hindernisse in den Weg legen.

Sie verwerfen daher die Klagen, dass die Erde ein Jammertal sei, dass man das wahre Glück erst im Jenseits finden könne und deshalb hier entsagen müsse, um im Himmel die ewige Seligkeit zu erlangen. 

III.

Der Mensch und seine Aufgaben

6.      Die freireligiösen Gemeinden wissen, dass der Mensch ein Naturwesen und von den Natur-wesen abhängig ist und seine Abstammung den
allgemeinen natürlichen Entwicklungsstufen
zuzuschreiben hat.

Daher können sie nicht bestätigen, dass der Mensch als besonderes Wesen von Gott, ihm zum Bilde, erschaffen sei; schufen doch die
Menschen den Gott vielmehr nach ihrem Bilde. Ebenso sind sie nicht Imstande, die Unsterblichkeit des Individuums als gewiss zu betrachten.

7.      Sie wissen, dass der Mensch als seine Eigentümlichkeit zwei ewig miteinander streitende Prinzipien in seinem Innern birgt: Die Ergebnisse seiner tierischen Natur, nämlich natürliche
Triebe und Leidenschaften: Und die Gedankenwelt, das ausgebildete Selbstbewusstsein, die Vernunft. Da nun den Erfahrungen gemäß der Mensch nur dann glücklich ist und glücklich macht, wenn er seine Vernunft vorwalten lässt, so ist es das Bestreben der freireligiösen
Gemeinden, das Wirken der Vernunft zu befördern durch Belehrung, möglichst durchgehende Bildung und Stärkung des edlen festen Willens.

Sie verwerfen daher die Annahme, der Mensch sei ursprünglich gut erschaffen und nur vom Teufel verdorben, die Theorie der Erbsünde (in geistiger Beziehung), den Grundsatz "Selig sind, die da geistig arm sind!"

8.      Daher ist der Grundsatz der freireligiösen
Gemeinden, den Kindern eine möglichst allseitige Belehrung zukommen zu lassen, welche sie
befähigt, einst brave, denkende, willensstarke Menschen zu werden, die ohne hemmende
Vorurteile daran zu arbeiten verstehen, die Menschheit dem Ziele der Veredelung des naturgemäßen Lebens entgegen zu führen.

Sie verwerfen daher das Erziehen der Kinder, die ja noch nicht unterscheiden und selbst zu wählen verstehen, in einseitigen Religionsanschauungen und erklären daher konfessionelle Schulen für unstatthaft.

9.      Die freireligiösen Gemeinden wissen, dass zur Erhaltung der menschlichen Gesellschaft der Einzelne gehalten ist, sich den Gesetzen und
Sittenanschauungen der Gesamtheit nach Möglichkeit zu fügen; sie halten es für menschen-würdig, dass der Einzelne freudig seiner Pflicht  gegen die Gesamtheit nachkommt und sich selbst über dem gemeinen Besten vergisst; 
insbesondere aber auch den Pflichten nachkommt, welche ihm sein Beruf auferlegt, da er stets im Auge behalten muss, dass der Teil gediegen sein muss, wenn das Ganze gut sein will.

Sie verwerfen daher alle Auflehnung im selbstsüchtigen oder sonst privatem Interesse gegen Gesetze, die von der Volksvertretung gebilligt sind; sie erklären Diebe, Räuber, Mörder, Verräter usw. für nicht wert, der menschlichen Gesellschaft anzugehören; sie erklären Trägheit,
Untreue im Beruf und das alleinige Sorgen für den eigenen Nutzen für verwerflich.

10.  Sie erkennen die höchste Würde des Menschen in der Achtung der Sittlichkeit, in einem sittlichen, achtungswerten, reinen Leben.

Sie verachten daher Unzucht, Völlerei, Treulosigkeit und alle Laster ; sie erklären es für sittenlos, wenn es gestattet wird, sich der Öffentlichkeit und der angenommenen Gottheit gegenüber von dergleichen durch Kirchenbuße und Geldzahlungen zu reinigen, sondern erachten vielmehr nur wirkliche, aufrichtige Reue und tatsächliche Besserung für ehrenwerte Buße.

11.  Sie verlangen, dass dem Weibe die ihm gebührende Stellung in der menschlichen Gesellschaft an der Seite ihres Mannes als seine Gefährtin eingeräumt wird. Sie wissen, dass dem Weibe diese Stellung erst dann eingeräumt werden kann, wenn es durch wahre Bildung imstande ist, sie zu behaupten, damit es eine würdige Erzie-herin seiner Kinder werden könne.  Zugleich verlangen sie, dass dem talentvollen Weibe die Möglichkeit offen steht, einen ihren Anlagen entsprechenden Beruf zu ergreifen.

Sie verwerfen daher die gesellschaftliche, d. h. staatliche Unselbstständigkeit der gebildeten Frau.

12.  Sie erklären das Zusammenleben und Zusammenwirken von Mann und Weib, die gegenseitige körperliche wie geistige Ergänzung beider, die Ehe, für  ein natürliches Erfordernis, halten aber  die Monogamie vom gesellschaftlichen wie
sittlichen Standpunkt aus für einzig berechtigt.

Sie erklären, dass die Familie die erste, ehrenwürdigste und heiligste menschliche Verbindung ist und halten daher die Ehe für ehrwürdig, unverletzlich und den Ehebruch für verächtlich.

Da aber die Ehe nur eine gesellschaftliche
Einrichtung ist, so erklären sie nur den Staat für berechtigt, die Eheerklärung von Brautleuten
entgegenzunehmen und zu bestätigen.

Sie verwerfen daher die freie Ehe und die
Polygamie und verneinen die Berechtigung einer rein kirchlichen Trauung.

13.  Sie erachten es für die Aufgabe des Menschen, unausgesetzt wahr zu sein und nach der Wahrheit zu streben, sowie mit seinen Mitmenschen in Liebe und Schonung zu verkehren.

Sie verwerfen daher die Lüge, den Hass, die Grausamkeit und die Unduldsamkeit.

14.  Sie halten es für erforderlich, dass durch Reden und Schriften die Wahrheit verbreitet werde und sich für verpflichtet, der Wahrheit und den auf sie gestützten, in Obigem dargelegten Grundsätzen gemäß zu leben und wacker zu streben und da, wo sie zu Berichtigungen Anlass finden sollten, dieselben nach der besseren Erkenntnis vorzunehmen.

Sie verwerfen daher jedes für immer abgeschlossene Lehrgebäude.

 

 

 

 

 

 


 

Ein neuer Versuch

zur Aufstellung eines Glaubens-Bekenntnisses

für die freireligiösen Gemeinden

Besprochen von W. Hieronymi [4]

Jawohl, es wäre recht schön, wenn wir denen, welche nach unserem Glauben fragen, ein Schriftstück, einen halben Bogen bedrucktes Papier in die Hand geben und sagen könnten: Siehe, hier ist das Credo, das Glaubensbekenntnis der freireligiösen Gemeinden, aber es geht nun einmal nicht.

Die unendliche Offenbarung der Natur, des Weltalls, welche die Grundlage unseres Glaubens und Denkens ist, lässt sich nicht wie die geschriebene Offenbarung, welche die Grundlage des alten Kirchentums ist, in ein Buch einbinden oder in ein Glaubens-
bekenntnis zusammenziehen. Die neuzeitliche Weltanschauung ist zu freiheitsliebend, als dass sie sich nach Art der alten Kirche  in die Fesseln, in das Unheil der Glaubensbekenntnisse fügen könnte. Daher hat denn auch keine der heutigen freien Religionsrich-tungen ein Glaubensbekenntnis zustande gebracht, auch die unsrige nicht, und alle Versuche der Art sind bis auf den letzten auf der Bundesversammlung zu Gotha gescheitert.  

Das beachtet Herr M. Großmann, stud. med., in Greifswald nicht. Er stellt im Auftrag der Greifswalder Gemeinde frischen Mutes ein solches Bekenntnis-formular auf, veröffentlicht es in dem Uhlich´schen Sonntagsblatt mit einem Aufruf an die freireligiösen
Gemeinden Deutschlands und hofft von der Verein-barung der Gemeinden auf Grundlage dieses Schriftstückes große Erfolge für die Einigung und Kräftigung der Gemeinden und darauf dann den Übertritt und den Anschluss aller Gebildeten Deutschlands an die freireligiöse Religionsgesellschaft. Er wünscht, dass sein Schriftstück allgemein bekannt, besprochen und beurteilt werde. Diesem Wunsch will ich in etwas nachkommen, doch bei mangelnder Zeit in möglichster Kürze.

 Das warme Gefühl des  jungen Mannes und sein
jugendlicher Eifer für unsere Sache ist hoch zu schätzen, anzuerkennen ist auch im Ganzen die Richtigkeit seiner religionsphilosophischen Anschauungen, aber, wie auch schon Reichenbach[5] in einem Nachwort
dazu sagt, minder zu billigen ist die naive Art, in
welcher der Verfasser auftritt, als sei in dieser Sache noch nicht das Geringste weiter geschehen, in welcher er alles seit dreißig Jahren unter uns Verhandelte und Geschriebene ignoriert.

Betrachten wir zunächst den Aufruf, in welchem der Verfasser sein Vorgehen motiviert. Derselbe wird
getragen von dem Gedanken, dass ein gemeinschaftliches Bekenntnis die Einheit und die Kraft unserer Religionsgemeinschaft wesentlich erhöhen und die Außenstehende uns zuführen werde.

Das ist der Grundgedanke auch der altkirchlichen Glaubensbekenntnisse, sie wollten Einheit und Reinheit der Lehre, Frieden in der Gemeinschaft.

Eine vielhundertjährige Erfahrung sagt uns aber, dass alle Glaubensbekenntnisse ohne Ausnahme statt der Einheit, des Friedens in der Gemeinschaft gerade Zwietracht, Abfall und Parteien bewirkt haben, dass der Friede nur in der Freiheit wohnt. 

Nein, wenn wir denn unter den gegebenen Verhältnissen eine größere Einheit des Lehrausdrucks unter uns erzielen wollen, so ist es nicht zulässig, dass jeder Einzelne oder jede Gemeinde, die sich dazu befähigt hält, als Reformatorin des Ganzen auftrete, dass einer unter uns dem Anderen sein persönliches Glaubensbekenntnis antrage, um das des Anderen zu korrigieren.

Bei dem tatsächlichen Zustande unserer Gemeinschaft, wie er besonders durch das Greifswalder
Vorgehen gekennzeichnet wird, ist ein festgestellter gemeinschaftlicher Glaubensausdruck gar nicht möglich. Denn wo jeder in jedem Augenblicke sich das Recht nimmt, ein gemeinsames Glaubensbekenntnis zu entwerfen, da muss auch jeder das Recht behalten, ein aufgestelltes und bestehendes in jedem
Augenblick zu verwerfen.

Jetzt sind unsere Sprecher und Prediger aus
verschiedenen Lebensverhältnissen verschiedenem Bildungsgang hervorgegangen, soll dies anders
werden, ohne die Freiheit zu zerstören, so ist es nur möglich durch Errichtung einer freireligiösen Universität, wo die künftigen Redner gemeinsam unterrichtet werden.

Übrigens ist solche Einheit und Übereinstimmung im Glaubensausdruck auch gar nicht nötig, andere moralische Mächte sind es, die unseren Bund zusammenhalten müssen, nicht Papiere und Dokumente.  Auch sind wir bei aller Freiheit doch in größerer Übereinstimmung, als es nach manchen Vorgängen den
Anschein hat.  Das gemeinsame Wesen aller unserer Anschauungen und Bestrebungen ist: Humanität.

Dieses Wort kann in der Tat die allerkürzeste Antwort für die nach unserem Glaubensbekenntnis Fragenden sein. Wer aber die Bedeutung dieses Wortes nicht kennt, der muss noch in die Schule gehen und
Geschichte erlernen, und wer, wie der Verfasser
einmal sagt, noch nicht weiß, dass die freireligiösen Gemeinden "ein neues Gebäude, das der Natur-
religion, aufbauen wollen", der wird es auch sobald noch nicht erfahren oder begreifen.

Jetzt gerade, meint der Verfasser, wo die Regie-rungen das Recht der Religionsgemeinschaften
wieder hergestellt und das religiöse Bekenntnis
freigegeben haben, jetzt sei die Zeit, mit unserem
 Bekenntnis hervorzutreten.

Ich bemerke dazu: Diese Freiheit des religiösen Bekenntnisses haben sich die freireligiösen Gemeinden schon vor 30 Jahren genommen und behalten, darum sind sie eben freie Gemeinden. Und wer die Freiheit liebt, hatte schon seit 30 Jahren Gelegenheit, dieselbe bei und zu erlangen; wer aber zu denen gehört, von welchen der Verfasser sagt, dass sie aus Rücksicht oder aus Scheu unterlassen haben, uns beizutreten, der wird schwerlich durch ein neues, von uns neu
verfasstes Schriftstück oder einen Aufruf von seiner bisherigen Scheu frei werden. Sollte ein solcher Aufruf mehr bewirken können als unser bisheriges öffent-liches Dasein, als all unser Reden und Schreiben
gewirkt hat, so müsste er in der Tat Wunderkräfte
besitzen, oder auch er müsste unterschrieben sein von -- Bismarck oder Kaiser Wilhelm; weil es nun einmal, wie der Verfasser selbst sagt,  ein Grundzug menschlicher Schwäche ist, vornehmlich in religiösen Dingen auf die Stimme der Autorität mehr zu hören, als auf eigene Überzeugungs-Wahrheit. Wenn aber, meint der Verfasser, der bisherige zerfahrene Zustand unter uns fortdauert, wenn wir keine "einheitliche Idee" gewinnen und ihr einen "klaren abgegrenzten
Ausdruck geben", "wenn jede Gemeinde sich nur um sich selbst bekümmert", dann -- nun dann, meine ich, machen es die Gemeinden wie unser Herr Verfasser, der sich, wie es scheint, um unsere ganze Vergangen-heit nicht gekümmert hat, sonst würde er nach
30-jähriger Arbeit uns nicht zurufen: "Es müsste doch ein Anfang gemacht werden".     

Wenn es übrigens richtig ist, dass es unter uns
Gemeinden gibt, welche sich um die anderen nicht gekümmert haben, so ist dies ihre eigene Schuld, die meisten Gemeinden haben sich um die anderen mehr gekümmert als not war, indem sie von den anderen verlangten, dass diese anderen es geradeso machen sollten, wie sie es machen.     

Auch hat es unseren Gemeinden an Zusammenhang nicht gefehlt, sie haben alljährliche Provinzialsynoden, dreijährige Bundesversammlungen und einen
geschäftsführenden Bundesvorstand, und damit des Zusammenhangs für freie Gemeinden gerade genug.

Wer aber auf diesen Versammlungen nicht dage-wesen ist, nun, der hat auch nichts daraus lernen
können. Wer aber dagewesen ist, der muss gelernt haben, dass das neuerdings sich wieder erhebende Gerede, diese Versammlungen hätte nichts geleistet, grundlos ist. Diese Versammlungen haben allerdings das Wunder nicht fertig gebracht, unsere Gemeinschaft durch ein Stück Papier, beschrieben mit einem Glaubensbekenntnis, einheitlicher zu organisieren oder zu kräftigen, aber diese Versammlungen haben besseres geleistet, sie haben uns durch moralische Mächte geeinigt, durch den Geist der Brüderlichkeit und Gemeinsamkeit, und dieser Geist war stark
genug, auch aus den heftigsten Disputationen und Gegensätzen unverletzt hervor zu gehen, was
namentlich bei religiösen Versammlungen keine Kleinigkeit ist. 

Wenn aber der Verfasser meint, auf diesen Versammlungen sollten wichtigere Dinge verhandelt werden, als Reden zu halten, so bin ich unlängst der Meinung gewesen, es sollten mehr Reden gehalten, aber weniger gesprochen, d.h. weniger disputiert werden, am wenigsten über ein unmögliches Glaubensbekenntnis.

Weiter meint der Verfasser, dadurch, dass unsere Grundsätze nicht präzisiert und genau festgestellt
waren, sei der ganzen Anzahl der Gemeinden ein zu weiter Spielraum für die religiösen Anschauungen
gelassen, so dass es allerlei Anschauungsweisen bei uns gäbe, und man einem Frager gar nicht Antwort geben könne, was bei uns Lehre sei. Dieser Spielraum muss also verengt werden. Und nun schlägt der Verfasser allen Ernstes wieder das alte Spiel vor,
welche die christliche Kirche seit mehr denn tausend Jahren getrieben hat. Er meint: "Solche Gemeinden, die sich dem für unsere Anschauungen gefundenen Ausdruck nicht anschließen, verlieren überhaupt das Recht, freie Gemeinden zu sein, d.h. -- sie sind
exkommuniziert, und
extra ecclesiam nulla
saulus
( außerhalb der Kirche kein Heil).

Gemeinden, welche ihre Freiheit gar zu sehr  wahren, verlieren also dadurch das Recht, freie Gemeinden zu sein. "Sind wir erst einiger", heißt es dann, "so werden sie (die Ausgeschiedenen) durch den Zutritt neuer schon ersetzt werden", aber wenn sie nun nicht ausscheiden wollen? so werden sie ausgeschieden, d.h. es gibt einen Skandal.

Ja, "sind wir erst einiger", und haben wir erst unter Hader und Streit auf unseren Bundesversammlungen die widerhaarigen [im Sinne von widerborstig]
Gemeinden von uns ausgeschieden, dann beginnt die Uneinigkeit in diesem verkleinerten Kreise, und wir scheiden wieder einige Gemeinden aus, bis "wir"
zuletzt allein noch da, also vollkommen mit uns einig sind.

Aber die gewünschte Einigkeit des Ganzen wird sich darstellen in den verschiedenen voneinander geschie-denen freireligiösen Sekten und Parteien. Nein, auf diesem Wege des Ausscheidens der Widerstrebenden wird der Verfasser das Einig-Werden schwerlich erleben und sollte er so alt werden wie Methusalem. Wie denn die christliche Kirche mit allen ihren Glaubensbekenntnissen seit zwei Jahrtausenden immer einiger geworden ist in der Uneinigkeit. 

Aber so wie es ist, kann es doch nicht bleiben, meint der Verfasser, sonst könnte das Wort eines modernen Konversationslexikons, betreffend die freien Gemeinden, zur Wahrheit werden: "Sie fristen ein kümmer-liches Dasein".

Nun, dieses Wort ist schon zur Wahrheit geworden für jeden, der von den freien Gemeinden nichts weiter weiß als ein Konversationslexikon, d.h. für jeden, der nur auf das äußerliche Dasein der Gemeinden sieht, auf Geld und Gut, Pfarrerstellen usw. Dieses Wort würde auch uns eine Wahrheit erscheinen, wenn wir nicht wüssten, dass die freien Gemeinden noch etwas mehr wollen, als sich selbst, dass sie mehr wollen, als eine neue vernunft- und naturgläubige Konfession in die Welt setzen. Ich habe schon oft gesagt, die freien Gemeinden sind nicht Zweck, sie sind nur Mittel für höhere Zwecke.

Und dieser Zweck ist der: In Gemeinschaft mit allen unseren denkenden Zeitgenossen zu arbeiten an dem Tempel des Lichtes der Neuzeit, mitzukämpfen den Kampf für die unverlierbaren Rechte der Vernunft und gegen eine volksverdummende und verderbende Priesterzunft. Und trotz unseres kümmerlichen
Daseins, diesen Zweck haben wir erreicht. Und sollten wir verkümmern und verhungern, so haben wir getan, was unsere Aufgabe war, Beteiligung, und zwar in vorderster Reihe, an jener Beschäftigung, die niemals ruht, "die zu dem Bau der Ewigkeiten zwar Sandkorn nur um Sandkorn reicht, doch von der großen Schuld der Zeiten Minuten, Tage, Jahre streicht.

Ja, wir haben unsere Zwecke erreicht, haben in 30 Jahren mehr erreicht, als je eine Religionspartei der Vorzeit in gleicher Zeit für ihren Zweck erreicht hat. Wir sehen, wie die Regierungen, die uns früher so feindselig gegenübertraten, wie sie jetzt selbst tun müssen, was  wir schon vor dreißig wollten. Wir haben einen Beistand gewonnen, der uns mehr hilft als der Beistand des Heiligen Geistes den früheren Konzilien half, unser Helfer ist der ganze "Kulturkampf" der Neuzeit. Dieser Kampf ist unser Kampf, wir haben ihn als Vorposten in heißem Zusammentreffen mit den Kultur- und Lichtfeinden begonnen und sehen nun, wie die große Armee uns nachrückt, uns hilft, auch wenn sie nicht unsere Uniform angezogen hat.

 Alle Kulturkämpfer, welche auf der Seite des Lichtes stehen, sind unsere Proselyten, unsere Bekehrten. Unsere Helfer sind -- Bismarck und der Kaiser
Wilhelm. Sie sind die unsrigen, auch wenn sie nicht in unsere Gemeindelisten eingeschrieben sind. Sie sind die unsrigen, gerade weil wir kein apartes, nur unseren Gemeinden angehörendes "präzisiertes" Glaubensbekenntnis haben, weil wir nichts anderes wollen, glauben und lehren, als was alle Millionen unserer denkenden und unterrichteten Zeitgenossen auch
ungefähr wie wir glauben und lehren. Wenn sie nun aber noch nicht alle die Freiheit in dem Maße wollen, wie wir sie besitzen, nun so können wir warten, bis auch für sie das Maß voll wird. Für jetzt mag es uns genug sein zu sehen, dass die Millionen uns nachkommen, wenn auch langsam, wie es die Natur der Massen ist, genug sein zu hoffen, dass sie einst da sein werden, wo wir jetzt schon sind. Ja, "wir fristen ein kümmerliches Dasein", aber "der Papst lebt herrlich in der Welt", und dennoch: "Ich möchte doch der Papst nicht sein". "Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden", sagt Christus. 

Trösten möchten wir unseren jungen Freund in Greifswald besonders in einer besonderen Besorgnis, die er äußert. Er meint nämlich, bei dem gegenwär-tigen Zustande, wo unsere Anschauungen nicht präzisiert und niedergeschrieben sind, wo sie, wie in
urchristlicher Zeit, mehr auf Tradition und mündlicher  Überlieferung ruhen, in diesem Zustande liege uns die Sorge nahe, "unsere Gemeinden könnten dabei verloren gehen".

Diese Sorge quält mich nicht, ich glaube, dass in der Menschheitsgeschichte noch nie eine "Grundidee" verloren gegangen ist; und glaube, dass wir unsere Grundideen, vornehmlich deswegen nicht verlieren können, weil wir keine aparte, nur uns gehörige Grundidee haben. Unsere Ideen können der Menschheit ebenso wenig verloren gehen, wie die menschliche Vernunft. Unsere Ideen sind so sehr allen klar gewordenen Menschen gemeinsam, dass man sie - wie der Verfasser beweist - selbst in medizinischen Studien finden kann. Und niedergeschrieben sind diese Ideen schon genügend.

Den Anfang des Niederschreibens hat z.B. schon vor mehr als dreitausend Jahren der alte chinesische Philosoph Laotse gemacht, der auch noch nicht zu den freien Gemeinden gehörte und doch beinahe ihr Glaubensbekenntnis niedergeschrieben hat, ein Buch, welches nahezu noch heute brauchbar ist .[6]

Weiter geschrieben haben dann z.B. Sokrates, Plato, Seneca, Jesus Christus und alle Anhänger der
großen freien Gemeinde, welche, neben der Priesterlehre und ihren Gaukeleien, bei allen Völkern schon bestanden hat vom Aufgang bis zum Niedergang.
Darum ist unsere Lehre die wahrhaft "positive", feststehend, mehr denn alle Kirchen- und Priesterlehren, welche ihre Position auf alten Pergamenten und Schriftstücken suchen. Und nun gar in unserer Zeit, wo so viel geschrieben und gedruckt wird, dass nicht einmal die mündliche Tradition des Stadtklatsches davor sicher ist, gedruckt zu werden; wie sollte da nur irgend eine Grundidee, selbst wenn sie grundfalsch ist, verloren gehen können? Was uns aber leider schon etwas verloren gegangen ist, das ist das, was nicht niedergeschrieben und gedruckt werden kann, das warme Gefühl und die Begeisterung für unsere Sache. Und gerade weil unser junger Freund in Greifswald diese letztere Tradition aufrecht zu erhalten und durch sein Beispiel wieder zu beleben sucht, darum verdient er unsere Anerkennung und Achtung und darum auch mein Eingehen auf seine Schriftstücke.

Was nun aber den Vorschlag des Herrn Großmann betrifft, dass wir die durch Synoden und Versamm-lungen nicht genugsam gewahrte Verbindung unter unseren Gemeinden durch einen "regen Briefwechsel"
unter uns verstärken möchten, so wird dieser
Vorschlag, wohl zum alleinigen Nachteil der Post,  unter die Rubrik frommer Wünsche fallen, und unter die verlorengehenden Ideen zu zählen sein.

Übrigens besteht ja ein solcher Briefwechsel fast im Übermaß unter uns in allen den gedruckten Blättern unserer Gemeinden, die uns allwöchentlich zugehen. Und warum sollten wir uns denn für unseren Briefwechsel der großen Erfindung Gutenbergs entäußern? liest sich doch Gedrucktes besser als
Geschriebenes, und muss es uns doch lieber sein, wenn unsere Briefe zugleich von Hunderten oder Tausenden gelesen werden , als nur von einem. 

Werfen wir nun einen Blick auf das von Herrn Großmann entworfene Bekenntnis-Formular, so finden wir darin einen recht guten Aufsatz, der auch im Großen und Ganzen die unter uns vorherrschenden Grundideen, d. h. die moderne religiöse Weltanschauung darstellt; allein zu einem Bekenntnisschema eignet sich dieser Aufsatz dennoch nicht, dazu ist er schon zu wortreich, er ist eben nur eine von den tausendfach möglichen Darstellungsweisen unserer Gedanken.

Ein solches Bekenntnis-Formular muss absehen von allen Phrasen und rhetorischem Schwung, wie etwa ein Andachtsbuch. Es muss die Grundbegriffe nackt und dürr aussprechen, gleichsam als Knochengerüst für den weiteren Bau unsrer Lehre. Und ich schreibe dieser Großmann´schen Darstellung nicht einen so hohen Wert zu, dass wir anderen alle unsere Ausdrucksweise gegen die hier gegebene vertauschen sollten.

Auch ich habe schon vor mehreren Jahren, von außen dazu aufgefordert, einen ähnlichen Versuch gemacht und zu gleichem Zwecke, wie hier Herr Großmann: "Grundgedanken und Unterscheidungslehren der freireligiösen Gemeinden, ein Verständigungsversuch von W. Hieronymi".[7]

In dieser Schrift werden unsere Grundgedanken und unsere Unterscheidung von den Offenbarungslehren nach meiner Auffassung und mit aller mir möglichen Klarheit und Bestimmtheit dargestellt. Die einzelnen Positionen, unser ganzes Lehrgebet umfassend, werden darin mit möglichster Präzision ausgesprochen, und die Motivierung der Gedanken wird, gesondert von dem kurzen Ausdruck des Gedankens selbst, ausgeführt. Diese Schrift hat in weiteren Kreisen unter uns Zustimmung, nirgends einen prinzipiellen Widerspruch gefunden, allein ich habe mich dennoch wohl gehütet, unsere Bundesversammlung darum anzugehen, dass sie meine Darstellung durch ihre Autorität sanktionieren und dieselbe gleichsam approbieren solle.

Ich habe nach dem vorhandenen Vorrat jedem anwesenden Mitglied der Bundesversammlung ein Exem-plar ausgehändigt und dabei keine andere Autorität und Kraft für meine Gedanken beansprucht, als die in den Gedanken selbst notwendig sich kundgebende Wahrheit. Lest, und findet ihr in dem Gelesenem ein
Bekenntnis Eurer eigenen Gedanken, so ist mir es lieb, wo nicht, auch gut, zur Liebe kann ich Euch nicht zwingen, wer es besser weiß, mag´s besser machen.

Ja, das Schriftchen hat Anerkennung gefunden und ist bereits -- totgeschwiegen, so sehr, dass auch Herr Großmann diesen Vorgänger seines Elaborats nicht zu kennen scheint. Und ich kann nicht umhin, Herrn Großmann zu sagen, dass sein Werk im günstigsten Fall das gleiche Schicksal wie das meine haben wird.  Tut mir zwar leid, auf eine warme, jugendliche Begeisterung diese kalten Tropfen der Wirklichkeit gießen zu müssen, allein besser vorher als nachher.

Im Einzelnen habe ich auch an dem Bekenntnis-Schema der Herrn Großmann mancherlei auszusetzen.

So sagt er z.B. ganz richtig: Wir verwerfen den Glauben an Dogmen, Wunder, heilige Menschen usw. Diese Verwerfung ist aber schon vor 30 Jahren [1845] so gründlich unter uns geschehen, dass diese Heiligen mit ihren Wundern wohl niemals unter uns wieder auferstehen werden.

Wenn aber Herr Großmann "alle künstlichen Religionssysteme" verwirft, so muss er konsequent auch alles künstliche Niederschreiben der Religions-systeme verwerfen. Denn verderblich sind diese ihrer Zeit angemessenen Religionssysteme nur dadurch geworden, dass sie fixiert, "präzisiert", in künstliche Formeln gebracht, niedergeschrieben wurden.

Wenn aber Herr Großmann weiter sagt: Wir verwerfen "die Berechtigung der Kirchen, Überirdisches in ihre Religionssysteme hineinzuziehen", so geht er damit weiter, als sein Recht geht. Wir haben kein Recht, anderen Religionen das Recht abzusprechen, alles, was sie wollen, in ihre Religionssysteme hineinzuziehen. "Die Kirchen" haben nicht nur das Recht, den Papst als unfehlbar zu glauben, sie dürfen ihn auch mit Nächstem für allwissend, allmächtig, ja wegen seines liebevollen Fluchens sogar für allgütig erklären. Wir haben nur das Recht, uns gegen diese herrlichen Grundideen für uns zu wehren. Auch haben die
Kirchen diese Dinge nicht in ihr Religionssystem "hineingezogen", sondern diese sind ihr Religionssystem, sie beruhen auf einer übernatürlichen Gottesoffenbarung, auf zauberhaften Sakramenten, und wenn wir ihnen das Recht dazu absprechen, so sprechen wir ihnen das Daseinsrecht ab. In der irdischen Weltordnung hat aber auch die Unwissenheit, der Aberglaube und die Dummheit ihr Daseinsrecht, und die Welt hat dieses Recht auch seit Jahrtausenden bis heute reichlich ausgeübt. Doch vielleicht liegt der Fehler, den wir hier bei ihm tadeln, nur in der Ausdrucksweise des Herrn Großmann.

Mit Recht verwirft Herr Großmann "die Theorie der Erbsünde", allein ich glaube, die ist schon - verworfen genug. Da wir von den Gütern der alten Kirche nichts geerbt haben, so ist es uns auch gestattet, die Erbschaft der Erbsünde auszuschlagen. Wenn aber der Herr Verfasser mit der Erbsünde auch den Grundsatz oder vielmehr das Wort Jesu verwirft: "Selig sind, die da geistig arm sind", so möchten wir ihm darin nicht in jeder Beziehung beistimmen, denn dieses Wort ist den alten Pharisäern und Schriftgelehrten sowie noch heute vielen hochgelehrten Professoren der Theologie gegenüber ein trefflich präzisierter Ausdruck. 

"Selig sind, die da geistig arm sind", dieses Wort kommt uns jedes Mal in den Sinn, so oft wir einen
Folianten voll dogmatisch-theologischer Gelehrsamkeit aus alter oder neuer Zeit erblicken. Selig sind, welche dieses Buch nicht zu lesen und diesen Geistesreichtum nicht zu erben brauchen. Überhaupt betrachte ich die Rede des Jesus von Nazareth, aus welcher jenes Wort entlehnt ist, die Bergpredigt
genannt, als eine alte empfehlenswerte Niederschrift unserer sittlichen Grundideen. (Math. 5.)

Unter den Dingen, die mit Recht von den freireligiösen Gemeinden verworfen werden, nennt der Verfasser Unzucht, Völlerei, Treulosigkeit; er erklärt Diebe, Mörder, Räuber, Verräter für nicht wert, der menschlichen Gesellschaft anzugehören. Das kann natürlich von keinem anständigen Menschen, also auch nicht von uns, widersprochen werden; aber quousque
tandem
[8], wohin soll es führen, wenn wir alle Untugenden und Laster, die wir verwerfen, in unserem Glaubensbekenntnis namhaft machen wollen? "wer zählt die Namen von allen, die da kamen?" Diese Verwerfung hat ja schon Moses übernommen, und er spricht präzis, kurz mit Lapidarschrift, welche die Jahrhunderte durchdrungen hat: "Du sollst nicht stehlen, töten, ehebrechen, kein falsches Zeugnis reden". Die Leute des Moses wussten das noch nicht, dass wir es aber wissen, ist so selbstverständlich, dass sich die nach unserem Glauben Fragenden  billig wundern müssen, wenn wir ihnen, nur in anderen und längeren Worten den alten Moses wiederholen.

Dagegen hat Moses zu verwerfen vergessen: das Lichtlöschen, das Gedankenmorden und Seelenbetrügen, wie es getrieben worden ist von den Priestern aller Zeiten, von den Zauberpriestern der alten Heiden und Fetischanbetern der Indianer bis zu den Jesuiten und Anbetern des Heiligen Rockes.

Die Mörder und Diebe können wir der Polizei überlassen, aber mit der Klerisei [dem Klerus] haben wir abzurechnen. 

Im ersten Abschnitt unter 5 hatte der Verfasser schon erkannt, "dass es Sache der Menschen sei, sich der von der Natur gebotenen Gaben in mäßigem Genusse zu erfreuen, und Pflicht, für sein eigenes Wohlbefinden besonnen und ohne Schädigung der Mitmenschen zu sorgen", und nun kommt erst noch der
Abschnitt, in welchem dies gesagt sein sollte: "Der Mensch und seine Aufgaben"; eine kleine logische Nachlässigkeit, die aber in einem autoritärem Schriftstück nicht vorkommen darf.

Und statt der "Duldung" (unter 5) sollte es heißen: Gleichberechtigung. Man "duldet" einen Menschen neben sich, wenn man ihn nicht hinauswerfen kann, aber man räumt ihm sein Menschenrecht ein, wenn man ihn für gleichberechtigt erklärt.

Die bisherigen Konfessionen haben sich geduldet, weil sie mussten, [sie] hätten sich am  liebsten gegenseitig verschlungen; aber die Vernunft der Zeit und selbst die Polizei duldeten die alte Glaubenskeilerei nicht mehr. Also eine kleine Verfehlung im Ausdruck, indem der Verfasser wohl nichts anderes sagen will, als ich gesagt wünsche: Gleichberechtigung.

Also ein Glaubensbekenntnis für die freireligiösen Gemeinden, ich bin nicht dafür 1.), weil es zu spät und 2.), weil es unmöglich ist.

Ein Glaubensbekenntnis als solches, ein wirkliches Glaubensbekenntnis im Sinne der alten Kirche wollen wir nicht, weil wir durch Erfahrung belehrt worden sind, dass alle Glaubensbekenntnisse das, was sie verhindern wollten, Sekten, Parteien und Zwiespalt vermehrt, ja ganz eigentlich hervorgebracht haben. Aber, sagen alle die unter uns, welche den kühnen Versuch eines solchen gemacht haben: ein Glaubensbekenntnis im Sinne der Kirchen wollen wir auch nicht, unser Bekenntnis soll nicht unveränderlich, nicht bindend sein. Wohl, aber wenn es nicht in irgend
einem Sinne bindend, nicht in irgend einer Weise
autoritativ sein soll, wenn jeder, wie bisher völlig auf seinem persönlichen Lehrausdruck beharren kann, so ist Bekenntnis allerdings nicht so gefährlich, wie die alten, es ist nicht bindend, aber auch nichts bedeutend, es ist eine literarische Stilübung.     

Aber wenn dann kein Bekenntnis, dann könnten wir doch ein Programm unserer Grundideen aufstellen. Jawohl, wir konnten es im Anfang unserer Sache, als noch eine freiwillige Zustimmung aller Gemeinden zu einem gemeinsamen Lehrausdruck zu erwarten war; jetzt ist das nicht mehr zu erwarten, sondern Streit und Widerspruch von allen Seiten.

Ein solches Programm ist  einer neu auftretenden religiösen oder politischen Partei notwendig, vor der Welt vorläufig kurz zu sagen, was sie denn wolle. Wir
haben es versäumt, jetzt kommen sie nun von
verschiedenen Seiten, wollen das Versäumte nachholen, allein - zu spät, das Schicksalswort hat uns nach 30 Jahren längst ereilt. Damals konnte der bekannte Brief Ronges an Bischof Arnoldi die Welt aufregen, jetzt würde weder Huhn noch Hahn danach krähen. Ich glaube, wenn wir jetzt mit einem neuen Programm vor der Welt auftreten wollten, so würde die Welt beim Morgenkaffee mit den Zeitungen es lesen, vielleicht auch richtig finden und - zu den anderen freireligiösen Papieren, Broschüren und Büchern legen.

Ich glaube, ein solches Programm, und wenn der halbe Bogen von der Weisheit Salomons selbst vollgeschrieben wäre, es würde an dem tatsächlichen
Zustand unserer Gemeinden nicht ein Jota mehr
ändern können, würde uns nicht einen Proselyten zuführen, denn wer durch alle unsere bisherigen Reden, durch unsere bereits eine Bibliothek bildende Schriften, wer durch alles dieses und durch die Macht der Vernunft nicht zu uns geführt worden ist, der wird, der wird durch besagten nachgeborenen halben Bogen auch wohl nicht bezaubert werden. 

Und dennoch würde ich die Gefahr endloser Disputationen, wie sie sich bei der Beratung eines solchen Programmes auf unseren Bundesversammlungen erheben würden, nicht scheuen, wenn ein solches autoritatives von der Gesamtheit der Gemeinden
angenommenes Schriftstück nur in unserer Zeit noch möglich wäre.

Ein Glaubensbekenntnis als solches, sagte ich schon, wollen wir nicht, ja es ist unter uns nicht möglich, weil zu einem solchen nicht nur der Glaube, die Sätze und Buchstaben nötig sind, sondern auch Autorität. Eine Religionsgemeinschaft, welche keinen Papst, keine Priester, kein Konsistorium mit fürstlichen Dekreten und Siegeln, welche überhaupt kein irgendwie geartetes Kirchenregiment besitzt, eine solche Gemeinschaft ist außerstande ein Glaubensbekenntnis aufzustellen, denn zu einem solchen gehört eine Autorität, welche das Bekenntnis formuliert hat und über Bestand und Geltung desselben wacht. Eine solche Autorität haben wir nicht, also unterlassen wir es, das Spiel der alten Kirche mit Glaubensbekenntnissen nachzuahmen.

Aber doch ein Programm - Nein, auch ein solches ist einstweilen unter uns nicht möglich. Auch ein Programm, wenn es irgendeinen Wert haben soll, muss irgendein Ansehen, eine repräsentative Bedeutung haben, und eine solche ist bei freien Gemeinschaften nur herzustellen durch die Zustimmung aller Glieder. Eine solche freie Zustimmung zu einem und demselben Lehrausdruck ist aber unter obwaltenden Verhältnissen unter uns nicht herzustellen. Und das hat seine Grund nicht nur in uns, sondern in dem gesamten
religiösen und wissenschaftlichen Zustand unserer Zeit.

Unsere Gemeinschaft gründet sich nicht, wie die
Kirche auf eine übernatürliche göttliche Offenbarung, sondern auf die moderne Weltanschauung.

Die moderne Wissenschaft aber entwindet sich eben erst den Fesseln des alten verwesenden Kirchentums. Wir sind eingetreten in den Zeitraum der Gärung, des Übergangs in ein neues geistiges Weltzeitalter, wir leben im Kampf der schroffsten Gegensätze.

Diese Gegensätze des geistigen Lebens außer uns wirken natürlich auch auf unsere Gemeinden, und jede Gemeinde und in der Gemeinde jeder Einzelne hat das Recht, sich seine Stellung in der wissenschaftlichen Welt  nach seiner Überzeugung zu
suchen, dafür sind wir eben freireligiöse Gemeinden.

Wollten wir irgendeine dieser Richtungen unter uns ausschließen, so würden wir unsere Gemeinschaft zerreißen, unser eigenes Wesen unterdrücken. Das lassen wir lieber bleiben, selbst um den Preis eines zu spät geborenen freireligiösen Programms. In unseren Gemeinden bestehen gottgläubige Anschauungen neben materialistisch gefärbten, diese kann kein Gott in einem und demselben Ausdruck eines Programms vereinigen. Gewalt aber sollen und wollen wir nicht. Konnte schon vor hundert Jahren in Berlin ein Jeder nach seiner Fasson selig werden, so wird es doch in unseren freireligiösen Gemeinden auch noch möglich sein.

Die Religion ist für alle, ein religiöses Programm muss also der Art sein, dass es ein Arbeiter begreifen und ein Alexander von Humboldt ertragen kann. Es darf sich nicht nur hinter die Sittenlehre flüchten, die in allen Religionen beinahe übereinstimmt, es muss den dogmatischen Teil der Religion, den Gottesbegriff und seine modernen Stellvertreter vereinigen, es muss Geist, Stoff und Kraft, Idealismus und Materialismus, eine Weltvernunft und eine blind treibende mecha-nische Weltkraft in einer Lehrformel zusammenziehen.

Wer das machen kann, der mache es. Das sind
Begriffe, welche den alten gottgläubigen Bekenntnis-machern noch kein Kopfzerbrechen verursachten. Und mit diesen neuen, nicht mit den alten Begriffen von Erbsünde und Erlösung usw. haben wir abzurechnen. Poetische oder rhetorische Redensarten helfen nicht über die Schwierigkeiten hinweg.

Nach meiner Überzeugung ist die alt-neue materialistische Philosophie (nicht die Naturwissenschaft, unter deren Firma sie auftritt) der vollendete Gegensatz
gegen alles, was man bisher Religion genannt hat, allein gerade deswegen fühlen sich alle Geister,
welche auf der Flucht aus dem Diensthause der
Kirche begriffen sind, zu dieser Weisheit hingetrieben; selbst Dr. David Strauß, um einmal gänzlich mit dem Kirchenwesen aufzuräumen, huldigt derselben.

Diese Philosophie, welche der Sinnenwahrnehmung und der Einbildungskraft zusagt, gefällt daher auch vielen Menschen des praktischen Lebens, Geschäftsleuten usw.,  welche Strauß die Seinigen nennt, welche sich sonst nicht weiter mit philosophischen Studien befassen mögen. Genug, sie ist sehr verbreitet.

Diese Gelehrten behaupten, die wahre, die alleinige "Wissenschaft" zu besitzen. sie wissen zwar, wie wir, nicht was Kraft und was Stoff eigentlich ist, allein sie glauben mit diesen beiden Begriffen, mit Darwin und einer Hand voll Millionen Jahren die Welt wissenschaftlich aus Atomen aufbauen zu können, glauben das Rätsel des Daseins gelöst und in das "Innere der Natur" eingedrungen zu sein. Daher wollen denn auch diese Philosophen von Religion, selbst dem Wort nichts mehr zu wissen. Strauß lässt es nur halb und halb noch gelten.

Wenn sich nun Leute dieser Richtung auch in unseren Gemeinden befinden, wenn sie des kühnen Glaubens leben, sie könnten auch auf Grundlage dieser Theorie religiöse Gemeinden gründen oder erhalten, was
sollten wir tun? Nun wir suchen ihre Ansichten mit Gründen zu widerlegen, das müssen sie sich gefallen lassen wegen der anerkannten Gleichberechtigung unter uns; mit Gründen aber nicht mit Glaubensbekenntnissen und Programmen.

Damit würden wir sie allerdings aus unserer Gemeinschaft hinausdrängen und hinaus ärgern können, aber wir würden nicht nur heillose Ärgernisse unter uns erregen, sondern auch aufhören "frei"-religiöse
Gemeinden zu sein - das wollen wir bleiben. Also es bleibt dabei: "Ein Jeder nach seiner Fasson", d.h. nach unserem Paragraphen: "freie Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten".

Demnach müssen wir unserem jungen Freund in Greifswald raten, über die Schwierigkeit eines freireligiösen Glaubensbekenntnisses noch mehr nachzudenken. Er wird am Ende zu meiner Überzeugung kommen, wird nicht weiter versuchen, unsere
Gemeinden durch Papier, Paragraphen  und Satz-ungen vereinigen und kräftigen zu wollen. Er wird
zurückkommen auf die einzigen unter uns möglichen Bindemittel, die moralischen Bande, Brüderlichkeit und Gleichberechtigung in der Verschiedenheit. Er wird ein Nachahmer nicht des heilige Augustin oder Athanasius, der Bekenntnismacher, sein wollen,
sondern ein Nachahmer Jesus von Nazareth, der
bekanntlich auch kein Glaubensbekenntnis gemacht, sondern sagte: "Darum will ich erkennen, dass Ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt."

So hoffen wir denn, unser Freund in Greifswald werde noch recht viel Gescheites reden und schreiben, aber kein Bekenntnis mehr entwerfen. Wenn er das Erste tut und das Zweite lässt, dann wird er einst sagen können: "Auch ich habe ihn mitgemacht, den heiligen, den ewigen Krieg zwischen Licht und Finsternis, ich habe mein Leben lang treu auf der Seite des Lichts gestanden. Ich habe gelebt, und ich habe nicht umsonst gelebt."

Dixi[9]



[1] Siehe "Freireligiöses Quellenbuch" Band 1 und 2. Erhältlich bei der

  herausgebenden Freireligiösen Gemeinde Mainz und beim Bund

  Freireligiöser Gemeinden Deutschlands

[2] Leberecht Uhlich (1799 - 1872);  1841 Mitbegründer der "Protes-

  tantischen Freunde"  (später "Lichtfreunde" genannt), die neben

  dem  Deutschkatholizismus die zweite Wurzel der Freireligiösen

  bildeten.  Uhlich war freireligiöser Pfarrer in  Magdeburg.

[3] Der gesamte Umfang der Veröffentlichungen ist nachzu-

  lesen in:",Deutschkatholisches  (Freireligiöses) Sonntagsblatt",

  25. Jahrgang, von Nr. 39  (26. September) 1875 bis Nr. 49

  (5. Dezember 1975).

 

[4] Wilhelm Hieronymi (1809 - 1884), Prediger in den Deutsch-

  katholischen Gemeinden Darmstadt und Mainz.

  In Mainz offiziell als Pfarrer tätig  von 1855 - 1884.

[5] Justizrat Oscar Heinrich Carl Graf von Reichenbach? (= Bruder

   von Graf Eduard von Reichenbach). 

[6] Hinweis Hieronymi: Siehe das Buch dieses alten Weisen Laotse:
    Tao-te-king (das heißt Buch über die Kraft und die Wirkung)

    beinahe wie Büchner: "Kraft und Stoff", aber nicht so materia-
    listisch. Denn Tao, der allwaltende Geist d. i. Gott.

[7] Von der Internetseite tabularium-f führt ein Link zu "Freireligiöses

   Quellenbuch", Band 1.  Dort ist der Text unter seinem Erschei-

   nungsjahr 1872 zu finden.

[8] quousque tandem: Wie lange noch (soll es dauern)?

[9] Dixi: lat. "Ich habe gesagt"