Freireligiöses Quellenbuch 1.

1921

 

Bekenntnisentwurf

von Arthur Drews

 

Freie Religion, Vorschläge zur Weiterführung des
Reformationsgedankens

 

Auflage: 1921

Nachfolgender Text aus:

M. Schlunk: „Die Weltanschauung im Wandel der Zeit“

Druckerei des Rauhen Hauses, Hamburg

 

 

 

1.       Ich glaube an Gott, den Träger der Weltordnung und Begründer der Weltzwecke, den unbedingten, allwissenden und allmächtigen, in seinem Wesen über Raum und Zeit, in seinem Wirken über die Schranken des Bewusstseins und der Persönlichkeit erhabenen absoluten Geist, das Wissende in allem Wissen, das Wirkende in allem Wirken, das als Wesen aller Wirklichkeit zugrunde liegt.

2.       Ich glaube, dass die Welt die Erscheinung Gottes ist, die in Raum und Zeit hinausgestrahlte, im Licht des Bewusstseins offenbar werdende Fülle seiner Gedanken und Kräfte, durch welche Gott im Menschen zum Bewusstsein seiner selbst gelangt, um vermittelst seiner seine Zwecke zu verwirklichen.

3.       Ich glaube, dass der Mensch, als bewusst geistige Persönlichkeit, die Kraft besitzt, auf Grund seiner wesentlichen Einheit mit Gott sich selbst von den Schranken der Endlichkeit, der Schuld und dem Übel zu erlösen, durch die hiermit vollzogene Willenseinheit mit Gott an der Verwirklichung der göttlichen Zwecke teilzunehmen und dadurch zum Frieden zu gelangen, der als solcher Gottes Friede ist.

 


 

Oktober 1921

 

Beschluss der Bundesversammlung

Freireligiöser Gemeinden

und des

Deutschen Freidenkerbundes

auf dem Freidenkerkongress[1] in Hannover

 

Aus:

Gustav Tschirn

(Prediger in Wiesbaden)

„Interkonfessionelles Lehr-

und Lesebuch, III. Teil, Oberstufe“

Oldenburg und Co. Verlag, Berlin SW 48, 1922

 

1.       Die einheitliche, natürliche Weltanschauung, auf der alle freien Denker fußen, setzt an Stelle eines persönlichen, göttlichen Weltregiments die Selbstregulierung der Welt nach eigenem Allgesetz. Dadurch empfängt über alle Einzelrichtungen hinweg für alle freien Denker auch die Volksregierung im Volks- und Staatstum, das demokratische, republikanische Prinzip etwas von Unendlichkeitswert und Ewigkeitsbedeutung.

2.       Alle freien Denker sind einig in der Entwicklungslehre, d. h. darin, dass über unseren Tod hinaus der Diesseitsfortschritt, kein Jenseitsglück, als höchstes Ziel winkt. Als Kind der Mutter Natur fühlt der Mensch sich nicht nur mit allen Mitmenschen innig verbrüdert, sondern mit allen Lebewesen und Welten verschwistert.

3.       Alle freien Denker stehen deshalb auf dem Boden der natürlichen Menschheitsmoral, dass der Mensch – kein ohnmächtiger, verlorener Sünder von Natur – sittliche Anlagen besitzt, das Streben zum Guten in sich hat, was er ohne Himmelslohn und Höllenfurcht aus eigener Kraft und Vernunft betätigt. Sie erkennen das Urgebot: „Liebe den anderen wie dich selbst“ als Ausdruck des individuellen und sozialen Urtriebes an und streben über Rassen-, Klassen- und Völkerhass hinweg zur Menschheitsverbrüderung, zur Solidarität, wie zur Persönlichkeitserhöhung, zum Sieg des Rechts über das Gewaltprinzip, zum Volks- und Völkerfrieden, zum höchstmöglichen Glück des Einzelnen.


 

1924

 

Kernfragen der freien Religion

 

Aus:

„Freie Religion“

Nr. 4, 3. Jahrgang

April 1924

von  E. Schramm

 

 

1.       Was ist freireligiös?

Freireligiös heißt nicht frei von Religion, sondern frei in der Religion. Wir betrachten die Religion nicht als einen überwundenen Standpunkt, sondern wir wollen eine neue Religion, nämlich die freie Religion.

2.       Warum nennen wir uns frei in der Religion?

Wir nennen uns frei, weil wir nicht gebunden sind an irgend eine bestimmte, von der Kirche oder der heiligen Schrift oder sonst jemand vorgeschriebenen Glaubenslehre, sondern [weil ein jeder das glauben kann, was er nach seiner eigenen freien Überzeugung für wahr halten muss.

3.       Warum kann ein Freireligiöser nicht einer Kirche angehören?

Weil die Kirche auch in ihrer freiesten Form den Glauben an einen zugleich allmächtigen, allgerechten und allgütigen Gott und Weltenlenker und an das christliche Evangelium fordert, also nur bis zu einer gewissen Grenze Glaubensfreiheit gewährt.

4.       Ist der Freireligiöse nun an gar nichts gebunden?

Er ist gebunden an die Wahrheit, und das ist die stärkste Bindung, die man sich denken kann. Denn sie verlangt, dass man ihr nicht nur die überlieferten und anerzogenen Glaubenslehren, sondern auch die den eigenen Herzenswünschen entspringenden religiösen Vorstellungen zum Opfer bringt. Wahrhaftigkeit aber gehört zugleich zu dem sittlichen Wesen des Menschen.

5.       Was bedeutet dieses sittliche Wesen des Menschen?

Es bedeutet, dass der Mensch auch gebunden ist an seine sittliche Menschenpflicht, an das natürliche Sittengesetz. Wir dürfen uns nicht unseren Naturtrieben überlassen, wenn sie uns nicht zum Guten leiten, wir dürfen nicht der Selbstsucht folgen, wenn wir andere Menschen dadurch in Not und Elend bringen. So sind wir vor allem gebunden an unser Gewissen und an die soziale Gemeinschaft der Menschen, die auch uns selbst allein ein glückliches Leben verbürgt.


 

6.       Warum nennen wir uns religiös?

Wir nennen uns religiös, weil wir das hinter dem wechselnden äußeren Gewand sich verbergende eigentliche Wesen der Religion auch für uns Menschen der neuen Zeit noch in Anspruch nehmen.

7.       Welches ist dieses eigentliche Wesen der Religion?

Es ist der Aufblick des Menschen aus der Begrenztheit seines Wesens zu höheren Mächten, von denen er Erlösung erhofft.

8.       Welche höheren Mächte sind hier gemeint?

In den alten Religionen glaubte man an übernatürliche göttliche Mächte, der Freireligiöse sucht und findet diese Mächte in der Natur selbst. Sie sind weiter nichts als die höhere Entwicklungsstufe der Natur selber in der Annäherung an das Ideal, die unendlichen Möglichkeiten im unendlichen Weltall, die sich auch dann noch öffnen, wenn der Mensch an aller Rettung und allem Fortschritt verzweifeln möchte. Der Glaube an diese unendlichen Möglichkeiten, an diese Höherentwicklung über den gegenwärtigen Zustand hinaus ist das eigentliche Wesen der freien Religion.

9.       Wie aber, wenn kein Ausweg, keine Rettung in der äußeren Natur mehr möglich ist, etwa im Tod?

Dann bleibt dem Menschen noch die unendliche innere Kraft der Seele, sein unvermeidliches äußeres Schicksal im Hinblick auf die nach ihm kommenden und sein Werk fortführenden Geschlechter geduldig und heldenmütig zu tragen durch die Erhebung eines guten Gewissens über alle äußere Gewalt, durch Entwicklung höherer Mächte, der Erlösung in sich selbst. „Wenn etwas gewaltiger ist als das Schicksal, dann ist’s der Mut, der´s unerschütterlich trägt!“

 

 


Freireligiöse Besinnung         Freie Religion 1925, S. 88

Von Dr. Westphal

 

O führe mich Vernunft

In Stärke und in Schwäche.

Wenn ich zusammenbreche,

Sei du mir Pflicht und Trost.

Wandle in Freuden

Mein Kümmern und Leiden;

Wenn ich ganz verzage,

Scheuche die Klage

Von meinen Lippen fort.

O leite mich Gefühl

Bei meiner Brüder Jammern,

In meine Herzenskammern

Lass ein dein Sonnenlicht.

Mach mich erweichen

Und lass mich erreichen

Des Edelsinns Höh´n.

Will fest dort stehn,

Von Selbstsucht befreit.


 

Nach 1920 (= Zwanziger Jahre)

 

Freie Religion

 

aus:

Geschichte und Grundsätze

der Freireligiösen Gemeinde Magdeburg

 

von Prediger Dr. Hermann Köstlin

Verlag Freireligiöse Gemeinde Magdeburg

 

Es ist ein interessantes, weil einmaliges Phänomen, dass die Freireligiöse Gemeinde Magdeburg ihre etwa um 1880 entstandenen Grundsätze in einer Werbebroschüre der Zwanziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts unverändert verwandte und zeitgemäß kommentierte.

 

 

Die Grundsätze der Freireligiösen Gemeinde

 

1.              Wir wollen eine Gemeinschaft sein, welche die Pflege der Religion und Sittlichkeit bezweckt. Jede Art von Politik ist innerhalb der Gemeinde ausgeschlossen.

Unter Religion verstehen die meisten Menschen heute noch den Glauben an übernatürliche Mächte, an einen Gott oder mehrere Götter. Die Christen, Juden und Mohammedaner bekennen sich zum Glauben an einen Gott, der die Welt erschaffen hat und regiert und jeden Menschen je nach Verdienst belohnt oder straft. Man bezeichnet diese Religion des Eingottglaubens als Monotheismus. Die alten Deutschen, die Griechen und Römer glaubten an mehrere Götter. Diesen Vielgottglauben nennt man Polytheismus. Wenn jemand die Gottheit nicht jenseits der Welt in einem Himmel sucht, sondern sie als die Seele der Welt, als schaffende Naturkraft, als Weltgeist bezeichnet, so heißt man diese Gottesauffassung Pantheismus (Allgottglauben).Erklärt einer, dass er weder in noch über der Welt einen Gott finden könne, so bekennt er sich damit zum Atheismus (Keingottglauben).

Früher hat man gemeint, man könne das Dasein eines überweltlichen Gottes beweisen. Man sagte z. B., der Mensch habe in sich den Begriff eines höchsten Wesens, darum müsse es auch ein solches geben. Aber ganz abgesehen davon, dass es doch viele Menschen und ganze Völker gibt, die den Begriff eines höchsten Wesens nicht in sich vorfinden, folgt aus ihm noch nicht das Dasein eines solchen Wesens. Ich kann mir z. B. wohl ein geflügeltes Pferd vorstellen, damit ist aber noch nicht gesagt, dass es nun ein solches auch geben müsse.

Oft wird behauptet, das Dasein der Welt weise auf einen Schöpfer hin. Nun kann man wohl sagen, alles, was geworden ist, muss auch eine Ursache haben. Wenn wir z. B. ein Haus an einem Platz stehen sehen, wo vorher keines gewesen ist, so fragen wir natürlicherweise: Wer hat dieses Haus gebaut? Von der Welt aber kann niemand beweisen, dass sie im Laufe der Zeit entstanden ist. Die einzelnen Weltkörper entstehen und vergehen, aber der Stoff, aus dem sie sich bilden, kann sehr wohl ewig bestehen, wenn wir das auch nicht erklären und begreifen können. Wenn einer aber trotzdem einen Schöpfer der Welt annehmen wollte, so würden wir weiter fragen: Woher kommt denn dieser Gott und warum ist dieses Wesen Gott? Ob man also sagt, ein Gott lebt seit Ewigkeit oder die Welt ist ewig, ist beides gleich rätselhaft für uns Menschen.

Da halten wir uns aber doch lieber an die Welt, in der wir leben und die auf unsere Sinne einwirkt, als dass wir von einem Gott reden, dessen Dasein bloß auf Glauben sich stützen kann. Und wenn auf die Zweckmäßigkeit in der Natur hingewiesen wird, besonders auf den sinnvollen Bau von Pflanzen, Tier und Mensch, so sagen wir: allerdings gibt es vieles in der Welt, was uns zweckmäßig erscheint, aber diese Zweckmäßigkeit kann doch auch natürliche Ursachen haben. Manche Naturforscher erklären sie durch „Erhaltung des Angepassten“. Schon der englische Gelehrte Charles Darwin hat darauf hingewiesen, dass im Kampf ums Dasein die Tüchtigen sich erhalten, während die Lebensunfähigen aussterben.

Gewiss laufen heute die Gestirne am Himmel in geordneten Bahnen, ohne miteinander zusammen zu stoßen. Aber wer sagt uns, dass das immer so gewesen ist? Vielleicht hat vor Jahrmillionen auch am Himmel ein „Kampf ums Dasein“ stattgefunden, und die größeren Weltkörper haben die kleineren vernichtet, die sich ihnen hindernd in den Weg stellten. Und gibt es neben dem Zweckmäßigen in der Natur nicht auch vieles, was uns unzweckmäßig erscheint? Die meisten Tiere sterben im Magen anderer Tiere, Erdbeben, Überschwemmungen, Vulkanausbrüche vernichten öfters zahlreiche Menschenleben und menschliche Wohnstätten. Oder was hat z. B. der Wurmfortsatz des menschlichen Blinddarms für einen Zweck, durch dessen Entzündung oft schwere Krankheit, ja der Tod den Menschen trifft?

Auch eine sittliche Weltordnung lässt sich nicht behaupten. Wie sollte ein Gott den furchtbaren Weltkrieg zugelassen haben, den wir alle erlebt haben? Wenn einer vorhanden wäre, hätte er gewiss die in allen Ländern zur Rechenschaft gezogen, welche seit Jahren zum Krieg gehetzt haben, statt Millionen Unschuldiger leiden und sterben zu lassen.

Es  ist  zwar  richtig, wenn  man sagt, dass  der gute Mensch gewöhnlich ruhig und zufrieden sei, während der böse trotz allem äußeren Glück meist innerlich nicht froh sein könne, aber niemand wird leugnen, dass Tugend und Glück sich auf Erden oft nicht entsprechen. Und es ist doch sehr zweifelhaft, ob in einer anderen Welt ein Ausgleich stattfindet, von der doch niemand etwas weiß! Freilich kann man auch nicht restlos beweisen, dass es keinen Gott geben könne, jeder muss sich auf Grund des Eindrucks, den ihm persönlich Welt und Leben machen, in dieser Frage entscheiden.

Jedenfalls kann ein Mensch heute mit gutem Gewissen Atheist sein und braucht es sich nicht gefallen zu lassen, dass man diesen Standpunkt als einen falschen oder unsittlichen bezeichnet. Wir Freireligiösen üben in dieser Frage keinen Zwang auf den Einzelnen aus. In unseren Gemeinden haben sich allerdings meist Atheisten und Pantheisten zusammen geschlossen; wir würden aber keinen Gottesgläubigen zurückweisen, der sich uns anschließen will, vorausgesetzt, dass er auch unseren Atheismus oder Pantheismus achtet und nicht die törichte Meinung hat, er müsse andere zu seiner Anschauung „bekehren“.

Nun sagt man oft, wir Freireligiösen haben keine Religion, weil wir in der überwiegenden Mehrzahl den Glauben an das Dasein eines Gottes ablehnen. Aber dieser Vorwurf berührt uns innerlich nicht. Wir tragen ja unsere Religion im Herzen, und auch andere werden die Kraft anerkennen müssen, die von uns ausgeht.

Es darf darauf hingewiesen werden, dass die Wissenschaft keine allgemein anerkannte Bestimmung des Begriffs Religion kennt.

Der Eine versteht darunter Glaube an einen Gott und Verehrung desselben, ein anderer ehrfurchtsvolle Betrachtung des Weltalls, wieder ein anderer Hingabe an die höchsten Ziele der Menschheit. Es ist jedenfalls einseitig, wenn man als Religion nur Glauben an übernatürliche Mächte gelten lassen will. Wir heißen Religion ein bestimmtes persönliches Verhalten zum Leben und zu den Menschen, eine eigenartige Willensrichtung.

Wer den Willen zur Liebe und Barmherzigkeit besitzt, wer ehrlich nach Wahrheit strebt, wer duldsam gegen andere ist, wer wünscht, dass das Gute auf Erden siege und an diesem hohen Ziel mitarbeitet, der hat Religion.

Diese eigentümliche Willensrichtung finden wir bei den religiösen Menschen aller Völker und Zeiten, mögen ihre Glaubensvorstellungen noch so verschieden sein.

Religion ist nicht gleichbedeutend mit Weltanschauung, die Sache des Verstandes ist und es mit der Erkenntnis der Welt zu tun hat, sondern sie zeigt sich erst in der Lebensauffassung, die man auf Grund seiner Weltanschauung hat.


 

Wo Eltern und Kinder sich bemühen, im Frieden miteinander zu leben, wo Völker ihre Streitigkeiten ohne Krieg zu schlichten suchen, wo man nicht sich selbst rücksichtslos durchsetzen will, sondern auch andere Interessen respektiert, da herrscht echte, menschentümliche Religion. Und obwohl wir niemand zu dieser Religion zwingen können und wollen, so dürfen wir doch mit gutem Gewissen behaupten, dass nur die Menschen wertvoll sind, die sie im Herzen tragen. Und wo Angehörige der alten Religion diese Willensrichtung zeigen, erkennen wir sie gerne an, auch wenn ihr Glaube ein anderer ist.

Wie steht´s bei uns mit der Pflege der Sittlichkeit?

Meinen doch manche Leute, wir Freireligiösen können leicht unsittliche Menschen werden, weil wir nicht an ein Gericht nach dem Tode glauben. Ein unsittlicher Mensch fragt nicht, was ist gut und böse, sondern was ist für mich leicht und angenehm, was verschafft mir Genuss und Vorteil, gleichgültig ob andere Schaden dabei erleiden!

Solche Menschen wollen wir Freireligiöse nicht sein, das zeigt die lange Geschichte unserer Gemeinde mit all den Verfolgungen, die sie erlitten hat. Wenn die Freireligiösen immer nur gefragt hätten, was ist bequem und vorteilhaft, dann wären sie ruhig bei der Kirche geblieben oder zu ihr zurückgetreten, statt all die Schikanen auf sich zu nehmen, denen sie als Glieder unserer Gemeinde früher ausgesetzt waren.

Im Staate sind nicht diejenigen die besten Bürger, welche die Gesetze nur aus Furcht vor dem Strafrichter befolgen, sondern die, welche innerlich jenen Gesetzen zustimmen, weil sie eingesehen haben, dass ohne eine bestimmte Ordnung, ohne Schutz von Leben und Eigentum Menschen nicht zusammen leben können. So sind auch die noch keine wirklich guten Menschen, die das Gute nur aus Furcht vor einem Gott tun, die zugeben, dass sie vielleicht anders handeln würden, wenn es keinen Gott gäbe. Nur der Mensch ist gut, der Freude am Guten und Abscheu gegen das Böse hat. Wir suchen darum schon der Jugend zu zeigen, dass all unsere Handlungen im Leben gute oder schlimme Folgen für uns und andere haben, dass wir Himmel und Hölle nicht jenseits des Todes suchen dürfen,  sondern dass wir sie auf Erden haben können oder müssen, je nachdem wie wir leben.

Aber nicht bloß an den Verstand des Menschen wenden wir uns, um ihm zu zeigen, dass alle unserer Taten segensreiche oder üble Wirkungen haben, wir suchen auch das Ehr- und Mitgefühl, die Begeisterung für das Gute, Wahre und Schöne im Menschen zu wecken, um ihn für ein gutes Leben zu gewinnen. Wir alle haben Fehler und sind unvollkommene Wesen, aber nur der ist ein schlechter Mensch, dem seine bösen Taten gleichgültig sind. Wer seine Fehler bereut, darf nicht verzweifeln, er muss versuchen besser zu machen, was er gefehlt hat, oder, wenn das  nicht  mehr  möglich  ist,  sich  bemühen, selbst  besser zu werden.


 

Auch durch die Schuld hindurch kann der Mensch reifer werden zu einem besseren Leben.

Während wir in der Gemeinde in diesem Sinne Religion und Sittlichkeit pflegen, ist jede Parteipolitik innerhalb derselben ausgeschlossen.

Die Beschäftigung mit Politik ist gewiss notwendig. Das hat uns der Krieg gezeigt, der dem Volke die Augen darüber geöffnet hat, dass es die Verantwortung für sein Schicksal nicht einigen wenigen Persönlichkeiten überlassen darf, sondern selbst die Entscheidung über seine Zukunft in die Hand nehmen muss.

Auch im Innern kann es uns nicht gleichgültig sein, welches Maß von persönlicher Freiheit der Einzelne genießt, welches Verhältnis der Staat zu den einzelnen religiösen Organisationen einnimmt, welche Steuern bezahlt werden müssen. Deshalb müssen jeder Mann und jede Frau es lernen, politisch zu denken und dementsprechend sich zu betätigen.

Aber die Gemeinde ist hierzu nicht der Ort. In ihr haben sich Anhänger verschiedener politischer Parteien zusammengefunden, die in dem Bestreben, ein edles Menschentum zu pflegen, eins sind. Die Mitglieder unserer Gemeinde werden ihren Parteien und dem Volke am besten nützen, wenn sie die religiösen und sittlichen Grundsätze, die in unserer Gemeinde hoch gehalten werden, innerhalb ihrer Parteien betätigen.

Ein freireligiöser Politiker wird niemals eine Gewaltpolitik von rechts oder links gutheißen, er wird jede andere Meinung achten, auch wenn er sie bekämpfen muss, er wird nie bloß die Interessen eines Standes vertreten, sondern nach allen Seiten gerecht zu werden sich bemühen, er wird niemals zu den Kriegshetzern gehören, sondern zu denen, die selbst einen aufgezwungenen Verteidigungskrieg für ein furchtbares Übel halten, und mit allen Kräften auf den Völkerfrieden hinarbeiten. Dass wir solche Persönlichkeiten im öffentlichen Leben brauchen können, wird jeder edel denkende Mensch zugeben.

Die idealen Bestrebungen der freireligiösen Gemeinde finden einen schönen Ausdruck in den Worten Eduard Baltzers:

Du suchst und möchtest gern es finden,

was deine Seele selig macht;

Du suchst es in des Wissens Gründen

und in der Berge tiefem Schacht;

Du suchst es über fernen Meeren,

in einer andern Sonne Licht!

Du schmückest dich mit Ruhm und Ehren

doch das Ersehnte hast du nicht.

O so verlass das eitle Drängen,

lass ab von törichter Begier!

Tönt´s nicht in reineren Gesängen:


 

Das Himmelreich ist nah bei dir?

Such´s nicht in Höhen, nicht in Gründen,

nicht in der schnell verblühten Lust;

willst du den wahren Himmel finden,

such ihn, o Mensch in deiner Brust!

 

2.              Wir sehen die Vernunft als die oberste Richtschnur für alles menschliche Denken an und können auch in religiöser Beziehung nur das anerkennen, was sich vor der Vernunft als wahr erweist.

In Bibel und Christentum gibt es viele Geschichten und Lehren, die unserer Vernunft anstößig sind. Wir denken da besonders an die Wundererzählungen des Alten und Neuen Testaments. Es wird dort berichtet, dass Blinde, Lahme, Taube, Aussätzige plötzlich wieder geheilt, Tote auferweckt worden oder wie Jesus auferstanden seien. Heute ge-schehen solche Wunder nirgends, darum sind wir überzeugt, dass sie auch früher nicht geschehen sind.

Übrigens werden solche Wunder auch in anderen Religionen erzählt, ein Beweis dafür, dass wir es überall mit sagenhaften Überlieferungen zu tun haben. Hätte Jesus wirklich Tote auferweckt, wie die Evangelien des Neuen Testaments das melden, so hätte gewiss niemand gewagt, ihn ans Kreuz zu schlagen, denn solch ein Wundertäter wäre den anderen unheimlich gewesen. Dass Jesus manche Nervenkranke durch Sugges-tion (geistige Beeinflussung) geheilt hat, ist allerdings möglich, solche Heilungen kommen auch heute noch vor, man heißt sie aber nicht Wunderheilungen. Weil Jesus ein bedeutender Mensch gewesen ist, der auf seine Anhänger einen großen Eindruck machte, sind wohl bald nach seinem Tode allerlei wunderbare Geschichten über ihn erzählt worden, die der Fantasie begeisterter Jünger entsprangen.

Ebenso lehnen wir aus Vernunftgründen die Grundlehren des Christentums ab. Nach christlicher Auffassung sollen durch den Sündenfall Adams im Paradies das Leid und der Tod in die Welt gekommen sein, und alle Menschen sind nach dieser Meinung deshalb von Geburt an mit der Erbsünde und dem Hang zum Bösen behaftet. Aber die heutige Wissenschaft lehrt uns, dass schon lange, ehe es auf Erden Menschen gab, der Tod, das aus dem Kampf ums Dasein entspringende Leid, Erdbeben, Vulkanausbrüche, Überschwemmungen geherrscht haben und nicht erst durch den Sündenfall des Menschen in die Welt gekommen sind. Und wie ungerecht würde uns ein Gott erscheinen, der die Nachkommen Adams und Evas für die Sünde der Stammeltern straft!

Gewiss haben wir alle von unseren Vorfahren nicht bloß Tugenden, sondern auch Fehler geerbt, aber wir Menschen sind eben nicht bloß in körperlicher, sondern auch in sittlicher  Beziehung  von Natur unvollkomme-


 

ne Wesen. Oft müssen im Leben Kinder schwer für die Fehler ihrer Vorfahren büßen, aber ist das etwa ein Beweis für die Gerechtigkeit eines Gottes?

Die Kirche lehrt, dass Christus, der Sohn Gottes, für die Sünden der Menschen am Kreuz gestorben sei, um Gott durch sein unschuldiges Leiden und Sterben mit den Menschen zu versöhnen.

Aber wie sollte ein Gott es zulassen, dass sein unschuldiger Sohn für die Schuld anderer büßt und wie sonderbar mutet uns der Gedanke an, dass jener Christus auch für die Sünden der Menschen, die nach ihm geboren wurden, am Kreuze gestorben sei!

Nach dem Tode kommen die guten Menschen nach christlicher Lehre in den Himmel, die bösen in die Hölle, wo sie ewige Strafen leiden müssen. Wäre das nicht ein grausamer Gott, der auch die ärgsten Bösewichter ewiger Pein überantworten würde? Müssen es nicht grausame Menschen gewesen sein, die eine solche Lehre erdacht haben?

Dagegen verkennen wir nicht, dass Jesus, in dem wir Freireligiöse zwar nicht einen Gottessohn, aber einen edlen Menschen sehen, manches gelehrt hat, was auch uns als gut und recht erscheint. Die Bedeutung Jesu liegt für uns nicht in seiner vermeintlichen Gottessohnschaft, auch nicht in seinem Gottesglauben, sondern in seinem vorbildlichen Leben voll Güte und Barmherzigkeit und in seinen von einem scharfen Blick für das Leben zeugenden Worten.

Wenn er z. B. einmal sagt:

“Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, so tut auch ihr ihnen, denn dies ist das Gesetz und die Propheten“,

so erkennen wir, dass dieses Wort eine goldene Lebensregel bedeutet.

Oder wenn er rät:

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.

so leuchtet es ein, dass es unseren Nebenmenschen nicht schlecht gehen kann, wenn wir sie ebenso behandeln wie uns selbst, denn sich selbst fügt kein vernünftiger Mensch absichtlich Schaden zu.

Was die alten Religionen von übernatürlichen Dingen erzählen, macht auf uns heutige Menschen keinen Eindruck mehr. Wo wir aber bei ihren Verkündern auf Worte stoßen, die von tiefer Lebenserfahrung Zeugnis ablegen, die uns wahre Kenntnis der menschlichen Seele und ihrer Bedürfnisse verraten, da nehmen wir sie gerne als Leitsterne für unser Leben an, gleichgültig ob sie aus der christlichen Religion stammen oder heidnischen Ursprungs sind.

So sagt z. B. Buddha, der indische Religionsstifter, der 500 Jahre vor Christus gelebt hat:


 

„Die ganze Religion fasst sich in drei Sätzen zusammen:

Reinige den Geist, enthalte dich des Lasters,

übe die Tugend.“

Oder wir erinnern uns an das Wort des Konfuzius, des chinesischen
Reformators (550 n Chr.):

„Vergilt Gutes mit Gutem, doch räche dich nicht wegen Beleidigung.“

Der griechische Philosoph Plato sagt: „Der Glückseligste ist, wer keine Schlechtigkeit in der Seele hat.“

Und der Römer Seneca meint:

„Nicht das Leben selbst ist ein Gut, sondern das rechte Leben.“

Dieses Recht der Vernunft, darüber zu entscheiden, was für uns heutige Menschen gut und schön ist, spricht Cassel mit den Worten aus:

Selbst zu prüfen, frei zu wählen,

ist das ew’ge Recht der Seelen,

das der Menschheit angeboren,

das zur Freiheit sie erkoren.

Ihr dies heil’ge Recht zu rauben,

durch den Zwang zum blinden Glauben,

heißt die Gottheit selbst verhöhnen,

und der Götzen-Herrschaft frönen.

Von der Saat die Spreu zu sichten

und des Irrtums Nacht zu lichten,

auf des freien Geistes Schwingen

immer tiefer einzudringen

in den Schatz der ew’gen Wahrheit

und zugleich mit Ernst und Klarheit

nach des Herzens Reinheit streben,

ist das wahre Seelenleben.

 

3.              Wir achten deshalb die Wissenschaft und sind stets bestrebt, uns mit ihrer Hilfe in unserer religiösen und sittlichen Erkenntnis weiterzubilden.

Die alte Religion gründet sich auf eine angebliche göttliche Offenbarung. Das Alte Testament berichtet, dass Jahve, der Gott der Juden, frommen Männern wie Abraham, Moses, Samuel, den Propheten persönlich erschienen sei oder mit ihnen gesprochen und ihnen so seinen Willen kundgetan habe. Auch im Neuen Testament soll Gott bei der Taufe Jesu durch Johannes im Jordan vom Himmel herab gesprochen haben:


 

„Dies ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden“ (Matth. 3,17).

Besonders die Wunder des Alten und Neuen Testaments gelten den Christen zum Teil heute noch als göttliche Zeichen. In den Erzählungen von solchen göttlichen Offenbarungen, wie sie bei allen alten Religionen sich finden, können wir nur Sagen erblicken. Vernunft und Erfahrung sind die einzigen Quellen unserer Erkenntnis; Urteile, welche die Grenzen der Erfahrung überschreiten, beruhen allein auf Glauben, sind also niemals gewiss. Darum achten wir die Ergebnisse der Wissenschaft und bauen unsere Religion und Sittlichkeit mit ihrer Hilfe auf.

Die Wissenschaft hat uns z. B. gezeigt, dass unsere Erde nur ein kleiner Stern im unermesslichen Weltraum unter Millionen von Sternen ist. Nach dem Philosophen Kant ist unsere Sonne wahrscheinlich durch Verdichtung aus einem ungeheuren Gasnebel entstanden. Infolge Drehung der Sonne haben sich Ringe von ihr losgelöst, die zerrissen und sich zu Kugeln zusammenballten, welche um die Sonne kreisen. Neptun, Uranus, Saturn, Jupiter, Mars, Erde, Venus, Merkur sind die aus der Sonne hervorgegangenen Planeten. Die Erde war zuerst eine feurige Kugel, die von dichten Dämpfen umgeben war. Durch ihre Umdrehung hat sich ein Ring von ihr abgelöst, der zerriss und sich zu einer Kugel zusammenballte, unser Mond, der also ebenso ein Kind der Erde ist, wie diese eines von der Sonne.

Die Oberfläche der Erde erstarrte allmählich infolge Abkühlung in dem wahrscheinlich sehr kalten Weltenraum, die sie umgebenden Dämpfe wurden zu Wasser, das die Erde bedeckte. Durch Zusammenziehung des Erdkerns faltete sich die Erdrinde und bildete Erhöhungen und Vertiefungen, in denen sich die Meere sammelten. Im Laufe von Jahrmillionen entstanden dann auch Pflanzen, Tiere und Menschen, die sich aus niedersten Wesen heraus bis zu ihrem jetzigen Stande entwickelt haben. Wie die ersten lebenden Wesen auf unserer Erde sich gebildet haben, ist noch nicht völlig geklärt. Die Gelehrten geben zu, dass es noch viele ungelöste Rätsel gibt, aber sie ziehen emsiges Weiterforschen einem blinden Glauben an übernatürliche Eingriffe einer höheren Macht vor.

Wenn wir daran denken, dass die Erde nur ein Stern unter Millionen von Sternen ist, dann kommt es uns unwahrscheinlich vor, dass ein Gott seinen Sohn als Erlöser auf diese kleine Erde gesandt haben soll, wie das Christentum lehrt. Unbedeutend kommt uns die Völkergeschichte mit ihren 8000 Jahren vor, gegenüber der Erdgeschichte, die sich auf Jahrmillionen beläuft. Und die Einbildung der Menschen, dass die Erde hauptsächlich wegen ihnen da sei, erscheint uns töricht, wenn wir bedenken,  dass  die  Menschen  höchstens  2  bis 3  Millionen  Jahre  auf  der  Erde leben, während zuvor Jahrmillionen vergangen sind, in denen nur Pflanzen und Tiere die Erde bevölkerten.

Als eine falsche Anmaßung erkennen wir vollends den Anspruch des Menschen auf eine ewige Fortdauer nach dem Tode, wenn wir bedenken, welche unbedeutende Stelle der einzelne Mensch in der Entwicklungsgeschichte einnimmt und wie gering die Leistungen des Einzelnen für den Fortschritt der Menschheit sind.

Durch die Forschungsresultate der modernen Wissenschaft über die Erde und ihre Stellung im Weltenraum lernen wir die wahre Demut und Bescheidenheit. Wir meinen nicht mehr, die Welt müsse sich um uns drehen. Unsere Aufgabe kann nur sein, uns auf der Erde, zu der wir gehören, wohnlich einzurichten, soweit das in unserer Kraft steht, die Naturgesetze mit Ernst zu erforschen und zu beobachten, damit sie uns nützen und nicht schaden.

Solange wir leben, freuen wir uns an allem Schönen, das die Erde uns bietet, wir suchen das Leid, das nicht fehlt, zu bekämpfen, soweit wir können. Je mehr Menschen fest zusammenhalten, und gemeinsam arbeiten, desto glücklicher können sie auf Erden leben. Wo jeder nur rücksichtslos sich selbst durchsetzen will, wo ein Volk das andere bekriegt, entstehen Jammer und Leid, die vermieden werden könnten, wird Kraft unnütz vergeudet, die sich auf die Bekämpfung der Übel allein richten sollte, die aus der Natur für uns entspringen.

Kommt schweres Leid, bittere Krankheit an uns heran, so trösten wir uns damit, dass unser Leben vergänglich ist und dass der Tod nicht bloß den Freuden, sondern auch den Leiden des Lebens ein Ende macht.

Wir halten uns an das Gute und Schöne, das wir haben erleben dürfen, und suchen auch anderen Freude und nicht Leid in ihr kurzes Leben hineinzutragen. Die Betrachtung der Natur, das Nachdenken über das unermessliche Weltall bewahrt uns davor, die eigene Person zu wichtig zu nehmen und erfüllt uns mit hohen und klaren Gedanken, die uns davor behüten, niedrig gesinnte, rohe und gemeine Menschen zu werden.

Der Mensch ist für die heutige Wissenschaft nicht mehr ein gefallener Sünder wie der sagenhafte Adam nach der jüdisch-christlichen Überlieferung, sondern ein Wesen, das sich aus niederen, wahrscheinlich tierischen Anfängen zu seiner jetzigen immer noch bescheidenen Höhe entwickelt hat. Menschen hat es wahrscheinlich schon seit 2 bis 3 Millionen Jahren gegeben, man hat in den Erdschichten die zur Tertiärzeit (eine Periode der Erdgeschichte, die nach Schätzung mancher Gelehrter einen Zeitraum von 3 Millionen Jahren umspannt) roh bearbeitete Feuersteine, so genannte Eolite (Steine der Morgenröte der menschlichen Kultur) gefunden, die beweisen, dass damals schon mit Verstand begabte Menschen gelebt haben müssen. Denn ein Affe kann zwar
einen  Stein  als  Waffe oder zum Aufschlagen von Nüssen benutzen, er wird ihn aber nie künstlich bearbeiten. In dem auf die Tertiärzeit folgenden Diluvium, der Eiszeit, haben Menschen gelebt, die noch ein ziemlich tierisches Gepräge trugen. Ihre Stirn war niedrig und schräg zurückliegend, das Kinn nicht vorspringend, wie beim heutigen Menschen, sondern nur schwach ausgebildet, über den Augen befanden sich starke Knochenwülste, der Gehirnraum betrug 1230 Kubikzentimeter (beim Menschenaffen 600, beim heutigen Europäer 1400). Solche Skelettreste hat man zuerst 1856 im Neandertal bei Düsseldorf, später auch in Belgien, Frankreich und Kroatien gefunden, woraus man mit Recht schließen darf, dass solche Menschen, die man nach den ersten Knochenfunden als Neandertalrasse bezeichnet, damals über ganz Europa verbreitet waren. Wenn man diese Menschen sich vorstellt, kann man begreifen, dass viele ernste Forscher vermuten, dass die Vorfahren des Menschen im Tierreich zu suchen seinen, dass namentlich Mensch und Affe vor mehreren Millionen Jahren einmal einen gemeinsamen Vorfahren gehabt haben.

Besonders bedeutungsvoll ist es, dass Mensch und Affe blutsverwandt sind, wie durch den Forscher Friedenthal nachgewiesen wurde. Der holländische Militärarzt Dubois hat 1891/92 auf der Insel Java einen Oberschenkelknochen, ein paar Zähne, ein Stück Unterkiefer und ein Schädeldach von einem Wesen gefunden, von dem er behauptete, dass es ein Mittelglied zwischen Mensch und Affe dargestellt habe, besonders, da der Gehirnraum desselben 850 Kubikzentimeter betrug (also weniger als beim Neandertaler, mehr als beim Menschenaffen).

Da es aber auf der Erde eine Zeit gab, wo auch noch keine Affen da waren, so sind die Vorfahren von Mensch und Affe wahrscheinlich in noch niedereren Lebewesen zu suchen, über die man heute freilich nur Vermutungen hat.

Ernst Haeckel hat darauf hingewiesen, dass die Entwicklung, die der Mensch im Laufe von Jahrmillionen gemacht hat, sich noch einmal in kürzester Zeit bei dem Embryo, dem Keim im Mutterleib, wiederhole. Nun ist nach Bölsche auch der Embryo des Menschen auf gewisser Stufe mit Kiemenspalten am Hals und Flossenplättchen an Stelle der späteren Arme und Beine versehen, also steckte auch der Mensch einmal im Fisch.

Die Abstammung des Menschen erklärt uns auf der einen Seite die sittliche Unvollkommenheit des Menschen, welche die christliche Lehre fälschlicherweise als eine selbstverschuldete Sündhaftigkeit auffasst. Die Rohheit, Wildheit, Zügellosigkeit, Grausamkeit, die heute noch beim Menschen in stärkerem oder schwächerem Maße sich finden, sind ein Erbteil seiner tierischen Vergangenheit. Wir alle haben in uns mehr oder weniger solche schlimmen Eigenschaften zu bekämpfen. Auf der anderen Seite  sehen wir  aber, dass der Mensch, der seinem Verstand nach über das Tier erhaben ist, auch in sittlicher Beziehung weiterhin die Kraft hat, sich zu beherrschen und ein guter Mensch zu werden. Denn es finden sich in ihm ja nicht bloß jene tierischen Züge, sondern auch Güte, Liebe, Freundlichkeit, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit. Diese Eigenschaften, von denen sich zum Teil schon im Tierreich Ansätze finden, zeichnen den Menschen besonders aus, nur wer sie pflegt, dient dem wahren Fortschritt der Menschheit. Denn was hilft uns alle äußere Zivilisation, was nützen alle Entdeckungen und Erfindungen, wenn die sittliche Rohheit dabei fortbesteht! Wenn der Mensch aus tierischen Anfängen zu seiner jetzigen Höhe sich empor entwickelt hat, so ist es gut möglich, dass aus dem Menschen noch einmal im Laufe von weiteren Jahrmillionen ein Wesen hervorgeht, das auch den heutigen Menschen weit überragt. Wir wissen freilich nichts Bestimmtes darüber, auch die seitherige Entwicklung des Menschen können wir ja nur erkennen, nicht restlos erklären und begreifen. Jedenfalls macht uns die neuzeitliche Auffassung des Menschen als eines in der Entwicklung begriffenes Wesen mehr Mut zu sittlichem Streben als die christliche.

Falsch wäre es deshalb zu meinen, dass die Wissenschaft der Sittlichkeit das Fundament entzieht. Sie baut sie vielmehr auf besserer Grundlage auf. Die moderne Theologie lässt allerdings keinen Zweifel darüber, dass die alten zehn Gebote nicht von einem Gott auf dem Berge Sinai dem Moses gegeben wurden, sondern von Moses selbst oder noch wahrscheinlicher aus einer späteren Zeit herstammen.

Kein vernünftiger Mensch wird aber darum den Inhalt jener Gebote für töricht halten, sondern wird zugeben, dass die meisten derselben nur Forderungen enthalten, die für den Bestand der menschlichen Gesellschaft notwendig sind. Wer das einsieht, wird auch ohne den Glauben, dass ein Jahve diese Gebote gegeben hat, den Gedanken zustimmen, die in den sieben letzten ausgesprochen sind. Die ersten drei mit ihren religiösen Voraussetzungen kommen für uns nicht in Betracht. Befolgt aber jemand die Gesetze nicht, die für den Bestand des Staates notwendig und in primitiver Form in jenen alten Geboten ausgesprochen sind, so muss er zu ihrer Beachtung gezwungen oder unschädlich gemacht werden, wie das ja im modernen Staat längst geschieht.

Das fünfte Gebot heißt: Du sollst nicht töten. Nur dann können wir ein ruhiges Leben führen, wenn wir vor anderen Menschen sicher sind, wenn wir wissen, dass der Staat es verhindert, dass ein Mensch aus Mutwillen, Bosheit und Grausamkeit uns an Leben und Gesundheit schädigen kann. Und wir unterstützen den Staat, an den wir solche Ansprüche stellen, bei seiner schweren Aufgabe am besten dadurch, dass wir selbst alles vermeiden, was das Leben anderer bedroht. Namentlich junge Leute müssen sich in acht nehmen, das sie nicht durch leichtsinniges  Hantieren  mit  Schießwaffen, durch Ausgelassenheit  bei Sport und Spiel, in Jähzorn oder Trunkenheit anderen einen Schaden an Leib und Leben zufügen. Es ist ein für das ganze Leben niederschmetternder und furchtbarer Gedanke, wenn man z. B. durch seinen Leichtsinn daran schuld geworden ist, dass ein anderer sein Augenlicht eingebüßt hat.

Das sechste Gebot lautet: Du sollst nicht ehebrechen. Die heutige Einehe ist nicht von einem Gott eingesetzt, sondern das Produkt einer langen Entwicklung. Nach Ansicht von Kulturhistorikern der Gegenwart bildet sie sich auf Grund des Privateigentums, das rechtmäßige Erben verlangte. Es ist gewiss ein Mangel, dass die meisten Männer infolge wirtschaftlicher Verhältnisse erst spät heiraten können und dass viele Mädchen infolge des Frauenüberschusses, der durch den Krieg verschärft wurde, keinen Mann finden. Daher kommen die Prostitution und die freien Verhältnisse außerhalb der Ehe, die diese doch niemals ersetzen können und in gesundheitlicher und wirtschaftlicher Beziehung viel Schaden stiften. Deshalb muss es das Ziel jedes jungen Mannes und jedes jungen Mädchens sein, die Einehe zu schließen, die nur aus schwerwiegenden Gründen wieder aufgelöst werden kann. Im Interesse der eigenen Gesundheit und des inneren Seelenfriedens muss man jedem raten, sich von der Prostitution und dem freien Verhältnis fernzuhalten.

Ist aber jemand doch vom Ziel abgeirrt, so liegt es uns fern, ihn lieblos zu verurteilen, sondern wir wollen ihm helfen und ihm wieder einen besseren Weg zeigen. Ist jemand durch Verkehr außerhalb der Ehe krank geworden, so soll er sofort einen Arzt aufsuchen, dann allein hat er Aussicht auf völlige Heilung.

Wenn dem Verhältnis zweier junger Leute außerhalb der Ehe ein Kind entsprossen ist, so muss der junge Mann für dieses Kind nach Kräften sorgen, andernfalls ist er mit Recht als ehrlos zu betrachten. Ein Mädchen, das ein Kind geboren hat, wird von allen vernünftigen und guten Menschen anerkannt werden, wenn es für sich und sein Kind den Kampf mit dem Leben aufnimmt.

Eine Ehe kann nur glücklich sein, wenn Mann und Frau sich verstehen und sich Treue halten. Kommt eine Eheirrung vor, so wird es in vielen Fällen das beste sein, wenn Mann und Frau im Frieden auseinander gehen, denn durch Vorwürfe, Streit oder gar Totschlag kann das, was geschehen ist, nicht mehr geändert und gebessert werden.

Aber ein edler Mensch kann auch dem schuldigen Teil verzeihen und die Gemeinschaft wieder aufnehmen, wenn er sieht, dass diesem seine Verfehlung leid ist. Der Staat wird stets darüber wachen, dass das Verhältnis von Mann und Frau nicht der Willkür des Einzelnen preisgegeben ist, sondern dass im Interesse der kommenden Generation beide Teile die Pflichten auf sich nehmen, die ihr Bund ihnen auferlegt. Darum muss,  um der Prostitution und  den freien Verhältnissen zu steuern, das Eingehen der Ehe erleichtert werden. Die Scheidung kann aber nicht dem persönlichen Ermessen überlassen werden, sondern darf nur auf Grund dauernder Abneigung oder einer Schuld erfolgen.

Das siebente Gebot sagt: Du sollst nicht stehlen. Es schadet einem begüterten Manne bestimmt wenig, wenn ich ihm eine Kleinigkeit entwende, ich selbst aber kann meine persönliche Freiheit, die Achtung meiner Mitmenschen, mein gutes Gewissen dabei verlieren. Es ist zweifellos ein Unrecht, dass auf der einen Seite oft unverdienter Überfluss, auf der anderen bitterer Mangel herrscht, aber nur die Gesellschaft kann z. B. durch scharfe Steuergesetze, durch Sozialisierung vieler Betriebe hier einen Ausgleich schaffen. Wenn der Einzelne aber auf eigene Faust das Besitztum des anderen anzutasten wagt, so entsteht ein Chaos und allgemeine Unsicherheit. Darum kann keine Gesellschaft den Diebstahl dulden. Hoffentlich erleben wir einmal eine Gesellschaftsordnung, welche die Gründe zum Diebstahl aufhebt.

Diese Beispiele zeigen, dass auch wir modernen Menschen alte Gebote, aus denen langjährige Erfahrung spricht, nicht achtlos beiseite werfen, weil wir ihre religiöse Sanktion nicht mehr anerkennen, sondern sie nur neu zu begründen suchen.

Im Übrigen sei daran erinnert, dass auch bei anderen Völkern Könige oder Religionsstifter ähnliche Gesetze erlassen haben, wie sie dem Gott Jahve im Alten Testament zugeschrieben werden. Der babylonische König Hammurabi, der 2250 Jahre vor Christus lebte, erließ Gesetze, durch die Ehe und Familienleben geschützt, die Stellung der Kinder und der Bediensteten bestimmt, Raub, Mord, Diebstahl, Ehebruch mit Strafen bedroht wurden.

Der Chinese Konfuzius (550 v. Chr.) lehrte: „Was du nicht wünschest an dir getan, das tu auch nicht den Anderen!“ (vergleiche das oben erwähnte Jesuswort Matth. 7,12).

Buddha verbot Mord, Diebstahl, Ehebruch, Trunksucht, Lüge und empfahl Mitleid mit allen lebendigen Wesen. Nach seiner Ansicht wird der Mensch vor Lieblosigkeit bewahrt bleiben, der von jedem anderen Wesen denkt: „tat twam asi“, das heißt „das bist du!“.

Man sieht also deutlich, dass die Wissenschaft die Grundlagen wahrer Religion und Sittlichkeit besser stützt als eine sagenumwobene religiöse Überlieferung:

Nun sieht man mit der Zeiten Strome

des Zwanges finstre Mächte fliehn,

und an der Stelle ihrer Dome

die Saaten der Erkenntnis blühn.

Der ew’ge Geist will nicht vernichten,

will nur die Macht des Irrtums lichten;


 

wo er das Alte lässt vergehn,

da soll das Neue sich gestalten,

zum Besseren herrlich sich entfalten,

da soll ein neuer Bau erstehn.

In dieses Geistes Lichte wandeln,

ist jedes freien Denkers Pflicht,

und wohl ihm, wenn zugleich sein Handeln

für seines Herzens Reinheit spricht.

So lasst uns denn mit frohem Mute

fürs Wahre, Rechte, Schöne, Gute

nach besten Kräften tätig sein,

mit allen, die es redlich meinen,

als wack´re Streiter uns vereinen,

zum Kampfe gegen Trug und Schein.

 

 

4.              Die Religion ist für uns die innerste Angelegenheit des menschlichen Herzens, deshalb verwerfen wir jeden Glaubens- und Gewissenszwang.

In der katholischen Kirche herrschte strenger Glaubenszwang. Nur die Juden wurden vom mittelalterlichen Staate geduldet, alle anderen so genannten Irrgläubigen und Ketzer dagegen als strafbare Verbrecher behandelt. Die „heilige Inquisition“ war ein zur Verfolgung und Bestrafung der Ketzer eingesetztes Gericht der katholischen Kirche. Die Verdächtigen wurden verhaftet, ins Gefängnis geworfen, gefoltert und wenn schuldig befunden, der weltlichen Macht zur Abstrafung, gewöhnlich zur Todesstrafe, übergeben.

Im Augsburger Religionsfrieden von 1555 wurde bestimmt, dass das Augsburgische Bekenntnis neben dem katholischen im Reich als gleichwertig anerkannt werden sollte, aber nur nach dem Grundsatz cuius
regio, eius religio (wessen Gebiet, dessen Religion). In den kurfürstlichen Territorien hatte also der Landesherr, in den Reichsstädten der Rat das Recht, über das Bekenntnis zu entscheiden. Wollte ein Untertan
oder Bürger sein Bekenntnis wechseln,  so war es ihm erlaubt,  in ein Land oder in eine Stadt auszuwandern, die seinen Glauben hatten. Für andere Bekenntnisse als das protestantische oder katholische kannte auch die Reformation keine Duldung.

Im Westfälischen Frieden von 1648 wurde der Augsburger Religionsfriede auch auf die Reformierten ausgedehnt. Erst unter dem Einfluss der Aufklärung wurde der Staat gegen die verschiedenen Bekenntnisse wirklich duldsam und begriff, dass es nicht seine Aufgabe sei, sich von der  Kirche zu  ihren Zwecken  missbrauchen zu lassen,  dass er nur um das weltliche, nicht aber um das geistliche Wohl seiner Untertanen sich zu kümmern habe. Friedrich der Große sagte 1740, dass in seinen Staaten ein jeder nach seiner Fasson selig werden könne.

Im modernen Staat sind alle Religionen und Bekenntnisse grundsätzlich zugelassen, soweit sie nicht gegen die staatlichen Gesetze und die herrschenden sittlichen Gebote sich wenden.

In Preußen wurde 1850 wenigstens prinzipiell die völlige Glaubens- und Gewissensfreiheit verkündet:

„Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religionsgesellschaften und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religionsausübung wird gewährleistet. Der Genuss der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen.“

(Art. 12 der Verfassung von 1850)

Und in dem später als Reichsgesetz eingeführten Gesetz des Norddeutschen Bundes vom 3. Juli 1869 wurde festgesetzt:

Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hiermit aufgehoben. Insbesondere soll die Befähigung zur Teilnahme an der Gemeinde- und Landesvertretung und zur Bekleidung öffentlicher Ämter vom religiösen Bekenntnis unabhängig sein.“

Die Gewissens- und Religionsfreiheit bestand also schon vor der staatlichen Umwälzung in Deutschland, wenn man diese Gesetze ansieht; in Wirklichkeit aber war sie beschränkt. Offiziere, höhere Beamte und namentlich Volksschullehrer, die genötigt waren, christlichen Religionsunterricht zu erteilen, konnten es nicht wagen, aus der Kirche auszutreten. Nicht überall wurde der freireligiöse Unterricht als Ersatz für den schulplanmäßigen Religionsunterricht anerkannt. Ungefähr 3800 Kinder empfingen nach Tschirn einen Unterricht, der sie vom Konfessionsunterricht der Schule dispensierte, rund 1800 freireligiöse Kinder mussten diesen besuchen. Die Entscheidung über den freireligiösen Unterricht war dem Ermessen der einzelnen Regierungspräsidenten überlassen. Auch Freireligiöse, Freidenker und Monisten waren gezwungen, beim Zeugeneid vor Gericht, beim Fahneneid als Soldat das Bekenntnis zu einem Gott abzulegen, trotzdem sie offen erklärten, dass sie den Glauben an ein solches göttliches Wesen ablehnen.

Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 besagt, dass alle Bewohner des Reiches volle Glaubens- und Gewissensfreiheit genießen (Art. 135).


 

Der Genuss bürgerlicher und staatsbürgerlicher Rechte sowie die Zulassung zu öffentlichen Ämtern sind unabhängig von dem religiösen Bekenntnis. Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesformel gezwungen werden (Art. 136).

Der Austritt aus der Kirche ist in der Weise erleichtert, dass eine persönliche Austrittserklärung bei dem Gerichtsschreiber des zuständigen Amtsgerichts genügt. Kosten für das Verfahren werden nicht erhoben. Eine Austrittsbescheinigung wird auf Verlangen ausgestellt. Kirchensteuern dürfen nur noch bis zum Schluss des laufenden Kalenderjahres erhoben werden.

Lehrer und Kinder werden auf eigenen bzw. elterlichen Wunsch von der Erteilung bzw. dem Besuch des Religionsunterrichts befreit, auch dort, wo kein freireligiöser Religionsunterricht gegeben werden kann. Unsere Gemeinde kann eine öffentlich-rechtliche Kooperation werden und ist damit den alten Kirchen gleichgestellt. Noch ist die Entfernung des Religionsunterrichts aus der Schule zu erstreben, der den religiösen Gemeinschaften überlassen werden soll. Solange er als ordentliches Lehrfach in den Schulen bleibt, genießt die christliche Weltanschauung einen unberechtigten Vorzug.

Mit allem Nachdruck muss auch darauf hin gewirkt werden, dass jeder junge Mann und jedes junge Mädchen in einem bestimmten Lebensalter selbst darüber entscheiden, welcher Religionsgemeinschaft sie sich anschließen wollen. Natürlich haben die Eltern stets das Recht, ihre Kinder in ihrer Religion zu erziehen, aber kein junger Mensch darf z. B. mehr als Mitglied der protestantischen Kirche gelten, bloß weil er zufällig von protestantischen Eltern geboren ist. In unserer freireligiösen Gemeinde gelten nur die Gemeindekinder als Mitglieder, die einige Jahre nach der Schulentlassung sich als solche anmelden.

Die freireligiösen Gemeinden haben von jeher den Grundsatz der freien Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten gemäß der eigenen fortschreitenden Erkenntnis vertreten. Wie sie selbst gegen jeden Glaubens- und Gewissenszwang sich gesträubt haben, so haben sie auch nie versucht, anderen ihre Meinung aufzudrängen.

Wir lehnen die christliche Religion und Weltanschauung ab, doch bekämpfen wir sie ruhig und sachlich, ohne Hass und Spott. Wir haben es bloß für ein Unrecht gehalten, dass diese Weltanschauung seither im Staat immer noch bevorzugt wurde, während ihre überzeugten Anhänger doch stark zusammen geschmolzen sind und viele nur deshalb bei der Kirche bleiben, weil sie zufällig in sie hinein geboren wurden. Jede Überzeugung, die einem anderen heilig ist, achten wir, wir verlangen diese Achtung aber auch für unsere Bestrebungen. Nur auf diesem Wege  werden  wir  in   Deutschland  bei  allem  Kampf  der  Weltanschauungen einen edlen Wettstreit in religiöser Beziehung erleben gegenüber den furchtbaren Religionskriegen und dem oft gehässigen Kampf vergangener Zeiten.

Sei gegrüßet, sel´ge Zeit,

wo die Träume Wahrheit werden,

und von Wahn und Hass befreit,

Friede herrsche rings auf Erden!

Lange harrten wir schon dein,

großer Morgen brich herein!

Brich herein mit Himmelsglanz!

Ach, es waren bange Stunden,

wo verwirrt, verloren ganz

wir uns schlugen blut´ge Wunden!

Komm, o komm, wir harren dein,

Tag der Liebe, brich herein!

Heil uns, Heil! Ein neu Geschlecht

wandelt dann in allen Zonen,

Wahrheit, Freiheit, Menschenrecht,

eint der Völker Millionen!

Darum komm, wir harren dein,

Tag der Wahrheit, brich herein!                               Karl Scholl

 

5.              Die Bibel achten wir als die Urkunde der jüdischen und christlichen Religion, wir sehen in ihr aber ein menschliches, kein göttliches Buch, daher besitzt sie für uns keine Autorität in religiösen oder sittlichen Dingen.

Die Bibel (= das Buch) zerfällt in zwei Teile, in das Alte und Neue Testament (= Bund). Die Christen nennen die Bibel Heilige Schrift oder Wort Gottes.

Das Alte Testament handelt von der Geschichte und vom Glauben der Juden.

Die Geschichtsbücher des Alten Testaments (die fünf Bücher des Moses, das Buch Josua, das Buch der Richter, die zwei Bücher Samuelis, die zwei Bücher der Könige, die zwei Bücher der Chronika, die Bücher Esra und Nehemia, Ruth und Esther) erzählen zuerst die jüdischen Sagen der Urzeit, dann die Geschichte der Juden von ihren Stammvätern (den Patriarchen) ab bis zur Rückkehr des Volkes aus der babylonischen Gefangenschaft.

Die Lehrbücher (das Buch Hiob, der Psalter, die Sprüche Salomonis, der Prediger Salomo, das Hohelied Salomonis) schildern die Frömmigkeit des Volkes, also sein Verhältnis zu Jahve.

Die  prophetischen Bücher (Jesaias, Daniel, Hesekiel und 12 kleine Propheten) enthalten die Aufzeichnungen der Propheten, begeisterter Verkünder der Gnade oder des Zornes Jahves, die angeblich in seinem Namen das Volk lehrten, warnten, trösteten, ihm Jehovas Gerichte androhten und weissagten, dass vom Himmel dereinst ein Messias, ein von Jahve gesalbter König, kommen werde, um das geknechtete Judenvolk von seinen Feinden zu befreien und es zum ersten Volk der Erde zu machen. Dieser Messias ist niemals gekommen, und auf Jesus, auf den die Christen die alttestamentlichen messianischen Weissagungen beziehen wollten, passen diese nicht.

Das Alte Testament ist ursprünglich in hebräischer Sprache geschrieben. Unter dem ägyptischen König Ptolemäus Philadelphus wurde 280 v. Chr. eine griechische Übersetzung des Alten Testaments begonnen, die den Namen Septuaginta (= 70) führt. Einer alten Fabel zufolge sollen 70 Männer, ein jeder für sich, die fünf Bücher Moses übersetzt haben, bei der Vergleichung habe sich gezeigt, dass die Übersetzungen wörtlich übereinstimmten. Diese Sage, die eine göttliche Inspiration (Eingebung) beweisen sollte, wurde später auch auf die anderen Bücher desselben ausgedehnt.

Das Neue Testament umfasst 27 Schriften. Es ist ursprünglich in griechischer Sprache geschrieben. Eine lateinische Übersetzung der ganzen Bibel ist von dem Kirchenvater Hieronymus in Bethlehem (383 – 407 n. Chr.) abgefasst worden. Sie heißt Vulgata (die allgemein verbreitete). Luther hat 1522 das Neue Testament ins Deutsche übersetzt, 1534 erschien seine erste vollständige deutsche Bibelübersetzung, der er immer wieder neue verbesserte folgen ließ. Sie ist mit großem Fleiß, gewaltiger Gelehrsamkeit und in schöner Sprache verfertigt, weist aber nach dem Urteil der Gelehrten noch mancherlei Mängel und Irrtümer auf.

Zu den Geschichtsbüchern rechnet man die vier Evangelien Matthäus, Markus, Lukas, Johannes. Sie heißen so, weil sie nach dem Glauben der Christen die „frohe Botschaft“ von der göttlichen Gnade dem sündigen Menschen verkünden. Sie erzählen das Leben und die Reden Jesu. Die Apostelgeschichte schildert die Entstehung und Entwicklung der christlichen Gemeinden und besonders die Wirksamkeit der beiden großen Apostel Petrus und Paulus. Die Lehrbücher bestehen aus den 13 Briefen des Paulus und den so genannten katholischen Briefen, die so heißen, weil sie nicht an eine bestimmte Einzelgemeinde, sondern an die Allgemeinheit gerichtet sind. Als prophetisches Buch gilt die Offenbarung Johannis, die angebliche göttliche Offenbarungen über die Endzeit der Welt enthält.

Nach Zittel besitzen wir von keinem biblischen Buch noch das von dem Verfasser geschriebene Original oder auch nur eine Abschrift, die demselben vollständig gleicht.


 

Jede neue Abschrift, wie sie vor der Erfindung der Buchdruckerkunst zur Vervielfältigung notwendig war, brachte auch neue Fehler mit sich durch Überspringung von Wörtern und Sätzen, durch absichtliche Einschiebungen. Der Wortlaut der hebräischen Bibel wurde 500 n. Chr. von den jüdischen Schriftgelehrten festgesetzt, während die von verschiedenen Verfassern verschiedener Zeiten herrührenden Schriften sich über einen Zeitraum von über 1300 Jahren verteilen.

Die ältesten Handschriften des Neuen Testaments sind der in Rom befindliche Codex Vaticanus, der Sinaiticus in Petersburg und der Alexandrinus in London, die nach Ansicht der Gelehrten aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. stammen. Die neutestamentlichen Schriften sind zwischen 50 und 150 n. Chr. entstanden. Von Jesus sind keine schriftlichen Aufzeichnungen vorhanden, die Berichte über seine Worte und Taten widersprechen sich begreiflicherweise vielfach, weil sie erst lange nach seinem Tode abgefasst wurden.

Außer den im Neuen Testament heute vorhandenen Schriften waren in den ersten Jahrhunderten n. Chr. noch manche Darstellungen der urchristlichen Zeit vorhanden. Auf den Kirchenversammlungen zu Nicäa 325 und zu Laodicäa 368 n. Chr. wurden die jetzt in der Bibel enthaltenen neutestamentlichen Schriften als die besten ausgewählt und seit 400 wurde in der ganzen Christenheit dieses Neue Testament als Richtschnur (Kanon) des Glaubens angesehen.

Wir sehen also, dass die Bibel auf ganz natürliche Weise entstanden ist. Sie ist ein gewaltiges Kulturdokument, das einen Zeitraum von 1350 vor bis 150 n. Chr. umfasst. Die meisten Christen haben heute den Glauben aufgegeben, dass die Bibel wörtlich von einem Gott den Schriftstellern inspiriert sei, denn sie enthält viel Irrtümer und Widersprüche.

·  Im 1. Buch Mose wird z. B. erzählt, dass Adam und Eva zwei Söhne gehabt haben, Kain und Abel. Kain habe den Abel erschlagen und sei in ein anderes Land geflohen, wo er ein Weib genommen habe. Woher soll denn dieses Weib kommen, da nach der Sage doch Adam, Eva, Kain und Abel die einzigen Menschen auf der Erde waren?

·  Bei Johannes 1, 18 heißt es: „Gott hat keiner je gesehen“, aber im Alten Testament wird berichtet, dass dieser Gott Adam, Abraham, Moses erschienen sei.

·  Nach den ersten drei Evangelien ist Jesus an einem Freitagnachmittag gestorben, nach dem Johannisevangelium an einem Donnerstag.

·  Nach Matthäus 28, 16 ff. ist Jesus in Galiläa auf einem Berg nach seiner Auferstehung seinen Jüngern zum letzten Mal erschienen, nach Lukas 24, 50 ff. ist er von Bethanien bei Jerusalem in den Himmel gefahren (vergl. Apostelgeschichte 1, 9).

Viele Christen, welche den Glauben an eine wörtliche göttliche Inspiration der Bibel haben fallen lassen, meinen, nur die wichtigsten Lehren der Propheten, des Jesus und der Apostel seien von oben eingegeben.

Aber das ist eine bloße Vermutung, die nicht bewiesen werden kann. Die Propheten, Jesus und die Apostel haben nur ihre eigenen Gedanken über Gott, Mensch, Welt, Jenseits verkündet. Die Wunder, die zum Beweis ihrer göttlichen Sendung erzählt werden, können von uns heutigen Menschen nicht mehr geglaubt werden und werden auch von vielen Christen zurück gewiesen. Wir müssen also prüfen, ob wir das noch glauben können, was jene Menschen über Gott, Mensch, Welt und Jenseits gedacht haben, oder ob wir noch die religiösen Erfahrungen machen können, die sie gehabt zu haben wähnten.

Wir Freireligiösen verneinen beides. Die Welt können wir zwar nicht enträtseln, aber sie macht uns nicht den Eindruck, dass sie von einem allgütigen und allweisen Gott regiert wird. Den Menschen halten wir nicht mehr für einen verlorenen Sünder, sondern für ein der Entwicklung begriffenes unvollkommenes Wesen. Für das Dasein einer anderen Welt vollends gibt es keinen Beweis.

Wenn wir somit der Bibel völlig frei gegenüber stehen und deutlich betonen, dass sie für uns keine Autorität in religiösen oder sittlichen Dingen besitzt, d. h. dass wir uns von ihr sowenig als von einem katholischen Papst vorschreiben lassen, was wir glauben und tun sollen, so verkennen wir doch nicht, dass sowohl im Alten als im Neuen Testament sich viele Worte finden, die eine tiefe Lebensweisheit enthalten (vgl. besonders die Sprüche Salomons und den Prediger im Alten Testament, mache Reden und Gleichnisse Jesu im Neuen Testament). Den Glauben der biblischen Männer und Schriftsteller teilen wir nicht, aber wir sehen aus ihren Glaubensvorstellungen, was sie selbst für Menschen gewesen sind und danach fällen wir unser Urteil über sie und die einzelnen Schriften in der Bibel.

Die neutestamentliche Gottesvorstellung steht im Allgemeinen höher als die alttestamentliche. Die höchste Stufe erreicht hier Jesus. Weil er selbst ein gütiger und freundlicher Mensch war, stellt er sich seinen Gott als einen barmherzigen Vater vor (vgl. besonders Luk. 15, 11 ff. das Gleichnis vom verlorenen Sohn). Freilich scheinen auch bei Jesus andere Gottesvorstellungen von Einfluss gewesen zu sein, da er in der ihm zugeschriebenen Rede vom jüngsten Gericht, Matth. 25, 41 und 46, von einer ewigen Verdammnis für die Bösen spricht. Nun können wir uns gut vorstellen, dass ein frommer Mensch an einen Gott glaubt, der die bösen Menschen bestraft, aber er müsste doch selbst erkennen, dass ein Gott, der auch die schlimmsten Bösewichter ewig peinigt, grausam und herzlos wäre und von keinem guten Menschen geliebt und geachtet werden könnte, auch wenn man gegen seine Allmacht nichts zu unternehmen vermöchte.

Eine niedrigere Gottesvorstellung zeigt der Apostel Paulus im Römerbrief 9, 18, wo er sagt, dass Gott sich nach Willkür der einen Menschen erbarme, während er [sich gegen] die anderen verhärte.

Eine edle Gottesvorstellung findet sich z. B. in Psalm 103, 8 ff.: „Barmherzig und gnädig ist Jahve, langsam zum Zorn und reich an Huld.“

Sonst werden freilich gerade im Alten Testament dem Gott Jahve Worte und Taten zugeschrieben, die eines Gottes sehr unwürdig wären. Nach 2. Moses 4, 24 ff. überfällt er den Moses in einer Herberge, um ihn zu töten, weil der Sohn des Moses nicht beschnitten ist, eine groteske und lächerliche Gottesvorstellung!

Als ein wilder Kriegsgott wird Jahve bei der Eroberung Kanaans durch die Juden geschildert, bei der furchtbare Grausamkeiten vorkamen, die voll Stolz erzählt werden. So heißt es z. B. bei Josua 10, 40: „So eroberte Josua das ganze Land, das Bergland, das Südland, die Niederung und die Bergabhänge und alle Könige derselben, so dass niemand entkam, und an allem, was lebendig war, vollstreckte er den Bann, wie Jahve, der Gott Israels befohlen hatte.“

Die Juden und die Christen müssten, wenn sie nicht vielfach noch in einer blinden Ehrfurcht vor der Bibel befangen wären, selbst zugeben, dass Grausamkeiten und Scheußlichkeiten dadurch nicht schöner und besser werden, dass sie einem Gott zugesprochen werden und in der Bibel stehen. Sie müssten sich doch selbst sagen, dass ein Gott besser sein müsste als die besten Menschen auf Erden, nicht schlimmer und unbarmherziger als sogar böse Menschen sind. Das wäre gescheiter und ehrlicher, als alle Worte und Taten dieses Gottes verteidigen zu wollen, bloß weil sie in der Bibel stehen.

Die moderne Theologie erkennt allerdings deutlich eine Entwicklung der Gottesvorstellung in der Bibel an und bewertet die einzelnen Stufen derselben verschieden. Wir Freireligiösen sind überzeugt, dass ein wirklich vorhandener Gott niemals die Vorstellungen an sich geduldet hätte, aus denen Scheußlichkeiten geflossen sind. Da das aber nicht geschehen ist, sind wir sicher, dass sämtliche Gottesvorstellungen der Bibel nur Fantasieprodukte  der Menschen sind. Wir können aber von diesem Standpunkt aus die religiösen Vorstellungen der biblischen Männer und der heutigen Juden und Christen achten, die edler Gesinnung entstammen, während wir diejenigen, die dem geläuterten sittlichen Empfinden der Gegenwart entschieden widersprechen, als verwerflich brandmarken.  Für  unsere eigene  Person lehnen wir aber auch  die ersteren vollständig ab.

Das helle Wort der Wahrheit

Gedeih in unsrer Brust,

Dass seiner stets in Klarheit

Wir seien uns bewusst!

Was uns Vernunft gegeben,

Der Wahrheit Brunnenquell,

Nur das soll in uns leben

Und bleiben rein und hell!

 

6.              Von einer Gottheit wissen wir nichts und lehnen darum jeden bestimmten Gottesglauben ab, besonders verwerfen wir den Wunderglauben, der mit der Gesetzmäßigkeit der Natur im Widerspruch steht.

Die Wissenschaft, die Völkergeschichte, unser eigenes Leben zeigen uns nirgends das Eingreifen eines Gottes. Alles, was geschieht, hat natürliche Ursachen. Will jemand in ihnen die Wirkung eines Gottes erblicken, so ist das sein persönlicher Glaube, der für andere weder beweisbar noch widerlegbar ist, sondern höchstens als wahrscheinlich oder unwahrscheinlich hingestellt werden kann.

Wenn eine Mutter z. B. sagt, Gott hat geholfen, dass der Arzt mein krankes Kind  wieder gesund  machen konnte, so ist das ihre persönliche Überzeugung. Andere Menschen werden dabei stehen bleiben, dass die Heilung des Kindes rein natürlich durch die Hilfe des Arztes zu erklären sei und daran erinnern, wie viele Kinder sterben müssen, wenn auch die ärztliche Kunst erschöpft ist. Kein Gott hat sie wieder gesund gemacht, trotzdem ihre Mütter vielleicht heiße Gebete zum Himmel gesandt haben. Nur Wunder können das Dasein eines allmächtigen und allgütigen Gottes beweisen, nicht der natürliche Weltlauf, darin haben die altgläubigen Christen Recht; aber solche geschehen nicht.

In der Natur gibt es für uns Menschen viel Unerklärliches und Staunenswertes, das aber trotzdem natürliche Ursachen haben kann. Ein Wunder aber würde ein Geschehen sein, bei dem natürliche Ursachen zweifellos ausgeschlossen wären. Wenn z. B. ein Mann, der in einem brennenden Haus sich befindet, voll Verzweiflung seinen Gott bitten würde, er möge ihm doch helfen, und das furchtbare Feuer plötzlich ohne die Hilfe der Feuerwehr erlöschen, so wäre das zweifellos ein Wunder. Oder wenn ein verlassenes Kind den Gott bitten würde, er möge ihm doch seine verstorbene Mutter wiedergeben und die Tote käme aus dem Grabe zurück, so wäre das eine wirkliche Gebetserhörung. Aber jeder ehrliche  Mensch muss  zugeben, dass solche Wunder nicht geschehen.


 

Die neugläubigen Christen leugnen das auch nicht, aber sie meinen, dass die Gottheit sich im Naturverlauf offenbare, dass die Naturgesetze die Willensäußerungen Gottes darstellen. Aber so kommt man höchstens zum Glauben an einen allmächtigen Gott ohne Gnade und Barmherzigkeit, denn die Natur fragt nicht nach gut und böse, menschlichem Glück und Unglück.

Die Naturgesetze wirken sich in Erdbeben, Überschwemmungen, Bränden, Hagel, Sturm ebenso aus wie in Sonnenschein und Regen, Fruchtbarkeit der Erde und Schönheit der Naturformen. Einen solchen Gott könnte der Mensch zwar anstaunen, aber nicht lieben und vertrauen.

Aus diesem Grund lehnen wir auch den Pantheismus ab, welcher die Welt als einen Organismus ansieht, in dem Gott als das belebende und beseelende Prinzip gedacht ist, als die Weltseele, der Weltgeist und Weltwille, dessen sichtbare Erscheinung die Welt ist. Große Dichter wie Goethe, bedeutende Denker wie Spinoza und Eduard von Hartmann haben sich, jeder in der ihm eigentümlichen Art, zum Pantheismus bekannt, und wir haben schon oben gesagt, dass auch die Freireligiösen, Freidenker und Monisten dieser Anschauung huldigen. Wir geben gerne zu, dass die Natur für uns Menschen eine unerklärliche, ewig tätige Macht darstellt, aber die Bezeichnung Gottnatur lehnen wir ab, da die menschlichen Begriffe der Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit auf sie nicht passen. Gewiss ist uns heutigen Menschen klar geworden, dass wir uns nicht mehr als den Mittelpunkt der Welt betrachten dürfen, aber diese Erkenntnis kann uns nicht daran hindern, vom menschlichen Standpunkt aus ein Werturteil über die Natur zu fällen und eine anbetende Ehrfurcht vor dem Universum, eine Verehrung des Unerforschlichen von uns zu weisen. Die pantheistische Auffassung des Menschen als einer endlichen Erscheinung Gottes weisen wir ebenso zurück wie die Armsündertheorie des Christentums. Der Mensch ist für uns kein gefallener Sünder, aber auch keine individuell beschränkte Verkörperung Gottes, sondern ein in natürlicher und sittlicher Beziehung ohne seine Schuld unvollkommenes Wesen.

Einen Gott suchen wir in einem Himmel jenseits der Sterne ebenso vergebens wie in der Welt. Für uns freireligiöse Atheisten ist Gott nur das jeweilige höchste sittliche Ideal der Menschheit, das alleine in der Brust des Menschen lebt und in der Welt nur so weit verwirklicht wird, als sich Menschen dafür einsetzen. Auf die Bezeichnung „Gott“ für dieses Ideal legen wir im Übrigen nicht den geringsten Wert.  Wer für die höchsten Ideale seiner Zeit eintritt, ist für uns ein religiöser Mensch, gleichgültig ob er betreffs seiner Weltanschauung sich zum Theismus, Pantheismus oder Atheismus bekennt. Unser eigener Standpunkt in Bezug auf das Gottesproblem aber kommt deutlich in den Worten Baltzers zum Ausdruck:


 

Noch immer herrscht der alte Zweifel,

Noch immer lebt der alte Wahn,

Als seien Gott und auch dem Teufel

Die Menschenseelen untertan;

Als sei ein goldnes Zelt da drüben

Für unsere Zukunft ausgespannt,

Und was hier unerreichbar geblieben,

Das falle dort uns in die Hand.

Aus deinem Innern gehen die Fäden,

Aus denen sich das Schicksal webt;

Der geht durchs Leben schwer beladen,

Der sich nicht selbst zu retten strebt.

Mit frohem Herzen musst du ringen

Und auch dem Schicksal stehn als Mann, -

Was kann der für die Welt vollbringen,

Der sich nicht selbst erlösen kann!

 

7.              Wir lassen uns nicht auf ein Jenseits verweisen, wir Menschen können allein auf dieser Erde nach dem Guten streben und hier unser Glück suchen.

Die meisten Völker des Altertums glaubten an ein Leben nach dem Tode, denn sie gründeten ihre Weltanschauung nicht in dem Maße auf das Wissen wie wir heutigen Menschen, sondern mehr auf das Gefühl und Fantasie.

Schon bei den vorgeschichtlichen Menschen finden sich Spuren des Glaubens an ein Fortleben nach dem Tode. So wurden 1908 bei Moustier in Südfrankreich die Skelettüberreste eines von seinen Genossen bestatteten Jünglings der schon oben erwähnten Neandertalrasse gefunden, dem ein kunstvoll bearbeiteter Faustkeil, ein Steinschaber und mehrere angebrannte Knochen des inzwischen schon lange ausgestorbenen Urstiers beigelegt waren. Dieser Jüngling ist nach der Schätzung mancher Gelehrten vor über 100 000 Jahren bestattet worden. Offenbar glaubten seine Genossen, er brauche Waffen, Werkzeug und Nahrung auch noch in einer anderen Welt.

Man meinte früher, die Seele verlasse im Traum den Leib und erlebe all das wirklich, was wir träumen. Wenn nun ein Mensch gestorben war, dachte man, seine Seele habe für immer den Leib verlassen und sei zu einem anderen Leben eingegangen.

Die alten Ägypter glaubten, dass die Toten vor dem Gott Osiris, dem Herrscher der Unterwelt zum Gericht erscheinen müssen. Die guten Menschen durften bei Osiris bleiben und ein seliges Leben mit ihm führen, die bösen  mussten  auf die Erde zurückkehren, wo sie zur Strafe in Tiere verwandelt wurden, um später einmal von neuem vor Osiris zu erscheinen.

Nach dem Glauben der alten Perser mussten die Toten nach ihrem Ableben über die schmale Cinvatbrücke schreiten. Die Guten gelangen glücklich ins Paradies, während die Bösen in die Hölle hinabstürzen.

Auch die Babylonier glaubten an eine Vergeltung nach dem Tode.

Die alten Deutschen erzählten, dass die auf dem Schlachtfeld gefallenen tapferen Krieger von den Walküren nach Walhalla, dem himmlischen Wohnsitz Odins gebracht werden, wo sie täglich große Kampfspiele veranstalten. Die Wunden, die sie bei diesen Kämpfen sich schlagen, heilen rasch von selbst wieder. Abends finden große Trinkgelage statt, welche unsere Vorfahren schon auf Erden sehr liebten. Die auf dem Krankenbett Gestorbenen kamen in das düstere, traurige Totenreich.

Die alten Inder waren überzeugt, dass wir Menschen alle schon oft auf dieser Erde gelebt haben und in neuer Gestalt nach dem Tode immer wiederkehren müssen. Handeln wir in unserem jetzigen Leben gut, so wird unser Los bei der nächsten Wiederverkörperung ein freundliches sein, während wir böse Taten in unserer kommenden Daseinsform büßen müssen. Der indische Religionsstifter Buddha (500 v. Chr.) erstrebte die Befreiung von jeglicher Wiedergeburt durch innerliche Ertötung des Lebenswillens. Wer frei geworden ist von jeder Selbst- und Weltliebe, darf beim Tode hoffen ins Nirwana, zum ewigen traumlosen Schlaf, einzugehen.

Auffallenderweise glaubten die alten Israeliten zwar an einen Gott, aber nicht an eine Auferstehung der Toten. So sagt z. B. der alttestamentliche Prediger Kap. 3, 19 ff.: „Das Geschick der Menschenkinder und dasjenige des Viehs – dasselbe Geschick haben sie: wie dieses stirbt, so stirbt jener, und einen Odem haben sie alle, und einen Vorzug des Menschen vor dem Vieh gibt es nicht, denn alles ist eitel. Alles geht dahin an einen Ort: alles ist aus dem Staub geworden und alles wird wieder zu Staub. Wer weiß, ob der Geist der Menschenkinder aufwärts steigt, der Geist des Viehes aber zur Erde hinabführt?“ Ebenso Kap. 2, 16: „Von dem Weisen bleibt so wenig ein dauerndes Andenken, wie von dem Toren, da sie in den kommenden Tagen alle längst vergessen sind, und wie stirbt doch der Weise mit den Toren dahin!“ Auch der Prophet Jesaja redet seinen Gott an: „Nicht dankt dir die Unterwelt, nicht preist dich der Tod; nicht harren die in die Gruft Hinabgestiegenen auf deine Treue. Der Lebende, der Lebende – er dankt dir, wie ich heute; der Vater macht den Söhnen deine Treue kund.“

Erst unter dem Einfluss anderer Völker, besonders der Babylonier und Perser, haben die Juden später den Glauben an eine Auferstehung der Toten angenommen, wie er sich z. B. in Daniel 12, 2 zeigt:


 

„Viele von denen, die im Erdenstaube schlafen, werden erwachen, die einen zu ewigem Leben, die anderen zur Schmach und zu ewigem Abscheu.“

Die Christen glauben teils an eine Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag, also am Ende der Welt, wo Christus sie richten und je nach Verdienst für den Himmel oder die Hölle bestimmen werde, teils an eine sofortige Entscheidung über das Schicksal der einzelnen Seele nach dem Tode, die zur Verdammnis oder zur Seligkeit eingehen soll. Der christliche Glaube an ein Leben nach dem Tode gründet sich auf die vermeintliche Auferstehung Jesu.

Viele Anhänger hat heute auch in Deutschland der Spiritismus, der Glaube an das Fortleben der abgeschiedenen Geister (spirits) und ihren Verkehr mit den Lebendigen, der angeblich durch besonders dafür veranlagte Personen, so genannte Medien (Mittelspersonen) stattfindet. Er bedeutet ein Wiederaufleben des alten Glaubens der Neger und Chinesen an eine Fortexistenz der Geister der Toten und ihre dauernden Beziehungen zur Welt der Lebenden. Bei den Chinesen wird heute noch den Vorfahren religiöse Verehrung erwiesen (Ahnenkult).

In den spiritistischen Sitzungen spielen die Geisterklopfsprache, die Geisterschriften, die Geistererscheinungen, die Belehrungen wissenschaftlicher, religiöser und sittlicher Art durch die Geister, allerlei Zauberkunststücke wie fliegende Tische und Stühle eine große Rolle. Die spiritistischen Medien sind schon oft als grobe Betrüger oder Betrügerinnen entlarvt worden. Wo die Absicht der Täuschung fernliegt, beruhen die so genannten Geistererscheinungen wahrscheinlich auf Halluzinationen (Sinnestäuschungen), auf Selbstsuggestion und Fremdsuggestion (Suggestion = geistige Beeinflussung, Gedanken- und Willensübertragung).

Der Glaube an das Fortleben der Geister der Toten und ihre Erscheinungen ist nach wie vor eine unbewiesene Meinung. In den in allen großen Städten Europas vorhandenen theosophischen Gesellschaften (Theosophie = göttliche Weisheit) knüpft man an den altindischen Seelenwanderungsglauben an. Diese Leute behaupten ein geheimes (okkultes) Wissen über frühere und künftige Existenz der menschlichen Seele zu besitzen, das aber mit wirklicher Wissenschaft nichts zu tun hat. Der Seelenwanderungsglaube ist ebenso eine leere Vermutung wie der christliche Glaube an Himmel und Hölle.

Wir Freireligiösen sind überzeugt, das alle Beweise für ein Fortleben nach dem Tode wertlos sind. Man sagte früher z. B., die Seele sei ein einfaches unkörperliches Wesen, das nicht zerstört werden könne. Aber nach Ansicht der heutigen Wissenschaft ist die Seele nicht als „die Gesamtheit der Empfindungen und Vorstellungen, Gefühle und Strebungen“.

Über ein diesen Bewusstseinsvorgängen etwa zugrunde liegendes Seelenwesen können keinerlei Aussagen gemacht werden. Die geistigen Erscheinungen sind ebenfalls ans Gehirn gebunden; wenn uns auch diese Tatsache der Erfahrung nicht weiter erklärlich ist, so besteht doch kein Grund zu der Annahme, dass es auch nach Zerfall des Gehirns noch ein Denken, Wollen und Fühlen geben könne.

Weist man darauf hin, dass so manche Anlagen und Kräfte des menschlichen Geistes in diesem Leben nicht zur vollen Reife gelangen können und dass es deshalb eine Fortentwicklung im Jenseits geben müsse, so ist das nur ein Wunsch, dem keinerlei Beweiskraft innewohnt. Viele fordern ein Jenseits, weil Tugend und Glück sich oft auf Erden nicht entsprechen. Manchen guten Menschen geht es im Leben schlecht, während Betrüger und sonstige gewissenlose Menschen oft zu Reichtum und äußerem Glück gelangen. Aber es muss immer wieder betont werden, dass für ein solch menschlich begreifliches Verlangen nach einer Vergeltung keinerlei Garantien vorhanden sind.

Die Meinung, dass der Glaube an Gott und Unsterblichkeit eine allen Menschen gemeinsame, angeborene Wahrheit sei, ist längst als Irrtum erkannt. Die Auferstehung Jesu kann für die meisten heutigen Menschen keinen Beweis mehr für die Wiederbelebung der Toten bilden, da wir Wunder nicht mehr für wahr halten können. Von untergeordneter Bedeutung ist, dass sich die Auferstehungsberichte des Neuen Testaments deutlich widersprechen.

Der Apostel Paulus sagt 1. Kor. 15, 33: „Stehen die Toten nicht auf, so lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot.“ Es wird aber wohl wenige Menschen geben, denen ein nur der Sinnenlust gewidmetes Leben genügt. Gewiss hat jeder Mensch auch ein Anrecht auf Lebensfreude, und wir, die wir überzeugt sind, nur einmal zu leben, werden stets scharf betonen, dass der Mensch nicht bloß zur Arbeit auf der Welt ist oder vollends um von anderen als Arbeitstier ausgenutzt zu werden, sondern dass in einem gerechten Staatswesen auch jeder das Recht und die Möglichkeit haben muss, am Genuss des Lebens teilzunehmen. Aber dieser Lebensgenuss befriedigt uns nur, wenn wir ihn durch Arbeit und Pflichterfüllung verdient haben, sonst führt er bald zum Lebensekel. Richtige Abwechslung zwischen Arbeit und Erholung erhält lebensfrisch.

Wenn wir an die vielen Jahrmillionen der Erdgeschichte denken und die Millionen Menschen uns vorstellen, die im Laufe der Zeiten über die Erde dahin gegangen sind, so kommt uns unser eigenes kurzes Leben klein und unbedeutend vor, und der Gedanke, dass all diese unzähligen Menschen, die jemals gelebt haben, wieder aus ihren vergessenen Gräbern auferstehen sollten, erscheint uns ungeheuerlich. Wir sind auch fest überzeugt,  dass selbst der beste Mensch  kein ewiges Leben verdienen würde, denn was der Einzelne zum Fortschritt der Menschheit beiträgt, ist ja so wenig und so nichtssagend. Darum ist es für den einzelnen Menschen genug, wenn er dieses Leben mit seinen Freuden und Leiden ausgekostet hat. Wir alle können zur Macht des Guten in der Welt beitragen, wenn wir uns bemühen, ein gutes Leben zu führen, denn dann machen wir anderen über unseren Tod hinaus Mut und Freudigkeit, den Weg zu gehen, den wir ihnen voraus gegangen sind. Haben wir uns bestrebt, zu arbeiten und zu wirken, solange es für uns Tag war, und für das Gute, Wahre und Schöne gekämpft, so können wir einmal ruhig sterben, weil wir wissen, dass wir nicht umsonst gelebt haben.

Besonders tröstlich kann uns der Gedanke sein, dass wir auch gegen andere Menschen recht gehandelt und ihnen Liebe und Barmherzigkeit gezeigt haben, weil wir dann keine Bitternis, sondern ein freundliches Andenken in den Herzen anderer hinterlassen.

Wenn wir unser Leben so stets im Lichte des Todes betrachten, werden wir zur wahren Lebensweisheit gelangen. Die alte Predigt von Himmel und Hölle macht heute auf die meisten Menschen keinen Eindruck mehr, darum ist es wichtig, dass schon die Jugend im Sinne unserer Lebensanschauung unterrichtet wird, damit sie vor dem von manchen törichten Christen genährten Wahn bewahrt bleiben, dass ohne Jenseitsglaube alles edle Streben Torheit sei.

Sind wir davon überzeugt, dass auch unsere Angehörigen nur einmal auf dieser Erde leben, so kann uns das ein ganz besonderer Ansporn sein, ihnen unsere Liebe zu beweisen, solange sie bei uns sind, damit wir ohne innere Vorwürfe an sie denken können, wenn sie vielleicht einmal sterben. Bei ihrem Tod trösten wir uns nicht mit der Hoffnung auf ein Wiedersehen in einer anderen Welt, sondern mit dem Gedanken, dass unsere Abgeschiedenen in unseren Herzen weiter leben. Mit all den lieben Worten, die wir im Leben von ihnen hören durften, mit den Taten, die sie vor unseren Augen gewirkt haben, hat sich ihr unvergessliches Bild uns so fest eingeprägt, dass kein Tod es in unserem Innern zerstören kann. Von dem stillen Bild derer, die das Leben überwunden haben, strömt auch Trost und Friede auf uns über, die wir noch im Leben drin stehen. Und der Abschied vom Leben fällt uns einmal umso leichter, wenn schon Menschen uns voraus gegangen sind, die uns lieb und teuer waren und ein Stück unseres eigenen Wesens mit sich ins Grab genommen haben.

Im Gedanken an den eigenen Tod aber sprechen wir mit der Dichterin:

Wenn ich Abschied nehme, will ich leise gehen,

Denen, die mich liebten, still ins Auge sehn.

Hab so heiß geliebet manchen Erdentag,

Habe froh gestritten mit des Lebens Plag´.

Hab in wenig Seelen eingeglüht mein Bild,


 

Das es nicht verwische Zeit und Sturm so wild.

Will in ihrem Leben unverloren stehn,

Bis sie kampfesmüde auch zur Ruhe gehen.

Mag der Tag sich neigen, kommt der Dämmrung Schein,

Lass die Nacht nur dunkeln, ruhig schlaf ich ein.

E. Gös.

 

8.              Die Geschichte zeigt uns, dass alles Gute, das die Menschheit heute besitzt, durch menschliche Kraft zustande gekommen ist, deshalb können auch wir das Gute, das wir wollen, nur durch unser eigenes sittliches Streben erreichen.

Beim Lesen der seither in den Schulen gebrauchten Geschichtsbücher erkennt man, dass in ihnen die Schilderung von Kriegen einen großen Raum einnimmt. Es mag sein, dass manch äußerer Fortschritt in der Welt durch einen Krieg für ein Volk erzielt worden ist, aber wir würden lieber auf einen politischen oder materiellen Gewinn verzichten, als dass wir ihn durch schlechte Mittel herbei führen möchten. Alle Kriege ohne Ausnahme, die jemals geführt worden sind, sind Schandflecke für die Menschheitsgeschichte, Zeichen tierischer Rohheit und Barbarei, wenn natürlich auch zugegeben werden muss, dass manche Völker wider ihren Willen von anderen in Kriege verwickelt wurden.

Selbst ein Verteidigungs- oder Befreiungskrieg ist ein schreckliches   Übel, mag auch die Schuld auf den Angreifer fallen. Wenn man solche Kriege später verherrlicht, leistet man der Kriegsbegeisterung Vorschub. Die Erinnerungsfeiern an siegreiche Schlachten der Vergangenheit sind eine Schmach für ein zivilisiertes Volk.

Die Meinung wäre aber falsch, dass die Völkergeschichte nichts Besseres aufzuweisen habe, als Krieg und Blutvergießen. Es gibt auch eine Geschichte der menschlichen Kultur, die uns von Fleiß und Vorwärtsstreben, von Entdeckungen und Erfindungen erzählt. Wenn wir heute in festen Häusern bequem wohnen, wenn wir die Eisenbahn benutzen oder auf Brücken gehen, die über breite Flüsse gespannt sind, wenn wir auf gepflasterten Straßen, die Stadt und Land durchziehen, uns bewegen, wenn Telefon und Telegraf uns zu Gebote stehen oder die Post uns einen Brief bringt, der erst vor kurzem von einem Land jenseits des Ozeans abgeschickt wurde, dann geht uns eine Ahnung davon auf, was die Menschen auf der Erde schon alles geleistet haben. Und wir brauchen nicht bloß an die großen Entdecker und Erfinder uns dankbar zu erinnern, wenn wir von menschlicher Kultur sprechen.

Wenn wir in unserem eigenen Haushalt uns umsehen, so erblicken wir da viele Gegenstände, wie Messer, Gabeln, Löffel, Geschirr aller Art, die alle einmal einen unbekannten Erfinder gehabt haben und im Laufe der Zeiten durch  menschliches  Nachdenken  immer  mehr  vervollkommnet wurden. Die ganze Erde ist voll von menschlichen Gedanken, die durch Formung des Stoffes in die Tat umgesetzt wurden. Wenn wir z. B. einen von einem großen Meister erbauten Dom betrachten, so bekommen wir unwillkürlich Ehrfurcht vor dem gewaltigen Menschengeist, der aus dem rohen Material, das die Natur liefert, ein solches Gebäude erstehen ließ. Bei allem Ringen und Kämpfen des Menschen auf dieser Erde ist ihm keine übernatürliche Hilfe zuteil geworden, die ganze geistige und technische Kultur ist ein Wert mühsamer menschlicher Arbeit.

Vielleicht ist der Eine oder Andere von uns auch imstande, in seinem Beruf irgendwelche kleine Erfindung oder Verbesserung einer schon vorhandenen zu machen. Auch der kleinste Fortschritt auf irgendeinem Kulturgebiet ist dankbar zu begrüßen. Aber auch all die Vielen, denen es nicht vergönnt ist, einen äußeren Erfolg ihrer Arbeit aufzuweisen, können durch treue Pflichterfüllung auf ihrem Posten durch Beherrschung ihrer Leidenschaften, durch Kampf gegen menschliche Bosheit, Niedertracht, Gemeinheit und Heuchelei, durch Freundlichkeit und Güte im Verkehr mit den Nebenmenschen der inneren Kultur große Dienste leisten; denn diese besteht nicht in zunehmendem Luxus und angenehmer Bequemlichkeit, in steigender Erleichterung des Verkehrs und Ausnutzung der Naturkräfte, sondern im sittlichen Fortschritt der Menschheit, der sich in Liebe, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Selbstzucht offenbart. All die Menschen, die nicht das Gute wollen, sondern nur den eigenen Vorteil, Genuss, Geld, Macht und Ansehen oft mit bedenklichen Mitteln erstreben, sind ein Hemmschuh wahrer Kultur. Ihnen gegenüber müssen sich alle Menschen, die das Gute wollen, zusammenschließen, damit nicht die Gewaltmenschen, die Profitjäger, die Genussmenschen tonangebend werden.

Ohne innere Kultur ist ja auch die äußere auf die Dauer nicht möglich, denn die letztere kann nur von Menschen gemacht und aufrecht erhalten werden, die Selbstbeherrschung, Pflichterfüllung und Ordnungsliebe besitzen und betätigen. In einem Eisenbahnzug fahren wir ruhig, weil wir voraussetzen, dass der Lokomotivführer ein nüchterner Mann ist, der Verantwortlichkeitsgefühl besitzt. In einem Hotel essen wir gern, wenn wir überzeugt sind, dass der Besitzer darüber wacht, dass uns keine gefälschten Nahrungsmittel als angeblich vorzügliche Speisen vorgesetzt werden. Wir alle wissen, dass wir im Leben auch manchmal belogen und betrogen werden, darum überschätzen wir unsere heutige Kultur nicht. Wir haben nicht die Macht, alle Menschen zu guten Menschen zu machen, aber wir für unsere Person als Freireligiöse wollen in unserem Beruf, in der Familie und im öffentlichen Leben uns als gute Menschen zeigen, um mit unserer Kraft dem Kulturfortschritt zu dienen.

„In diesem gemeinsamen Werke der Menschheit“, sagt der Philosoph Jodl, „ist auch der Kleinste und Geringste groß, denn aus tausend und und tausend Einzelleistungen setzt sich das ungeheure Ganze zusammen, und jeder, der an seiner Stelle das Richtige tut, dasjenige, wozu ihn seine Kräfte befähigen und was die organisierte Gesellschaft braucht, ist wertvoll, ja unentbehrlich. Dies ist das Geheimnis der neuen Religion, der Kultur- oder Menschheitsreligion.“

Hast du ins Herz geschlossen,

Die Heiligkeit der Pflicht,

Dann üb sie unverdrossen,

Dann weich und wanke nicht!

Ob dir gelingt dein Streben,

Darauf kommt wenig an;

Genug, wenn du im Leben

Stets deine Pflicht getan.

Und glaube nicht, es werde

Das Gute nicht gedeihn;

Du musst nur auf der Erde

Recht guten Samen streun.

Zum Segen ist erkoren,

Was der Vernunft entsprang;

Kein Wörtlein geht verloren

Das aus dem Herzen drang.

Eschenbach

 

 

9.              Gut handeln wir, wenn wir wünschen können, dass alle Menschen ebenso handeln möchten wie wir, gut ist, was dem Wohle des Einzelnen und dem der Gesamtheit dient.

Es ist begreiflich, wenn ein Mensch, der etwas verschuldet hat, aus Furcht vor Strafe sein Vergehen abzuleugnen sucht, aber er wird doch selbst nicht wünschen, dass Lüge und Wahrheit allgemein als gleichberechtigt gelten sollen, denn sonst könnte ja keiner mehr dem anderen trauen, und eine große Verwirrung müsste entstehen. Hat jemand im Jähzorn oder aus Eifersucht einen anderen erschlagen, so wird er vielleicht seine eigene Tat zu entschuldigen sich bemühen, aber er wird nicht sagen wollen, der Totschlag müsse erlaubt sein, denn wie furchtbar wäre ein Zustand, wo keiner vor dem anderen seines Lebens sicher wäre. Mancher Kaufmann betrügt seinen Kunden zuweilen mit schlechter Ware, aber wenn er bei seinen eigenen Einkäufen getäuscht wird, sieht er deutlich, wohin wir im Handel und Verkehr kämen, wenn Betrug oder Ehrlichkeit der Willkür des Einzelnen überlassen wären.

Sind  wir dagegen  gütig und  freundlich, so  können wir ruhig wünschen, alle Menschen möchten ebenso sein wie wir. Ein Kaufmann, der seine Kunden reell bedient, kann mit Recht sagen, dass viel Verdruss, Ärger, Enttäuschung und Streit aus der Welt geschafft wären, wenn alle seine Berufsgenossen dieselben Grundsätze hätten wie er. Gelingt es den maßgebenden Staatsmännern zweier Völker, einen Streit im Frieden zu schlichten, so wissen sie, dass unendlich viel Jammer und Herzleid der Menschheit erspart bleiben könnte, wenn bei den maßgebenden Persönlichkeiten immer der ehrliche Wille zum Frieden vorhanden wäre.

Das Wohl des Einzelnen hängt mit dem der Gesamtheit eng zusammen. Wer versucht, durch ein vernünftiges und mäßiges Leben seine Gesundheit zu erhalten, kann seinen Beruf gut ausüben und damit der Allgemeinheit dienen. Verbraucht einer dagegen durch eigene Schuld seine Kräfte vor der Zeit und erspart sich nichts, so fällt er schließlich der Gemeinde oder dem Staat zu Last. Ein Vater und eine Mutter, die ihre Kinder ordentlich erziehen, erweisen diesen den besten Dienst fürs Leben, erleben selbst an ihnen Freude und genießen ein ruhiges Alter im Blick auf die Kinder, die ihnen Ehre machen.

Nicht immer tragen die Eltern die Schuld, wenn ein Kind missrät; aber wenn diese bei der Erziehung schwere Versäumnisse begehen, erleben sie nicht bloß selbst viel Ärger und Verdruss, sondern schädigen die Gesellschaft, die schon genug nichtsnutzige Individuen besitzt.

Ein Gelehrter, der durch seine Forschungen zu neuen Entdeckungen gelangt, erwirbt sich selbst Ruhm und Ansehen und nützt auch der Menschheit, die durch ihn in der Welterkenntnis oder Naturbeherrschung fortschreitet.

In einem Staat, der seinen Bürgern das Recht der politischen Überzeugung und Betätigung, Gewissensfreiheit und Pressefreiheit ohne Hinterhalt gewährt, wird nicht bloß der einzelne Bürger sich wohler fühlen, sondern auch die Regierung wird ihre schwere Aufgabe leichter erfüllen können als in einem Staat, der seine Bürger als Untertanen behandelt, die nur zu gehorchen haben.

Gewiss ist das Glück, das der Einzelne erstrebt, ganz verschieden. Der eine liebt ein gefahrvolles Leben als Hochtourist, Flieger, Sportsmann, der andere ein stilles, zurückgezogenes, beschauliches Dasein. Der Eine liebt Tanz, Musik, fröhliche Gesellschaft, ein anderer schätzt die Einsamkeit höher und zieht die Lektüre von Büchern dem Umgang mit Menschen vor. Mancher fühlt sich an leitender Stelle glücklich, er hat die Gabe, andere zu lenken und zu regieren, ein anderer ordnet sich gerne unter und ist zufrieden, wenn er einen bescheidenen Posten richtig ausfüllen kann.

Die meisten Menschen werden in Liebe und Ehe erstrebenswerte Lebensziele erblicken, es gibt aber auch Menschen, die lieber allein durchs Leben gehen. Jeder muss die Freiheit haben, sein Leben so zu gestalten, dass er von seinem Dasein befriedigt ist, aber er darf dabei nicht fremde Interessen verletzen, rücksichtslos sich selbst durchsetzen oder andere nur als Mittel für seine Zwecke benutzen. Sonst wird sich die Gesellschaft mit Recht gegen ihn kehren und versuchen, ihn unschädlich zu machen. Für das Wohl jedes Einzelnen und der Gesamtheit müssen die höchsten sittlichen Grundsätze von Recht und Billigkeit, von Güte und Wahrhaftigkeit maßgebend sein, welche die Menschheit jeweils erreicht hat.

Welch Ziel du magst erstreben,

Sei’s nah, sei’s hoch und fern,

Weiht nicht die Pflicht dein Leben,

So fehlt dein guter Stern.

Der Stern, der wunderhelle,

Mit reinem Himmelslicht

Von seiner ew’gen Quelle

Dir zum Gewissen spricht.

Das Glück mag bilden, ründen,

Erhöhn und Schmuck verleihn,

Doch muss, um fest zu gründen,

Die Pflicht geschäftig sein.

Du freust dich an Gestalten

Und nennst mit Stolz, was dein:

Doch wahren und erhalten,

Das kann die Pflicht allein.

 

10.          Unsere Religion ist somit Glaube an das Gute und Wille zum Guten .

Die Natur kennt weder gut noch böse, sie duldet den Mörder ebenso wie den guten, hilfsbereiten Menschen. Schon Jesus hat diese Wahrheit erkannt, wenn er von seinem gottesgläubigen Standpunkt aus sagt, dass Gott seine Sonne aufgehen lasse über Böse und Gute, und regnen über Gerechte und Ungerechte (Matth. 5, 45).

Wie wir Menschen aber heilsame und giftige Pflanzen unterscheiden, weil die einen uns gesund, die anderen krank machen können, so heißen wir auch die Handlungen gut, die das Leben fördern, und diejenigen böse, die es hemmen und zerstören. Was heute im einzelnen Fall gut und böse heißt, hat nicht zu allen Zeiten und bei allen Völkern diese Geltung gehabt. Keine Zeit und keinem Volk bleibt es erspart, die überkommenen Begriffe von Gut und Böse auf ihre Lebensfähigkeit von Neuem zu prüfen. Aber dies geschieht nicht durch hochmütige Verwerfung der Überlieferung  der  Vergangenheit  auf  sittlichem  Gebiet, sondern durch ernste Auseinandersetzung mit ihr, da sie weithin einen Niederschlag vieltausendjähriger Erfahrung darstellt. Es kommt nicht darauf an, dass man alles annimmt, was andere Leute gut und böse heißen, sondern dass man stets den Willen hat, das zu tun, was man im einzelnen Fall als gut erkannt hat, und nicht etwa das, was einem gerade als das bequemste, leichteste und vorteilhafteste erscheint.

Wer diesen Willen zum Guten hat, ist für uns nicht bloß ein sittlicher, sondern auch ein religiöser Mensch. Denn Religion ist nicht Glaube an so genannte Heilstatsachen der Vergangenheit, sondern vor allem der Wille zum Guten, Wahren und Schönen.

Der Philosoph Kant sagt: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außerhalb derselben zu denken, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden könnte, als allein ein guter Wille.“

Die altgläubigen Christen glauben an einen Sieg des Bösen auf dieser Erde, der ein Zeichen des herannahenden Weltgerichts und Weltendes sein soll. Sie stützen sich dabei auf die Verkündigung Jesu, dass dem Weltuntergang furchtbare Drangsale vorausgehen werden. Volk wider Volk, Reich wider Reich werde sich erheben, Hungersnöte und Erdbeben hin und wieder werde es geben. Und weil der Frevel überhandnehme, werde bei den meisten die Liebe erkalten. Nur wer bis ans Ende ausharre, werde gerettet werden. (Matth. 24, V. 7, 12 und 13.) Erst durch die Wiederkunft Christi werde das Böse vernichtet werden.

Dieser Glaube ist schon dadurch hinfällig, dass Jesus das Weltende und seine Wiederkunft seinen Jüngern als nahe bevorstehende Ereignisse angekündigt hat, denn er sagt (Matth. 24, 34): „Wahrlich, ich sage euch, es sind einige unter denen, die hier stehen, welche den Tod nicht kosten werden, bis sie den Sohn des Menschen kommen sehen in seinem Reich.“

Vergebens haben die Christen zu allen Zeiten auf die Erfüllung der Weissagungen Jesu gewartet.

Die neugläubigen Christen hoffen auf einen Sieg des Guten auf dieser Erde durch göttliche Hilfe. Wenn aber wirklich ein Gott den guten Menschen bei ihrem Kampf gegen Armut, Krankheit, Ungerechtigkeit, Krieg geholfen hätte, so müsste das erstrebte Ziel längst erreicht sein.

Unser Glaube an das Gute bedeutet nicht die Meinung, dass das Gute auf der Erde sich selbst durchsetze, dass die Wahrheit zuletzt überall siegen müsse. Wir behaupten nur, dass das Gute, da zum Sieg gelangen kann, wo gute Menschen mit vereinten Kräften sich dafür einsetzen.

Wer bloß nach Essen, Trinken und Sinnenlust strebt, wird von der neuen, freien Religion so wenig etwas wissen wollen als von der alten. Wer aber damit nicht zufrieden ist, sondern ein edler Mensch werden möchte und ein Reich der Gerechtigkeit, des Friedens und der Liebe auf Erden wünscht, wird sich uns gerne anschließen, um der Religion des Guten, Wahren und Schönen sein Leben weihen.

Ich suche Licht für meinen Geist

Und Nahrung, die das Herz mir speist,

Und Kraft, die mich zum Rechten stärkt,

Und Warnung, die den Irrweg merkt.

Nicht leben mag ich bloß fürs Brot,

Nicht sorgen bloß um äußre Not,

Zu hoch bin ich als Mensch gestellt,

Zu dienen bloß der Sinnenwelt.

Drum, Freunde, bin ich euch vereint,

Die ihr mit mir dasselbe meint,

Die ihr, gleich mir das Haupt erhebt

Und nach dem rechten Leben strebt.

Komm, Wahrheit, gib uns hellen Schein,

Komm, Kraft, und nimm die Herzen ein,

Komm, Liebe, all uns zu umfahn,

Dass wir dem schönen Ziele nahn. 

Uhlich


 

1925

 

Grundzüge der freireligiösen Gemeinde zu Leipzig

 

Aus:

Dr. J. Kippenberger und Dr. P. Beck

„80 Jahre Freireligiöse Gemeinde Leipzig“

Verlag Freireligiöse Gemeinde Leipzig

1925

 

1.       Uns leitet der Grundsatz: Freie Selbstbestimmung auf allen Gebieten des Lebens, gemäß der fortschreitenden Vernunft und Wissenschaft.

2.       Wir bekennen uns zur einheitlichen, natürlichen Weltanschauung, nach welcher – wie alles auf der Welt – auch das Menschenleben sich naturgesetzmäßig entwickelt.

3.       Daraus folgt, dass es übernatürliche Dinge und Geschehnisse nicht geben kann.

4.       Es folgt weiter daraus, dass der Mensch mit allem in der Welt einheitlich verbunden und verwandt ist.

5.       Wir erblicken in dem diese Erkenntnis begleitenden Gefühl, in Verbindung mit dem auf beides sich gründenden Verhalten des Menschen, das Wesen unserer freien Religion.

6.       Wir stehen auf dem Boden der natürlichen, sittlichen Selbstgesetzgebung, welche die Pflichten und Rechte der Einzelpersonen wie der Gesamtheit bestimmt und sie als Selbstliebe im Individualismus und als Nächstenliebe im Sozialismus zur bewussten Betätigung bringt.

 

Unsere Ziele

1.       Wir wollen Menschen erziehen, die frei von jedem Zwange selbständig zu denken vermögen, die ihr Einzel- und Gemeinschaftsleben auf Grund der Erkenntnisse aufbauen, welche sich ihnen aus der einheitlichen, wissenschaftlichen Welt- und Lebensanschauung ergeben.

2.       Wir machen es jedem Einzelnen zur Pflicht, sein Leben sowohl mit dem Natur- und menschlichen Gesellschaftsleben als auch mit seinem eigenen Denken, Fühlen und Wollen in größtmögliche Übereinstimmung zu bringen.

3.       Wir erstreben Glück und Vollkommenheit nicht in einem eingebildeten Jenseits, sondern im Erdenleben, und dessen Bessergestaltung  und  unsere  eigene Vervollkommnung, mit Hilfe vor allem der vereinten Menschenkraft. In dieser Selbsterlösung erhält die menschliche Arbeit, die in freudigem Selbstbetätigungsdrang als aufopfernder Dienst für die Allgemeinheit stetig die Kultur erhöht, auch Wert über den Tod hinaus.

 

Unsere Aufgaben

1.       Um unsere Ziele zu erreichen, ist es nötig, dass wir die Kirche bekämpfen, indem wir hinweisen auf ihre Herrschaftsansprüche über die Menschen und ihre Forderung blinden Gehorsams; indem wir auffordern zum Verlassen der Kirche und zum Anschluss an die freireligiösen Gemeinden, um so alle freiheits- und fortschrittsliebenden Männer und Frauen in einer machtvollen Opposition zusammenzufassen.

2.       Wir betrachten als unsere Aufgabe die geistige und sittliche Aufklärung der Menschen, um sie zur Erkenntnis der Mängel und Fehler im persönlichen wie gesellschaftlichen Leben und auf Grund dieser Erkenntnis zur Arbeit an der eigenen wie gesellschaftlichen Vervollkommnung fähig zu machen.

3.       Da wir aber wissen, dass zur Herbeiführung eines besseren irdischen Lebens das geistig-sittliche Aufgeklärtsein allein nicht genügt, dass es vielmehr auch der politischen und sozialen Betätigung bedarf, weisen wir die Mitglieder hin auf die Notwendigkeit, zur Verbesserung auch der politisch-sozialen Zustände, zur Erreichung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung und damit zur Ermöglichung des Aufstiegs des Volkes mitzuhelfen.

4.       Wir haben die Aufgabe, unsere Kinder in unsere Gedankenwelt einzuführen, sie allmählich mit unserer Weltanschauung vertraut zu machen, und sie auf diese Weise zu überzeugten Kämpfern für unsere Ziele zu erziehen.

5.       Wir haben alle Bestrebungen zu unterstützen, welche körperliche Ertüchtigung der Erwachsenen wie der Kinder bezwecken.

6.       Es ist darauf zu achten, dass unsere Schulentlassenen in eigenen „Jugendvereinigungen“ sich zusammenschließen, um im Sinne unserer freien Gemeinden sich fortzubilden, im steten Zusammenhang mit ihnen zu bleiben und für sie im Innern und nach Außen zu wirken.

7.       Wo es möglich ist, bilde man „Frauenvereine“; sie können, wenn sie ihre Aufgaben richtig erfassen, viel zur Hebung und Kräftigung des Gemeindelebens beitragen.

8.       Unsere  Anschauungen wollen wir im Einzel- und Familienleben, im Volks- und Menschenleben, in Kunst und Wissenschaft zur Geltung bringen.

 

Unsere Forderungen

1.       Wir fordern die Trennung von Kirche und Staat, dergestalt, dass wegfällt jede Art Unterstützung und Förderung der Kirche auf Kosten der Allgemeinheit, auch gegen den Willen all der vielen, welche Gegner der Kirche sind; dass der kirchliche Einfluss auf die von Staat und Kommunen verwalteten Anstalten und Einrichtungen (z. B. in dem vielverzweigten Fürsorgewesen, in Krankenhäusern, Gefängnissen, im Bestattungs- und Friedhofswesen) beseitigt wird: dass alle gesetzlichen Bestimmungen, die lediglich im Interesse und zum Schutz der Kirche getroffen sind und gehandhabt werden, wie z. B. Gotteslästerungsparagrafen, konfessioneller Eid, aufgehoben werden.

2.       Wir fordern die Trennung der Schule von der Kirche, dergestalt, dass der kirchliche Einfluss auf die Schule und in der Schule vollkommen ausgeschaltet wird. Wir wollen die weltliche Schule, in der uns das gelehrt wird, was wissenschaftlich haltbar und fürs Leben gebraucht wird.

 

Unsere Arbeitsweise

Unsere Arbeit im Sinne unserer Grundsätze, Ziele und Aufgaben geschieht durch Vorträge aufklärender, belehrender und unterhaltender Art; Verbreitung guter freigeistiger Literatur und aufklärender Flugschriften; Veranstaltung von Sonntagsfeiern, von Feiern an den allgemein üblichen weltlichen Festen, bei besonderen Ereignissen, welche die freigeistige Gesamtheit betreffen, oder traurige oder freudige Ereignisse in der Familie zur Veranlassung haben. – Wir legen Wert darauf, dass bei allen unseren Veranstaltungen und Feiern Verstand, Gefühl und Wille in gleicher Weise Berücksichtigung finden. Wissenschaft und Kunst sind die Quelle, aus der wir zu unserer allseitigen Fortbildung schöpfen.


 

1926

 

Die religiöse Gesinnung der freireligiösen Bewegung

 

Aus:

„Freie Religion“

 Nr. 1, 5. Jahrgang

Januar 1926

 

Die religiöse Gesinnung der freireligiösen Bewegung lässt sich nicht in Dogmen bannen, sie kann durch keinerlei Formeln in ihrem Wesen erschöpft werden, denn Religion ist Leben, aus seelischen Tiefen fließende Kraft.

Einige Aussprüche führender Persönlichkeiten geben von verschiedenen Gesichtspunkten aus ein klares Bild unserer religiösen Stellung.

 

Religion (von lat. religare = binden) ist der Inbegriff aller Bestrebungen des Menschen, durch Bindung an ein höchstes Unbedingtes von der eigenen Bedingtheit frei zu werden und zur vollkommenen Übereinstimmung mit sich selbst, mit seinem wahren Wesen, zu gelangen.

Hochschulprofessor Dr. Arthur Drews, Karlsruhe

Religion im weitesten Sinne ist ihrer objektiven Seite nach Bindung des Menschen an das Unendliche, Ewige, an die Urwesenheit, ihrem tiefsten seelischen Prozess nach ein Leben und Weben im All, ein Sichhinein-denken, Hinein-fühlen und Hinein-wollen in den kosmischen Zusammenhang.

Universitätsprofessor Dr. J.M. Verweyen, Bonn

Religion ist das fantasievoll personifizierte Erschauen und persönliche Erleben des Weltzusammenhangs, von welchem wir auch unser Menschenleben gesetzmäßig empfangen und durchdrungen wissen; ist das naturwüchsige Ineinander der jeweils lebendigen ästhetischen, ethischen und intellektuellen Kultur; der dreieinige Trieb zum Wahren, Guten, Schönen.

Gustav Tschirn, Wiesbaden

Der religiöse Mensch glaubt Wahrheit, Seelenglück, Schönheit, Tugend in einer übersinnlichen All-Wirklichkeit, in einem unerforschlichen sinngestaltenden All-Bauwillen – in Gott – wurzelnd.

Die freie Religion verzichtet auf alle dogmatischen Festlegungen über das Wesen des Unerforschlichen und unterlässt jede äußere Bindung an starre, religiöse Gebrauchsformeln.

Pfarrer Clemens Taesler, Frankfurt a.M.


 

Religion ist nicht die Summe äußerer Gebräuche, auch nicht ein Fürwahrhalten von Lehren, sondern Leben im Gefühl der Abhängigkeit (nach Schleiermacher) von unsichtbarer, in und hinter den Dingen waltender höherer Macht.

Uns Freireligiösen ist Religion insbesondere Leben im ehrfurchts- und vertrauensvollen Bewusstsein des Aufgestiegenseins aus unendlichem Weltengrund und des dauernden Getragenwerdens von diesem ewigen mit allem anderen Leben verbindenden geistigen Heimatboden.

Rudolf Wahlbaum, Alzey

Religion haben heißt, das vergängliche Leben mit seinem ganzen Wertgehalt verankern in einem Unvergänglichen, das als höchster umfassender Sinn alles Daseins uns umfängt. Wir fordern den neuen Menschen, der in lebendiger Gemeinschaft mit Gleichgesinnten durch Wahrhaftigkeit, Selbstverantwortung, Weltbejahung und soziale Tat den Weg zum Ewigen findet.

Dr. Georg Pick, Mainz

Religion ist der Aufblick des Menschen aus der Begrenztheit seines Wesens zu höheren Mächten, von denen er Erlösung erhofft.

Der Freireligiöse sucht und findet sie in der Natur selbst. Sie sind dann weiter nichts als die höhere Entwicklungsstufe der Natur selber an das Ideal, die unendlichen Möglichkeiten der Höherentwicklung im unendlichen Weltall, die sich auch dann noch öffnen, wenn der Mensch an aller Rettung und an allem Fortschritt verzweifeln möchte.

Erich Schramm, Ludwigshafen

Religion kann bestimmt werden als die Hingabe und Bindung des menschlichen Gemütes an einen höchsten Wert.

Kunst, Moral, Wissenschaft umfassen nur Teilgebiete der menschlichen Wertbeziehungen. In der Religion dagegen wird das Ganze, das Allgemeine, der Weltgrund selbst als Weltzusammenhang erlebt, in ihm alles menschliche Sein und Wirken verankert.

Dr. Wilhelm Hager, München

Wesentlich ist klare Begriffsbestimmung. Geschichtliche Religion d. h. überlieferte Lehren von übernatürlichen (metaphysischen Ereignissen) lehnen wir ab. Innerliche Religion haben alle nachdenklichen Menschen, auch wenn sie lieber einfach Ethik, Gewissen, Pflichtgefühl dazu sagen. Es ist das Verantwortungsbewusstsein gegenüber dem Ganzen der Welt. Wir nennen es Religion, in der Überzeugung, dass es nicht auf vernünftiger Einsicht in Zweckzusammenhänge, sondern auf einer uns unerklärlichen Liebe zum Guten beruht.

Ludwig Keibel, Pirmasens


 

Religion ist Bindung an das Unendliche, Unfassbare (Gott), ist Glauben an Zweck und Sinn der Welt, und die damit deutlich fühlbar verbundene Befreiungsverpflichtung vom Ich. Aus dem kosmischen Zusammenhang entspringt die Gemeinschaft stiftende, soziale Macht der Religion.

Otto Maria Saenger, Karlsruhe

 

 

 

 

 


Alte Irische Besinnung

Ich habe gearbeitet auf der fruchtbaren Erde

und einen Garten gepflanzt.    -

So weiß ich, was Glauben ist.

 

Ich habe dem Jubilieren der Vögel gelauscht

am frühen Morgen und zur Dämmerung.    -

So weiß ich, was Musik ist.

 

Ich habe den Morgen gesehen

Wolkenlos nach dem Regen.    -

So weiß ich, was Schönheit ist.

 

Ich habe das Wunder des Frühlings geschaut

die Fülle des Sommers und die Pracht des Herbstes

gefolgt von der Ruhe des Winters.   -

So weiß ich, was Leben ist

 

Und weil ich all das erfahren habe,

weiß ich was Gott ist.


 

 

 

 

Größer werden die Menschen nicht;

doch unter den Menschen

größer und größer wächst

die Welt des Gedankens.

Strengeres fordert jeglicher Tag

von den Lebenden.

Und so sehen es alle,

die zu sehen verstehen.

Aus dem seligen Glauben des Kreuzes

bricht ein anderer hervor,

selbstloser und größer.

Dessen Gebot wird sein:

Edel lebe und schön,

ohne Hoffnung künftigen Seins

und ohne Vergeltung,

nur um der Schönheit des Lebens willen.

Theodor Storm



[1] Der Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands und der (bürgerliche) Deutsche Freidenker Bund schlossen sich 1921, vorläufig noch unter Wahrung der eigenen Organisation, zum Deutschen Volksbund für Geistesfreiheit zusammen. Im April 1924 beschloss  man auf der „Zweiten freigeistigen Woche“ in Leipzig einstimmig die Verschmelzung beider Organisationen. BFGD und DFB lösten sich damit auf. Der Verband süd- und westdeutscher Freireligiöser Gemeinden machte diese Vereinigung nicht mit und konstituierte sich im November 1924 als nunmehr alleiniger Vertreter der freireligiösen Idee.