Freireligiöses Quellenbuch 1.

1917

 

Leitsätze Freier Religion

von Arthur Drews

 

„Freie Religion –  Gedanken zur

Weiterbildung und Vertiefung der

Religion für die Gottsucher unserer Tage“

Verlag Eugen Diederichs, Jena

 

1. Auflage: 1917  

nachfolgender Text: Auszug aus der 3. Auflage,

Jena 1921 (S. 6 – 23)

 

 

Was ist Religion?

Religion (von lat. religare = binden) ist der Inbegriff aller Bestrebungen des Menschen, durch Bindung an ein höchstes Unbedingtes von der eigenen Bedingtheit, seiner natürlichen Eingeschränktheit durch seine äußere Umgebung sowohl wie durch die innerlichen Hemmungen seines eigenen Wesens, frei zu werden und zur vollkommenen Übereinstimmung mit sich selbst, mit seinem wahren Wesen zu gelangen.

So natürlich es dem Menschen als geistiges Wesen ist, sich frei gegenüber der Natur zu fühlen und diese Freiheit auch praktisch anzustreben, so natürlich ist ihm auch die Religion als der Inbegriff aller Bemühungen, die erstrebte Freiheit in schlechthinniger Weise zu verwirklichen. Insofern gehört die Religion zur Vollkommenheit des Menschen. Denn vollkommen ist ein Individuum nur in der völligen Übereinstimmung seiner Erscheinung mit seinem Wesen. Eine solche gewährt ihm aber nur die Religion durch die Aufzeigung der Behinderungen, die erfüllt sein müssen, wenn jene Übereinstimmung möglich sein soll.

Der Mensch ist nur dann ganz frei, wenn er sich ganz bindet. Das tut er aber nicht, sofern er sich irgendwelcher endlicher Macht verpflichtet, denn von dieser kann er sich jeden Augenblick auch wieder lossprechen, und alle Freiheit, die er durch sie gewinnt, ist selbst nur wieder eine bedingte und mit ebensoviel Unfreiheit verbunden, sondern nur, sofern er sich einem schlechthin Unbedingten unterordnet, das die Macht besitzt, auch die endlichen Mächte, die seine Freiheit einschränken, zu bedingen.

Was heißt dann Religion?

Frei heißt die Religion, sofern sie unabhängig von allem überkommenen, durch Überlieferung und Kirche geheiligten, vom Staat  begünstigten so genannten positiven oder geschichtlichen Religionsformen und deren verschiedenen Glaubenslehren, Satzungen und äußeren Bräuchen allein auf den wesentlichen Kern alles religiösen Lebens, auf die freie Betätigung des dem Menschen eigentümlichen, religiösen Bewusstseins abzielt.

Welches ist der wesentliche Kern alles religiösen Lebens?

Das Wesen der Religion ist die Freiheit (Hegel), d. h. Selbstbestimmung, nicht als launenhafte Willkür oder beliebige Verfolgung ichsüchtiger Sonderzwecke, sondern als freiwillige bewusste Unterordnung unter ein höchstes Unbedingtes, das dem Menschen die Ziele seines Handelns setzt, von ihm als das bestimmende Prinzip des Daseins anerkannt wird und seinen Ausdruck findet in dem Glauben und der Hingabe an eine Weltordnung, an die vernünftige Beschaffenheit des Daseins, an einen Sinn und Zweck der Welt, an dessen Verwirklichung der Mensch teilnehmen kann, um durch diese Teilnahme seine wahre Bestimmung zu erfüllen und die vollkommene Übereinstimmung seines Handelns mit seinem Wesen herzustellen.

Solange der Mensch sich nur aus seinem Ich heraus bestimmt, ist er nicht frei, denn die Endlichkeit des Ich, seine Eingeschränktheit durch ein Anderes, die Natur, sein Unterworfensein unter das Naturgesetz, hebt alle Selbstbestimmung auf. Nur wenn das Selbst, aus dem heraus er sich bestimmt, ein unbedingtes Wesen ist, ist seine Bestimmung aus diesem Wesen heraus Freiheit. Nur wenn die „Natur“, durch die der Mensch sich eingeschränkt fühlt, bloß durch ihn selbst bestimmt, die Fremdbestimmung der Natur in ihrem Grunde Selbstbestimmung ist, kann von der Freiheit des Menschen gegenüber der Natur gesprochen werden.

Nun bin ich mir bewusst, nicht selbst die Natur bestimmt zu haben, denn mein Ich in seiner Eingeschränktheit ist ja gerade das, was von der Natur beschränkt und von dem Wunsche nach Freiheit von den Schranken der Natur erfüllt ist. Folglich kann mein Ich nicht mein Selbst, nicht dasjenige Selbst sein, worauf sich meine Freiheit gründet, und also fordert die Religion, deren Wesen eben die Freiheit ist, die Einerleiheit des menschlichen Selbst mit jenem Unbedingten auch die Natur bedingenden, an das der Mensch sich binden muss, um zur Freiheit und dadurch zur Übereinstimmung mit sich selbst zu gelangen. Dies Unbedingte heißt in der religiösen Sprache Gott. Die menschliche Selbstbestimmung oder Freiheit ist folglich nur als göttliche Selbstbestimmung möglich:

Frei ist der Mensch nur, sofern er sich selbst bestimmt, und
religiös ist er nur, sofern er sich durch Gott bestimmen lässt;
frei und religiös – freireligiös – ist er mithin nur, sofern das eigene
Selbst des Menschen Gott ist.


 

Freireligiös sein heißt also nicht, frei von Religion und demnach auch vom Glauben an Gott, auch nicht bloß frei in der Religion, d. h. ungehindert in der Ausübung seiner religiösen Betätigung, sondern frei durch die Religion oder Anhänger einer freien Religion, d. h. einer solchen sein, die im eigenen Selbst das höchste Unbedingte als Bedingung der menschlichen Freiheit oder Selbstbestimmung findet.

Die Einerleiheit des menschlichen Selbst und Gottes ist das Grundprinzip der freien Religion. Die Behauptung der Einerleiheit beider ist aber insofern doch kein „Dogma“ im Sinne der Kirche, als die hierin begründete Bindung des Menschen an Gott nicht eine solche an ein fremdes, ihm äußerlich gegenüberstehendes Wesen, sondern an das eigene Wesen selbst und somit die hieraus hervorgegangene Bestimmung nicht Fremdbestimmung oder Zwang, sondern Selbstbestimmung, Freiheit, nämlich innerliche, religiöse Freiheit, Übereinstimmung des Menschen mit sich selbst, mit seinem göttlichen Wesen ist.

Darf Gott mit der Natur vereinerleit werden?

Da Gott dasjenige Unbedingte ist, das dem Menschen die Freiheit der Natur vermittelt, so kann er nicht mit der Natur vereinerleit werden. Denn wäre die Natur das schlechthin Unbedingte, so wäre eine Befreiung von den Schranken der Natur unmöglich. Auch ist Hingabe an die Natur nicht Freiheit, sondern das gerade Gegenteil einer solchen: Unterwerfung unter den äußeren Zwang der Naturgesetze, Bestimmtwerden durch ein Fremdes außer uns, Aufgehen in materieller Betriebsamkeit, Technik, Wirtschaft, Industrie und händlerischem Nützlichkeitsstreben. Gott muss etwas anderes und höheres sein als die Natur.

Die Natur muss selbst in absoluter Weise durch Gott bestimmt sein, wenn Selbstbestimmung des Menschen gegenüber der Natur durch Vermittlung Gottes möglich sein soll.

Dies höhere bezeichnet der Ausdruck Geist: das unmittelbar aus sich selbst (spontan) handelnde Wesen im Gegensatz zur äußeren (mechanischen) Bestimmtheit der Naturelemente. Gott muss folglich ein geistiges Wesen sein, und dies vor allem auch deshalb, weil nur ein solches die Weltordnung und den Sinn der Welt begründen, nur ein Geist Zwecke setzen kann, die vom Menschen zu den seinigen erhoben werden und ihm dadurch die Freiheit von der Natur und Übereinstimmung mit sich selbst vermitteln können.

 

Welches sind die Eigenschaften Gottes?

Gott ist der Urheber der Weltordnung, der Begründer des Weltzweckes und der Träger der Weltvernunft: Folglich muss er ein vorstellendes oder denkendes Wesen sein. Vorstellungen (Gedanken) und Zwecke können nur durch einen Willen verwirklicht werden, und die Weltvernunft betätigt sich in der Welt eben durch die Verwirklichung ihrer Zwecke: folglich muss Gott zugleich als ein wollendes Wesen betrachtet werden. So ist der all=eine unbeschränkte Geist, der Weltgeist oder Allgeist, in dessen allumfassender Vernunft alles vorgesehen ist, und durch dessen Willen alles verwirklicht wird, was in der Welt geschieht: alles Wissen ist Gottes Wissen, alles Wirken ist Gottes Wirken.

Als den unbeschränkten Geist, der alles Dasein und Geschehen in seinem Denken vorstellend (in unmittelbarer geistiger Anschauung) umfasst, können wir Gott unbedenklich allwissend nennen. Als den, der die Beschaffenheit und den Lauf der Welt mit alles vorausschauender Vernunft und seinen Endzweck hin bestimmt, dürfen wir ihn als allweise bezeichnen. Und als den, der das Wollende in allem Wollen, das Wirkende in allem Wirken und dessen Macht alle Macht ist, können wir ihn als allmächtig ansprechen.

Als der Allwissende und Allwirkende ist Gott unbedingt: von nichts anderem abhängig, erhaben über die Schranken des Raumes und der Zeit. Darin besteht seine Ewigkeit. Raum und Zeit sind nur die Formen seiner Tätigkeit und erst mit dieser gesetzt oder durch sie bedingt. Auf ihnen ruht alle Beschränkung und Besonderung, alles körperliche und bewusst geistige Einzeldasein und Geschehen. Gott aber, der unbeschränkte, unbedingte und allumfassende Geist, durch dessen vorstellende und wollende Tätigkeit alle Wirklichkeit gesetzt und in ihrem Bestand erhalten wird, ist mit dieser Tätigkeit allgegenwärtig.

Außer diesen Eigenschaften der Allwissenheit mit Einschluss der Allweisheit, der Allmacht, Ewigkeit und Allgegenwart Gott noch weitere Eigenschaften zuzuschreiben, liegt keine Veranlassung vor. Insbesondere müssen ihm solche Eigenschaften abgesprochen werden, die, wie Bewusstsein, Selbstbewusstsein, Persönlichkeit oder gar sittliche Bestimmungen, wie Gerechtigkeit, Liebe, Großmut, Barmherzigkeit, Langmut, Sanftmut, Güte, Zorn usw., nur in endlichen Einzelwesen denkbar sind, die einander äußerlich gegenüberstehen. Sie setzen die Beschränktheit des Geistes in Raum und Zeit voraus und können daher dem allumfassenden nichts außer sich habenden göttlichen Geist nicht zugeschrieben werden.

Als unbedingter, allumfassender Geist ist Gott notwendig unbewusster Geist. Denn alles Bewusstsein ist ja ein leidender, vergänglicher, bloßer Zustand des Geistes und als solcher erfahrungsgemäß an eine bestimmte Leiblichkeit, insbesondere an Gehirn und Nerven gebunden. Wirksam, schöpferisch tätig (denkend und wollend) ist der Geist nur als unbewusster oder vorbewusster. Darum setzen wir Gott auch nicht herab, wenn wir ihn als unbewusst oder unpersönlich bestimmen, sondern wir erheben ihn gerade damit über alle Beschränktheit des unbewussten, persönlichen Menschengeistes und können ihn insofern als überbewusst und überpersönlich bezeichnen.

Gegenüber dem Einwand, dass mit der hier gegebenen Auffassung Gott als ein menschenartiges Wesen bestimmt und jede Auffassung doch nur wieder ein unmöglicher „Anthropomorphismus“ sei, ist zu bemerken, dass Vergeistigung und Vermenschlichung nicht für dasselbe angesehen werden dürfen. Eine Vergeistigung ist alles Erkennen, sofern es ein Wiedererkennen, nämlich des eigenen geistigen Selbst in der Natur der Dinge ist und alle Erkenntnis von Gesetzen und Kräften in der Wirklichkeit nur ein bewusstes Herausstellen dessen an der Wirklichkeit ist, was wir vorher unbewussterweise aus unserer eigenen Geistigkeit in diese hineingetragen haben, nämlich unser Denken und Wollen. Verwerflich ist dies Verfahren nur, sofern hierbei Eigenschaften dem Wesen der Dinge zugeschrieben werden, die lediglich dem menschlichen Geist in seiner körperlichen Bedingtheit zukommen; solcherart aber sind die oben hervorgehobenen, die wir daher dem allgemeinen Geiste nicht beilegen können.

 

Wie verhält sich Gott zur Welt?

Als der unbedingte, allumfassende, nichts außer sich lassende Geist und Begründer der Weltordnung, der durch seinen Willen die inhaltlichen (vernünftigen) Bestimmungen der Welt verwirklicht und sich allgegenwärtig in ihr betätigt, ist Gott nicht der äußere, ihr fremd gegenüberstehende Schöpfer der Welt, sondern deren eigenstes inneres Wesen: der ihr innewohnende, sie tragende und bestimmende Grund aller Wirklichkeit.

 

Ist das Dasein Gottes beweisbar?

Dass Gott in den angeführten Bestimmungen wirklich ist, ist die unerlässliche Voraussetzung des religiösen Bewusstseins, ohne welche diese seinen Grund und Halt verlieren und das Streben des Menschen nach innerlicher Freiheit sinnlos sein würde. Darauf beruht die Gewissheit und Unerschütterlichkeit des religiösen Glaubens. Sie ist letzten Endes
ebenso logisch begründet, wie nur irgendeine wissenschaftliche Erkenntnis, wenn der Einzelne sich der Gründe seines Glaubens auch nicht immer klar bewusst ist und der Schwerpunkt des Glaubens nicht sowohl auf seiner begrifflichen Überzeugungskraft als in seiner Wirkung auf das Gefühl und seinem Einfluss auf den Willen beruht. Immerhin versteht es sich von selbst, dass ein Glaube um so wirkungskräftiger sein wird, je besser er mit dem Verstand übereinstimmt, während ein unverständiger Glaube der Gefahr unterliegt, von der Vernunft zersetzt und dadurch früher oder später unwirksam gemacht zu werden.

Das Dasein eines außerweltlichen, bewussten und persönlichen Schöpfergottes, auf welchen sich alle Beweise für das Dasein Gottes bisher bezogen haben, ist unbeweisbar und mit dem Widerspruch behaftet, dass ein solcher Gott nur von außen auf den Menschen einzuwirken vermöchte und damit dessen Freiheit aufhebt, die durch ihn doch gerade begründet werden soll.

Die Annahme eines der Welt innewohnenden Gottes jedoch, der als solcher deren Grund und Wesen ausmacht, ist selbst die Voraussetzung aller Wissenschaft, weil die Wirklichkeit vernünftig sein muss, um von der Vernunft erkannt werden zu können, ihre Vernunft aber nicht die Vernunft der Wirklichkeit sein würde, wenn deren inhaltliche Bestimmungen nicht durch einen Willen verwirklicht, aus dem Zustand des bloßen Gedankenseins in denjenigen des Wirklichseins übertragen würden. Vernunft und Wille aber, als Urgründe der Wirklichkeit, weisen auf ein allumfassendes, vernünftiges und wollendes Subjekt hin, das sich vermittelst ihrer in der Wirklichkeit auswirkt. Darin liegt der sicherste Beweis für das Dasein Gottes als des die Vernunft begründenden und die Freiheit des Menschen durch sein zwecksetzendes Wollen vermittelnden allgemeinen Geistes, und jeder Fortschritt der Wissenschaft, anstatt dessen Annahme zu gefährden, beweist durch die Aufdeckung neuer logischer Beziehungen nur um so entschiedener das Dasein eines vernünftigen, den Inhalt der Welt bestimmenden Wesens oder Gottes.

 

Wie verhält sich die Welt zu Gott?

Die Welt steht Gott, dem allumfassenden Geiste, nicht als eine von ihm verschiedene und getrennte Schöpfung äußerlich gegenüber, sondern sie ist innerlich, ihrem Wesen nach mit ihm eins: sie ist das nach außen gewendete Eine (Uni=versum: Schelling), die äußere, sichtbar gewordene Erscheinung Gottes, dessen Vernunft sich in ihrer inhaltlichen Beschaffenheit, ihrem So=Sein, dessen Wille sich in ihrem Da=sein widerspiegelt. Auf der Vernünftigkeit ihres Inhalts beruht die Erkennbarkeit, auf ihrer Willensnatur die Wirklichkeit der Welt. Die Welt ist der „Leib“ Gottes: Gott ist die Welt“seele“. Gott und Welt sind also wesenhaft dasselbe: beide sind eins, aber nicht in dem Sinne, als ob die Welt alles und Gott nichts oder nur ein anderer Name für die Welt wäre, wie die Gottesleugner oder Weltvergötterer es wollen. Auch nicht in dem Sinne, als ob Gott alles und die Welt nichts oder nur ein nichtiger Schein an der all=einen Gottheit wäre, wie die weltfremden indischen Brahmanen und gewisse mittelalterliche Mystiker behaupten. Eins sind Gott und Welt vielmehr nur  in dem  Sinne,  dass sie  wie  Wesen und Erscheinung untrennbar zusammen gehören, oder dass es ein und dasselbe allumfassende Wesen ist, dass sich in all den verschiedenen Einzelerscheinungen der Welt offenbart, sich als einheitliches Subjekt in ihnen auswirkt und als ihr gemeinsamer geistiger Grund sie alle miteinander „trägt“, im Dasein erhält und dadurch miteinander verbindet.

Diese Auffassung des Verhältnisses zwischen Gott und Welt ist nicht Theismus, wie in der jüdischen und christlichen Religion. Der Theismus ist eine zwiespältige (dualistische) Ansicht: er beruht auf der Annahme einer wesentlichen Zweiheit und Verschiedenheit von Gott und Welt, stellt beide als Schöpfer und Geschöpf einander gegenüber und behauptet die Persönlichkeit Gottes.

Jene ist vielmehr Pantheismus (Gottallglaube), aber nicht ein naturhafter, naturvergötternder (naturalistischer) Gottallglaube, für den Gott nur ein anderer Name für die Natur ist, sondern ein geisthafter, geistgläubiger (spiritualistischer) Gottallglaube, der an der reinen geistigen Wesenheit Gottes festhält und die Natur bloß für dessen raumzeitliche Erscheinung ansieht.

Der hiermit eingenommene Standpunkt pflegt auch wohl mit einem viel gebrauchten wissenschaftlichen Ausdruck als Monismus: Einheits-, Alleinheitslehre bezeichnet zu werden. Aber er ist nicht eine gottesleugnerische oder naturvergötternde Alleinheitslehre: Atheismus; denn mit diesem wird dem frommen Glauben sein Gegenstand und die unentbehrliche Voraussetzung seiner selbst genommen.

Er ist auch keine weltleugnende oder die Wirklichkeit in bloßen Schein auflösende Alleinheitslehre: so genannter abstrakter Monismus; denn dieser muss mit der Wirklichkeit der Welt und ihres Geschehens folgerichtig auch die Wirklichkeit des religiösen Glaubens sowie des sittlichen Handelns leugnen und beide ebenfalls für einen nichtigen Schein erklären.

Demgegenüber lässt die im obigen vertretene Alleinheitslehre die Wirklichkeit der Welt ebenso unangetastet, wie die Geistigkeit Gottes und behauptet nur die wurzel- und wesenhafte Einheit Gottes und der Welt, ohne an ihrer erscheinungsmäßigen Zweiheit und Verschiedenheit zu rütteln: konkreter Monismus.

Die gottesleugnerische oder naturvergötternde Einheitslehre pflegt gegenwärtig besonders als naturwissenschaftliche Einheitslehre aufzutreten (Haeckel, Ostwald). Der religiöse Mensch muss diese bloß naturwissenschaftliche Einheitslehre ablehnen, weil sie mit der Leugnung Gottes auch die Möglichkeit eines religiösen Verhältnisses zu Gott, also die Möglichkeit der Religion aufhebt.

Wohl stellt auch er, [Haeckel und sein Monismus] als Mensch unserer Zeit, sich rückhaltlos auf den Boden der heutigen Wissenschaft und er kennt die Unverbrüchlichkeit der Naturgesetze ebenso unbedingt an, wie die Wahrheit der Entwicklungslehre. Aber er bestreitet der Naturwissenschaft das Recht, den Begriff der Wirklichkeit einfach mit dem der Natur gleichzusetzen, den Geist zu einem für sich unselbständigen Erzeugnis oder Anhängsel der Materie herabzudrücken, die Natur als die bloße Vielheit nach rein physiko-chemischen Gesetzen bewegter Stoffteilchen oder maschinenmäßig wirkender Kräfte (Energien) aufzufassen und die ganze Entwicklung der Lebewelt mit Darwin und seinen Anhängern in rein mechanischem Sinne zu deuten. Er betrachtet auch die mechanische Gesetzmäßigkeit des Naturgeschehens nur als einen Teil, als einen bloßen Ausschnitt der Weltgesetzlichkeit oder Weltordnung, und er sieht es für selbstverständlich an, dass der Mechanismus der Natur nur Sinn und Bedeutung hat als Mittel der Weltzwecklichkeit, die als solche erst den eigentlichen Gegenstand der religiösen Hingabe bildet.

Während also die naturwissenschaftliche Einheitslehre in vollständiger Verkennung der idealen Bedürfnisse des Menschen die Religion folgerichtig von sich ausschließt und einseitig den Standpunkt der Naturwissenschaft vertritt, bekennt die hier vertretene Ansicht sich ebensowohl zum Wahrheitsgehalt der naturwissenschaftlichen Einheitslehre, wie sie durch deren Eingliederung in eine höhere umfassendere Weltanschauung das religiöse Bewusstsein befriedigt. Sie verwirft das Wunder, weil es der Weltordnung und Weltgesetzlichkeit widerspricht, ohne die der Weltzweck sich nicht zu verwirklichen möchte. Aber sie hält dafür umso entschiedener den Glauben an eine Vorsehung fest, versteht hierunter jedoch nichts anderes, als dass alles, was in der Welt geschieht und zur Erscheinung gelangt, von der göttlichen Vernunft im Hinblick auf den Weltzweck vorgesehen, gedacht und vom göttlichen Willen aufgrund dieser Vorstellung verwirklicht wird.

Nach dieser Stellung, die sie der Natur gegenüber einnimmt, lehnt die hier vertretene konkret-monistische Einheitslehre, die Gott als geistiges Wesen auffasst, es ab, sich für ihn des Ausdrucks „Gottnatur“ (Goethe) zu bedienen, wie dies in freigeistigen Kreisen vielfach üblich ist. Dieser Ausdruck ist deshalb zu vermeiden, weil er es in das Belieben eines jeden stellt, sich entweder die Natur geistig oder aber den Geist natürlich vorzustellen, ein natürlich vorgestellter Geist jedoch keine Zwecke setzen und folglich dem Menschen auch keine Freiheit von den Schranken der Natur verbürgen kann.

Der Ausdruck „Gottnatur“ kann einerseits besagen, dass alle Natur als solche Gott ist; dann lässt er die Natur nach Art des abstrakten Monismus in Gott verschwinden. Auf der anderen Seite kann er meinen, dass Gott nichts anderes als die Natur ist; dann lässt er Gott nach atheistischer Weise in der Natur aufgehen. Er schillert somit unklar zwischen Pantheismus und Atheismus, zwischen Naturverneinung und Naturvergötterung und dient nur zu oft lediglich dem Zweck, den grundsätzlich widerreligiösen Standpunkt der reinen Naturverehrung durch die Anwendung einer entsprechenden Ausdrucksweise religiös herauszuputzen und seinen wahren Charakter zu verschleiern.

In Wahrheit ist die Natur nur ein eingeordneter Bestandteil des geistigen Wesen Gottes, die niedrigste, aber eben darum grundlegende Stufe seiner göttlichen Entfaltung, und sie erschöpft dessen Wesen so wenig, dass sie vielmehr nur ein von Gott gesetztes Mittel ist, um seine Zwecke zu verwirklichen.

 

Was ist hiernach die Welt?

Die Welt ist die Erscheinung Gottes und als solche der einzige Ort seiner Betätigung. Gott wirkt nur in der Welt und als Welt, aber nicht im Unterschied und unabhängig von der Welt. Alle Wirklichkeit ist Gottes Wirklichkeit, die Erscheinung seiner Wirksamkeit, und alle göttliche Wirksamkeit vollzieht sich nur innerhalb der Weltwirklichkeit und durch diese. Die Welt ist die in Raum und Zeit hinausgestrahlte, im Lichte des Bewusstseins offenbar werdende Fülle der göttlichen Gedanken und Kräfte. Mit ihr hat Gott, das ewige, schrankenlose Wesen, sich in die Schranken der Endlichkeit (Raumzeitlichkeit) begeben, sich selbst zu unterschiedlichen Einzelwesen eingeschränkt, um durch sie seine Zwecke zu verwirklichen. Alles, was in ihr vorhanden ist und geschieht, ist daher restlos durch Gott bedingt. Sie ist die sich stetig neu offenbarende Wirksamkeit Gottes: „der Gottheit lebendiges Kleid“ mit den Worten Goethes.

 

Wie ist ein unvernünftiger Weltinhalt mit einem ihrem Inhalt nach vernünftigen Welt vereinbar?

Die Welt ist inhaltlich, ihrem So=Sein nach vernünftig. Darin liegt schon, dass nicht alles und jedes in ihr gleich vernünftig sein kann. Es gibt „Grade“ der Vernünftigkeit, und dasselbe was in der einen Beziehung vernünftig ist, ist in anderen Beziehungen unvernünftig. Alles Einzelne im Vernunftsystem ist nur vergleichsweise oder verhältnismäßig vernünftig. Alles Vernünftige ist daher auch verhältnismäßig unvernünftig. Indem nun der den Inhalt der Welt oder den jeweiligen Weltgedanken verwirklichende Wille allem Vernünftigen gleichermaßen zum Dasein verhilft, entsteht notwendig eine Welt, worin das Unvernünftige dieselbe Wirklichkeit besitzt wie das Vernünftige, und dies, obschon die Welt ihrem Inhalt nach ausschließlich durch die göttliche Vernunft bestimmt ist.

Der Schein einer grundsätzlichen Unvernünftigkeit der Welt entsteht dadurch, dass der Mensch sich einbildet, selbst der Mittelpunkt des Weltgeschehens zu sein, auf dessen Dasein alle Vorgänge in der Welt bezogen sein müssten, und dass er sein persönliches Wohlsein mit dem Zweck dieses Geschehens verwechselt.

Sobald er sich als religiöser Mensch darüber klar wird, dass die Möglichkeit seiner Freiheit gerade in dem Absehen von seinem eigenen unmittelbaren Ich und dessen Wohlbefinden beruht und die Annahme von objektiven (überichlichen) Zwecken zur Voraussetzung hat, von Zwecken, die nicht diejenigen des Menschen sind, verschwindet auch der Schein einer unvernünftigen Beschaffenheit der Welt, und es versteht sich von selbst, dass diese darum nicht weniger sinnvoll, vernünftig oder logisch bestimmt ist, weil das durch den Weltzweck geforderte Vernünftige in Bezug auf den Menschen sich unter Umständen als unvernünftig erweisen kann.

 

Wie ist das Übel und das Böse mit der Welt als einer Erscheinung Gottes vereinbar?

Das Übel oder Leid entspringt aus dem Willen, einerseits, sofern der Wille verschiedene und einander widersprechende Vorstellungen verwirklicht, wodurch der logische Widerspruch in einen realen Widerstreit sich wechselseitig bekämpfender Kräfte (Sonderdinge und das Sonderliche) umgesetzt wird, und andererseits, sofern der Wille in seiner Unbefriedigtheit es bei keinem erreichten Zustand aushält, sondern immer wieder zu neuen Zielen strebt und dadurch immer neue Zusammenstöße mit seinesgleichen heraufbeschwört. Das Böse oder die Schuld entsteht aus dem Wollen eines an und für sich vernünftigen Inhalts, der jedoch in Bezug auf einen anderen ihm übergeordneten Inhalt oder auf den Weltgrund unvernünftig ist, trotz des Bewusstseins der verhältnismäßigen Unvernünftigkeit jenen Inhalts.

Dabei ist die immerwährende, ihm wesentlich anhängende Unbefriedigtheit des Willens die unentbehrliche Voraussetzung für die Betätigung der göttlichen Vernunft. Ohne sie würde es dieser an einem Gegenstand fehlen, worauf sie sich anwenden, einem Ziel, auf das die sich richten könnte. Als Allvernunft aber offenbart sie sich auch darin, dass sie beide, das Übel und das Böse der Welt, als Mittel zur Erreichung ihrer Zwecke verwertet.

 

Wie verhält sich die Welt zum Menschen?

Der Mensch ist das uns bekannte höchste Glied in der Stufenreihe der natürlichen unter göttlicher Leitung erfolgten Entwicklung. Er ist der Träger der bewusstgeistigen Persönlichkeit. In ihm gelangt die unbewusste

Weltordnung zum Bewusstsein und wird als göttliche Ordnung anerkannt.

 

Wie verhält sich der Mensch zu Gott?

Als Träger der bewusst-geistigen Persönlichkeit und Glied der Welt ist auch der Mensch kein für sich seiendes, selbständiges Eigenwesen, sondern eine durch die Leiblichkeit bedingte unselbständige Erscheinung oder Einschränkung des allumfassenden Wesens, eine zusammengefasste Gruppe (gleichsam ein „Strahlenbündel“) göttlicher Tätigkeiten, worin sich Gott zu einer bestimmten Einzelpersönlichkeit besondert und in dem religiösen Gefühl des Menschen seines Einwohnens in diesem sich bewusst wird.

 

Wie verhält sich der Mensch zum Menschen?

Da der Mensch nicht das Geschöpf, sondern eine Erscheinung oder Einschränkung Gottes, Gott nicht der Schöpfer des Menschen, sondern dessen Wesen ist, so verhält sich der Mensch zu seinen Mitmenschen nicht, wie das Christentum lehrt, als zu seinen „Brüdern“, die allesamt Gott zu ihrem „Vater“ haben, sondern als zu Erscheinungen desselben Wesens, das auch sein eigenes Wesen ist, und die von Gott nur ins Dasein gesetzt sind, um dessen Zwecke zu verwirklichen.

In diesem Sinne wird der religiöse Mensch seine Mitmenschen achten, ihr Wohl sich angelegen sein lassen, tätigen Anteil an der Förderung der gesellschaftlichen, staatlichen, volklichen und allgemeinen geistigen Zustand und, als Angehöriger einer bestimmten Nation, vor allem derjenigen seiner eigenen Volksgenossen nehmen, aber dies nicht sowohl um der Menschen als vielmehr um Gottes willen: um sie durch Förderung ihres Wohles und Erleichterung ihres Daseins zu befähigen, die ihnen von Gott gesetzten Ziele (Zwecke) besser, leichter und freudiger zu erfüllen.

Alle Liebe zu Menschen ist ihrem wahren innersten Wesen nach Liebe zu Gott, und alle Liebe zu Gott findet ihre Verwirklichung nur in der Liebe zu Menschen und anderen fühlenden Wesen (Tieren und Pflanzen). Gott als Gott (als das all=eine Wesen im Unterschied von seiner jeweiligen beschränkten Erscheinung in den Sonderwesen) kann weder lieben noch geliebt werden. Als das unbeschränkte, allumfassende Wesen steht es ebenso hoch über aller Liebe wie über allen anderen sittlichen Eigenschaften, die er durch seine Vernunft in den Menschen begründet. Gott als Mensch aber ist der Mensch selbst, und zwar jeder Mensch, und dieser wird in Wahrheit nur als Erscheinung Gottes, als Werkzeug und bewusster Träger der göttlichen Zwecke geliebt.


 

Gibt es eine menschliche Seele?

Sofern der Mensch eine endliche Erscheinung Gottes und dieser die allumfassende Seele oder Weltseele ist, hat auch der Mensch eine Seele, nämlich eben die Seele Gottes, die in ihm, dem Menschen, nur auf diese bestimmte Leiblichkeit beschränkt ist, sein Leben in Gang erhält, sich in seinem Körper denkend, fühlend und wollend betätigt, vermittelst seines Gehirns sich ihrer selbst bewusst wird und sich in seinem religiösen Bewusstsein als göttliches Wesen wiedererkennt.

 

Ist die menschliche Seele unsterblich?

Da die menschliche Seele ihrem Wesen nach eins mit Gottes Seele, diese aber über die Schranken des Raumes und der Zeit erhaben oder ewig ist, so ist auch die menschliche Seele ihrem Wesen nach ewig und unsterblich. Diese Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist aber nur diejenige der göttlichen Seele. Insofern die all=eine göttliche Seele in dem einzelnen Menschen auf dessen Leiblichkeit bezogen und durch den Körper eingeschränkt, der Körper aber vergänglich ist, insofern ist auch die menschliche Seele vergänglich. Nun beruht die Persönlichkeit des Menschen auf seinem Selbstbewusstsein oder Ich. Dieses Ich aber ist nicht die Seele selbst, sondern nur deren Widerschein im Hirnbewusstsein. Als solcher erlischt sie mit der Tätigkeit der betreffenden Hirnteile schon in jedem Schlaf; wieviel sicherer denn beim Tode des Menschen, mit welchem dessen Körper sich in seine einzelnen Bestandteile auflöst.

Wie die Annahme einer persönlichen Unsterblichkeit, so lehnt die Freie Religion hiernach auch die Annahme einer Wiederverkörperung (Reinkarnation) und Seelenwanderung ab, wie sie von der Theosophie und der Anthroposophie eines Rudolf Steiner vertreten wird. Denn jene beruht auf dem Glauben an die selbständige Wirklichkeit des Ich, und diese ist unvereinbar mit dem Begriff der inneren religiösen Freiheit als Bestimmtwerden des menschlichen durch den göttlichen Willen auf Grund ihrer gemeinsamen Wesenheit.

Es kommt hinzu, dass die Annahme der Wiederverkörperung auch theoretisch unbeweisbar und mit Widersprüchen behaftet ist. Mein Ich, an dessen Erhaltung über den Tod hinaus mir allein gelegen werden kann, ist erfahrungsgemäß an meinen leiblichen Organismus und die Tätigkeit meines Gehirns gebunden, geht folglich auch mit dem Tod unter. Wenn folglich nach meinem Tod noch ein Ich, das Ich des so genannten „Astralleibes“, der hinter meinem und in meinem körperlichen Organismus sich befinden soll, übrig bleibt, so bin ich dies jedenfalls nicht und kann daher für dessen Übrigbleiben auch kein Interesse haben. Das Ich eines  von meinem verschiedenen Leibes ist für mich ein fremdes Ich; es steht mir in keiner Weise näher als das Ich irgend eines anderen Individuums. Es ist daher auch nichts weiter als eine Selbsttäuschung, vom Fortleben dieses Ich als von einem solchen „meines“ Ich zu sprechen.

 

Was ist unter der Freiheit des Menschen zu verstehen?

Wird Freiheit als Unabhängigkeit des menschlichen Willens von Gesetzen überhaupt verstanden, so widerspricht sie dem Begriff der Weltordnung und Weltgesetzlichkeit, der Grundlage und Voraussetzung alles religiösen Glaubens. Eine solche Freiheit muss daher vom religiösen Standpunkt aus verworfen werden.

Mit derselben Entschiedenheit muss aber der religiöse Mensch auch die grob sinnliche (materialistische) Auffassung von sich weisen, nach der jede Äußerung des Willens rein naturgesetzlich (maschinengemäß) oder bloß durch körperliche Vorgänge bedingt sein soll. Denn diese schließt eine Selbstbestimmung in der Hingabe des Menschen an die göttliche Weltordnung aus und vernichtet damit gleichfalls die Religion.

Der Wille ist frei gegenüber dem Naturgesetz, aber bestimmt durch die Gesetze des Seelenlebens. Diese innerliche, seelische, nicht äußerliche, mechanische oder maschinenmäßige Gesetzmäßigkeit seines Willens befähigt den Menschen, sich frei: entweder im Sinne seiner leiblichen Natur und seines auf ihr beruhenden Ich oder aber im Sinne der göttlichen Wesenheit seiner Seele, d. h. seines „wahren Selbst“, zu bestimmen. Jenes ist die natürliche (egoistische), dieses die religiöse Selbstbestimmung. Auf ihr beruht die Möglichkeit des sittlichen Handelns.

 

Wie verhält sich das Selbst zum Ich?

Selbst und Ich verhalten sich wie Wesen und Erscheinung, wie Seele und Bewusstsein, wie das Subjekt der seelischen Tätigkeiten und dessen Widerspiegelung im menschlichen Bewusstsein zueinander. Das Ich ist der an und für sich unwirkliche Brennpunkt, in welchem die unbewussten Stahlen der seelischen Tätigkeit nach ihrer Rückstrahlung am körperlichen Organismus zusammenlaufen, kein Mittelpunkt ausgehender, sondern bloß ein solcher einfallender Strahlen; es kann daher für sich selbst auch keine Tätigkeit entfalten. Alle Tätigkeit ist letztlich eine solche des Selbst, das die Strahlen seiner Äußerung auf einen Hohlspiegel, den menschlichen Organismus, das Gehirn, richtet, von welchem sie zurückgeworfen und in einem und demselben Mittelpunkt, dem Brennpunkt dieses Spiegels, d. h. dem Ich, vereinigt werden.

Das Ich ist trotz seiner begrifflichen Gleichheit in jedem Einzelnen ein anderes, sofern es auf der Verschiedenartigkeit ihrer leiblichen Organisation beruht.

Das Selbst hingegen ist in allem wesentlich dasselbe, und seine Verschiedenartigkeit rührt nur daher, dass das einheitliche, mit sich selbst gleiche, allumfassende Subjekt der seelischen Tätigkeit durch die verschiedenen leiblichen Organismen zu ebenso vielen verschiedenen Individualsubjekten eingeschränkt ist. Das Ich trennt die Einzelnen voneinander und ist, sofern es sich auf sich selbst versteift, die Ursache aller Unsittlichkeit und alles Bösen. Das Selbst vereinigt sie, setzt die Schranken der Einzelnen zu solchen bloß ihres erscheinungsmäßigeren Daseins herab und begründet damit die Möglichkeit eines sittlichen, d. h. über-ichlichen, Verhaltens der sich wechselseitig ausschließenden und bekämpfenden Iche.

Ich und Selbst sind also nicht zwei verschiedene „Seelen“ in der Brust eines und desselben Einzelnen, sondern nur zwei verschiedene Gesichtspunkte, wodurch die Einzelnen ihr Verhalten zueinander bestimmen. Das Verhalten entsprechend demjenigen des Selbst heißt Sittlichkeit, und dieses wird zum religiösen Verhalten, wenn das Selbst als allumfassendes (absolutes) göttliches Wesen verstanden wird. Alle Unsittlichkeit beruht darauf, dass der Mensch bei seinem Handeln sein Ich für etwas Wesentliches, Tätiges, für sich Wirkliches, für den Mittelpunkt ausgehender Strahlen ansieht, anstatt dessen rückbezügliche, unwirkliche und untätige Beschaffenheit zu durchschauen, dass er mit anderen Worten sein Ich mit seinem Selbst verwechselt und gemäß dieser Verwechslung sein Handeln einrichtet.

 

Was heißt sittliches Handeln?

Sittlich heißt ein Mensch im Sinne der Weltordnung, die wir eben darum als sittliche Weltordnung bezeichnen, ein Handeln nicht im Sinne des leiblich bedingten Ich und seiner Eigenzwecke, sondern ein Handeln im Sinne der Weltseele, die zugleich unsere eigene Seele ist: also ein Handeln aus unserem wahren Selbst heraus, die uneigennützige Hingabe des Menschen an die allumfassende göttliche Ordnung, die opferwillige Unterwerfung des eigenen unter den all=einen Willen und die Übernahme der Ziele dieses göttlichen Willens. Ein solches Wirken nicht um unsert-, sondern um Gottes-willen ist nicht nur sittlich, sondern auch religiös. Ja, es ist eins mit der Religion und erhebt die sittliche Weltordnung zur religiösen Heilsordnung.

Der Anhänger der freien Religion verwirft alle Sittlichkeit als unecht, die nicht um Gottes-willen, sondern um des Menschen, um des eigenen Ich willen, im Hinblick auf Lohn oder Strafe, sei es im Diesseits, sei es in einem eingebildeten Jenseits, vollzogen wird.


 

Und er betrachtet als minderwertig jede Form der Sittlichkeit, in welcher der Mensch sich nicht selbst bestimmt, sich nicht selbst das Gesetz seines eigenen vernünftigen Wesens gibt, sondern sich in blindem Gehorsam den Geboten einer fremden Macht unterordnet, sei es nun denen eines außerweltlichen Gottes oder denen einer Kirche oder sonst irgendwelcher Gewalt.

Nur die aus dem eigenen wahren Selbst heraus vollzogene, eigengesetzliche (autonome) Handlung ist eine „wahre“, dem Wesen des Menschen entsprechende Handlung, und nur die „wahre“ Handlung ist, als sittliche, zugleich eine religiöse Handlung. Alle Sittlichkeit wurzelt insofern in der Religion, in dem Glauben an eine gottgewollte Ordnung und einen Zweck der Welt, in der Hingabe, an den allein der Mensch seinem wahren Wesen entsprechend handelt; und alle Religion gipfelt in der Sittlichkeit, insofern der Glaube an die göttliche Weltordnung nur den Zweck hat, das sittliche Handeln des Menschen zu entbinden.

Eine von der Sittlichkeit unabhängige Religion ist ein ebensolches Unding, wie eine von der Religion losgelöste Sittlichkeit. Denn alles uneigennützige, selbstlose Handeln setzt den Glauben an den höheren Wert eines solchen voraus, und dieser findet seine Begründung nur in einer bestimmten religiösen Weltanschauung. Eine religionsfreie Sittlichkeit „Ethische Kultur“) hat höchstens nur als Zwischenstufe und Übergangsglied zwischen einer veralteten religiösen Weltanschauung und einem neuen religiösen Glauben eine gewisse geschichtliche Berechtigung. Über sie baldmöglichst hinwegzukommen und die Sittlichkeit wieder in einem religiösen Glauben zu verankern, ist ein Hauptziel der freien Religion.

 

Bedarf der Mensch einer Erlösung? Worin besteht sie und wie wird sie erreicht?

Als Einzelner, von der übrigen Welt abgesondert und doch wieder von ihr abhängig, beunruhigt von den ungeheuren Rätseln des Daseins, sieht der Mensch sich allerwärts von fremder Gewalt bedroht um dem allgemeinen Los alles Lebens, der Vergänglichkeit und dem Leid, unterworfen. Er hat das Bewusstsein der Unangemessenheit seines Ich an sein eigentliches Wesen, das Gefühl der Einsamkeit, Verlassenheit, Eingeschränktheit und Ohnmacht seines Ich und empfindet diese, ebenso wie die allgemeine leidvolle Beschaffenheit des Daseins, als ein Übel. Zugleich gesellt sich zu diesem Bewusstsein des Übels infolge des Zwiespalts seines mit sich selbst unzufriedenen Gewissens ein Gefühl der Schuld, die Sünde heißt, wenn sie, wie vom religiösen Menschen, als Verletzung eines göttlichen Gebotes aufgefasst wird. So fühlt der Mensch sich doppelt unselig, mit der Welt und sich selbst im Wider-

spruch, außer Einklang mit seinem eigentlichen wahren Wesen und wünscht, von dieser zwiefachen Unseligkeit erlöst zu werden und zur Übereinstimmung mit sich selbst, mit seinem Wesen zu gelangen. Diese Erlösung findet er in der Religion.

Durch den Glauben an Gott, das all=eine Wesen, in welchem alle Widersprüche ihre Lösung finden, von dem er selbst nur ein Teil, eine Sondererscheinung, eine eigentümliche Einschränkung ist, fühlt der Mensch sich mit Gott und der durch die Bindung an Gott zugleich mit der übrigen Welt zu einer inneren unauflöslichen Einheit verbunden, der Vergänglichkeit, Vereinzelung, Beschränktheit und Einsamkeit entnommen und damit zugleich über die widerspruchsvolle Beschaffenheit der Wirklichkeit hinausgehoben. Aus dem Bewusstsein der wesenhaften Einheit seiner eigenen Seele mit der göttlichen gewinnt er die Kraft, die Wesenseinheit mit Gott in eine Willenseinheit umzuwandeln, den Kampf mit seinen eigennützigen, gottwidrigen, widersinnigen und daher „unwahren“ Neigungen aufzunehmen, die Natur in sich durch den Geist zu überwinden und in der seelischen Verbindung mit Gott sein wahres Selbst im sittlichen Handeln zu bewähren.

Damit ist aber die Erlösung von der Schuld zugleich auch eine solche vom Übel, vom Leiden und der Unvernunft des Daseins. Denn das Übel entspringt ja im letzten Grunde aus der Unbefriedigtheit des selbstischen Begehrens. Es wird aufgehoben, wenn der Mensch sich durch die Religion daran gewöhnt, es als ein notwendiges und gottgewolltes hinzunehmen, und es wird mit der Erlösung von der Schuld zugleich mit vernichtet („Der Übel größtes ist die Schuld“). Übel und Schuld sind nur die beiden Arten, wie die Beschränktheit seines Ich oder die Abhängigkeit des Menschen von der Natur, sein Gliedschaftsverhältnis zur Welt sich in seinem natürlichen wie in seinem sittlichen und religiösen Bewusstsein spiegelt. Mit der Erlösung von beiden fühlt er sich mithin auch über die Schranken der Natur hinausgehoben: die Unterwerfung des Menschen unter die Weltordnung und Weltgesetzlichkeit, die Anerkennung seiner gottgewollten Beschaffenheit und die freiwillige Bejahung der Naturschranken ist als solche zugleich die Befreiung von dem Druck des Daseins.

 

Bedarf der Mensch zu seiner Erlösung eines Mittlers?

Der Mensch, der sich über sein wahres Wesen klar geworden ist, bedarf zu seiner Erlösung keines Mittlers. Denn da er selbst ja nur ein Teil, eine Sondererscheinung oder eigentümliche Einschränkung Gottes, aber nicht ein von diesem verschiedenes und getrenntes Eigenwesen ist, so könnte ihm ein fremder Mittler nichts gewähren, was er nicht ebensogut aus  sich  selbst, aus  seinem wahren Selbst, aus der Einerleiheit seines eigenen Wesens (Selbst) mit dem Wesen (Selbst) Gottes vollbringen könnte.

Aller Glaube an eine fremde äußere Vermittlung der Erlösung ist für eine sich nur selbst verstehende religiöse Denkart bedeutungslos, gleichviel ob diese angebliche Vermittlung in anderen Persönlichkeiten (in Christus, Engeln oder Heiligen) oder in Sachen (heiligen Gegenständen, Sakramenten) oder in bestimmten äußeren Einrichtungen (Kirchen und deren Vertretern) gesucht wird. Ja, sie müsste die Hilfe einer solchen Vermittlung selbst dann abweisen, wenn sie sich von ihrer Wirksamkeit
überzeugen könnte. Denn sie würde ja die eigengesetzliche (autonome) Sittlichkeit in eine fremdgesetzliche (heteronome) verkehren, die innere Freiheit aufheben, damit den eigentlichen Zweck der Religion vereiteln und diese wieder auf eine tiefere Stufe des religiösen Bewusstseins herabdrücken.

 

Was heißt Gnade?

Auch die freie Religion erkennt an, dass es keine Erlösung ohne göttliche Gnade gibt. Aber sie versteht unter dieser Gnade nicht die äußere Wundereinwirkung eines von der Welt geschiedenen Gottes auf den Menschen, sondern die gesetzmäßige göttliche Tätigkeit im Menschen selbst, die als solche zugleich eine Tätigkeit des Menschen ist: die Tätigkeit unseres wahren Selbst, wie sie aus dem Glauben an unsere unbewusste göttliche Wesenheit entspringt und als Kraft des Guten in uns wirksam ist.

So verstanden, umfasst der Begriff der göttlichen Gnade nicht bloß die ursprünglichen Anlagen, die Sinnes- und Gemütsart des Menschen sowie die Einflüsse seiner Erziehung, seiner Umgebung und seines Schicksals, sondern überhaupt alles, was geeignet ist, jene Kraft des Guten, den Willen zur Übernahme der göttlichen Zwecke und die göttliche Tätigkeit im Menschen zu entbinden, zu erleichtern und zu stärken. Dabei gilt auch hier die Gottmenschheit als Bedingung der Erlösung, aber nicht in dem Sinne, als ob der Gottmensch nur einmal in einer angeblichen geschichtlichen Persönlichkeit (Jesus) verwirklicht und wirksam wäre, sondern in dem Sinne, dass der Mensch, als bewusst geistige Persönlichkeit oder als Einheit des geistigen und natürlichen Menschen, durch das Bewusstsein seiner wesenhaften Einheit mit Gott in den Stand gesetzt wird, seine Natur durch seinen Geist mit der sittlichen Weltordnung in Einklang zu setzen, sich selbst im Sinne Gottes zu betätigen und durch die Willenseinheit mit Gott vom Übel und der Schuld erlöst zu werden.

Hiernach verhält es sich also mit der Erlösung genau so wie mit der Sittlichkeit. Wie eine wahre Sittlichkeit nur die ist, die aus dem göttlichen Wesen des Menschen heraus sich selbst bestimmt, nicht aber die, die sich lediglich einem fremden Gebot unterwirft, so ist auch alle wahre Erlösung immer nur Selbsterlösung, Erlösung eines jeden Menschen nicht durch einen anderen, sondern durch ihn selbst, und sie besteht darin, dass der Mensch auf Grund seiner Wesenseinheit mit Gott die im natürlichen Zustand der Ichsucht verlorenen Willenseinheit mit Gott wieder herstellt und dadurch von dem Gefühl der Schuld gegen Gott befreit wird.

Selbsterlösung bedeutet also nicht, dass der Mensch sich unmittelbar als Ich erlöst. Im Gegenteil, ist das Ich mit seinem natürlichen Eigenwillen gerade das, wovon der Mensch erlöst werden will. Selbsterlösung bedeutet vielmehr die Erlösung vom Ich durch das wahre Selbst des Menschen, durch die ihm innewohnende Wirksamkeit Gottes oder die göttliche Gnade, ist also insofern eins mit der religiösen Selbstbestimmung. Indem der Mensch sich aus seinem wahren Selbst, nicht aber aus seinem Ich heraus bestimmt, wird er aus einem natürlichen und ichsüchtigen, als der er ursprünglich geboren wird, in einen geistigen und sittlichen, sich an die allgemeinen Zwecke Gottes hingebenden verwandelt. In dieser Sinnesänderung, dieser „Umkehr“ der beiden Pole unseres Wesens besteht das, was sie christliche Lehre nach Paulus als Wiedergeburt bezeichnet und irrtümlich auf einen besonderen Wundereingriff Gottes zurückführt.

 

Wie stellt sich die Erlösung für das Bewusstsein des Menschen dar?

Der in Gott wiedergeborene Mensch weiß sich selbst als einen anderen, als er vorher war, und daher auch nicht mehr schuldig für seine früheren Verfehlungen. Die Übereinstimmung seines menschlichen mit dem göttlichen Willen spiegelt sich in seinem Gefühl als Seligkeit: nicht als jene überschwängliche Seligkeit eines von allen seinen Gesetzen losgelösten Seelenzustandes, wie die christliche Kirche sie ihren Gläubigen als eine „ewige“ in ihrem erträumten Himmel verheißt und wie der Mystiker sie schon hier in Zuständen der Entzückung zu erleben wähnt, sondern als Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes des Gefühls, wie er durch die Schuld der Abweichung von Gottes Willen, durch das Herausfallen aus der göttlichen Weltordnung und durch die Beschränktheit und Ohnmacht des Menschen gegenüber der Welt getrübt war. Sie ist das Gefühl der Geborgenheit in Gott und zugleich der Freiheit gegenüber der Welt und den eigenen ichsüchtigen Trieben, entsprungen aus dem Bewusstsein in der Wesenheit mit Gott. Sie ist in diesem Sinne Friede, Friede in und mit Gott oder Gottesfriede: der gefühlsmäßige Widerschein jener Hingabe an Gott, die das Wesen der Religion überhaupt ausmacht.


 

Der wiedergeborene, in Gott zum Frieden gekommene Mensch ist mit der Welt zu=frieden. Er begreift, dass alles Geschehen in der Welt so ist, wie es unter den gegebenen Bedingungen notwendig sein muss, dass es vernunftbestimmt und dass es in diesem Sinne „gut“ ist. Er nimmt die Welt mit all ihrem Leid, ihren Schmerzen, ihrer Trübsal, ihren Widersprüchen und Dunkelheiten als ein von Gott Bestimmtes hin, indem er auch das Übel und das Böse als Mittel zur Verwirklichung der göttlichen Zwecke versteht. Er will, was Gott will, und da Gott die Weltabhängigkeit des Menschen will, so will er auch die Hemmungen über sich ergehen lassen, die aus seiner natürlichen Beschränktheit entspringen. Er sagt ja zu seinem Schicksal (Nietzsches „amor fate“), mag dieses seinen persönlichen Wünschen auch wenig genug entsprechen. („Nicht, wie ich will, sondern wie du willst“. „Nicht mein, sondern dein Wille geschehe“) Er schickt sich in den Lauf der Welt um Gottes willen, da er in allem nur die Gegenwart Gottes selbst, das Walten seiner Vernunft und das Wirken seiner Macht, er Gottes Willen als seinen eigenen, als den Willen seines wahren Selbst und damit auch die Schranken der Natur als ein im letzten Grunde von ihm „selbst“ Gewolltes erkennt. Er lernt die Unfreiheit in der Welt als ein Werk seiner eigenen Freiheit verstehen. Und indem er sich so mit der Welt versöhnt, gewinnt er die Kraft zum Ertragen ihrer Leiden, die Freudigkeit zur Erfüllung seiner Aufgaben im Leben und die Fähigkeit zu unbeirrter Hingabe an die Ziele Gottes.

So ist die Religion nichts anderes als die Erlösung des Menschen von seiner Naturabhängigkeit auf Grund des Bewusstseins seiner Freiheit und seine Versöhnung mit der Welt auf Grund der Einsicht in die Unabwendbarkeit des Weltgeschehens infolge seiner Vernünftigkeit. Wer diese Vernünftigkeit und Freiheit anerkennt und nach ihr sein Handeln einrichtet, der hat Religion. Alles Übrige ist nur geschichtlich bedingte Form und Weise, wie ihr freiheitlicher Grundcharakter und die schlechthinnige Vernunft der Welt sich im Bewusstsein der Individuen darstellt.

 

Wie verhält sich die freie Religion zur Mystik?

Mystik heißt das Bestreben des Menschen, durch gänzliches Sichzurückziehen aus der Außenwelt innere Sammlung und Einkehr bei sich selbst mit Gott unmittelbar vereinigt zu werden und die Erlösung als göttliche Seligkeit zu genießen.

Die Mystik ist eine Art des abstrakten Monismus mit seiner Annahme der bloßen Scheinhaftigkeit der Welt und der allgemeinen Wirklichkeit Gottes und muss schon deshalb von der freien Religion verworfen werden, weil sie auf dem Widerspruch beruht, den unbewussten (überbewussten) Gott mit dem Bewusstsein unmittelbar ergreifen, Gott „erleben“, mit seinem Ich in Gott verschwinden und trotzdem diese Einheit mit Gott als Seligkeit des Ich genießen zu wollen.

In Wahrheit ist eine unmittelbare Vereinigung des Ich mit Gott, ein unmittelbares Ergreifen und „Erleben“ Gottes oder des unbewussten Selbst des Menschen, ebenso unmöglich, wie das Ich als solches für Gott erklärt und damit im Sinne Stirners „Einzigem“ oder Nietzsches „Übermenschen“ für absolut angesehen werden kann.

Alle Religion hat den Unterschied von Ich und Selbst zur Voraussetzung und beruht auf der Spannung zwischen beiden. Diese Spannung kann nur durch das dem Selbst angemessene Verhalten des Menschen aber in keiner Weise dadurch gelöst werden, dass man, wie die Mystik, das Ich im Selbst (Gott) oder, wie Nietzsche, das Selbst (Gott) im Ich verschwinden lässt und beide unmittelbar für Eines und Dasselbe ansieht.

 

Was hat die freie Religion ihren Anhängern zu bieten?

Die freie Religion verspricht ihren Anhängern keine „ewige Glückseligkeit“ in einem jenseitigen „Leben nach dem Tode“. Sie verwirft diese angebliche himmlische Seligkeit als einen nichtigen Traum des glückshungrigen Eigenwillens, als eine Forderung nicht des religiösen, sondern des selbstischen (ichsüchtigen) Bewusstseins, als eine Untergrabung und Verfälschung aller wahren Sittlichkeit, die, wenn es eine solche Glückseligkeit gäbe, alle innere religiöse Freiheit zunichte machen würde. Nach ihr [der freien Religion] besteht das „ewige Leben“ nicht in einem Leben von unendlicher Dauer nach dem Tode, sondern ist das „Leben im Ewigen“, das Leben im Gedanken an den göttlichen Wesensgrund des Menschen, die Betrachtung der Welt aus dem Gesichtspunkt der Ewigkeit und das Handeln aus jenem ewigen Mittelpunkt heraus, woraus sich alsbald die „ewige Glückseligkeit“ als Glückseligkeit im Ewigen, im Bewusstsein seiner wahren göttlichen Wesenheit von selbst ergibt.

So bietet die freie Religion ihren Anhängern in dem Glauben an die Weseneinheit von Mensch und Gott oder das Zusammenfallen des menschlichen mit dem göttlichen Selbst die Bedingung ihrer Willenseinheit mit Gott und damit ihrer inneren Freiheit, der Übereinstimmung mit ihrem Wesen. Sie begründet und stärkt hierdurch das Zutrauen des Menschen zu sich selbst in einem Grade, wie keine andere Religion, die Gott und Mensch erst durch irgendwelche künstliche Vermittlung zusammenbringt, ohne ihn aber dadurch zu hochmütiger Selbstüberhebung zu verführen. Sie erlöst ihn aus der Enge und Dunkelheit seines Ich, verleiht ihm die Berechtigung, sich im Geiste als das Höhere gegenüber der Natur zu fühlen, gibt ihm damit zugleich den Antrieb, sich seine  Zwecke  über alles bloß natürliche Geschehen hinaus zu setzen, erfüllt ihn mit

Kraft und Begeisterung für diese „übernatürlichen“, geistig-sittlichen Zwecke und setzt ihn so, durch den Hinweis auf seine Gottmenschlichkeit, in den Stand, wirklich ganz er selbst, ganz Mensch zu sein und den höchsten Grad der Vollkommenheit und Seligkeit in Gottes Frieden zu erreichen.

 

Kann der Anhänger der freien Religion beten?

Alles Gebet ist eine Bitte um die Gnade Gottes. Wird die Gnade, wie in den zwiespältigen theistischen Religionen, als eine von außen her auf den Menschen wirkende Tätigkeit eines von der Welt verschiedenen Gottes vorgestellt, so ist das Gebet die Bitte um eine Abänderung der Weltgesetzlichkeit zugunsten des Menschen und folglich nicht bloß widersinnig, sondern auch widerreligiös, da die Religion ja gerade auf der Anerkennung der Weltgesetzlichkeit beruht und der Wunsch nach einer Änderung dieser bestehenden gottgewollten Ordnung nur aus eigensüchtigen Beweggründen entspringen kann. Ein solches Gebet also ist unter allen Umständen zu verwerfen.

Anders, wenn die Gnade als gesetzmäßige göttliche Tätigkeit in uns selbst, als eine dem Menschen notwendig (unveräußerlich) zugehörige und sein Sonderdasein begründende aufgefasst wird!  Dann ist Gebet nur eine Art Selbstgespräch des Menschen mit seinem eigenen Inneren, die in Worte gefasste Einstellung seines Ich auf sein wahres Selbst: der Mensch löst in Gedanken sein Ich (Bewusstsein) von seinem (unbewussten) Selbst los, stellt es diesem, das zugleich das allumfassende Wesen und der gemeinsame Grund alles Sonderdaseins (auch der übrigen Iche) ist, gegenüber und bittet um gnädigen Beistand dieses all-göttlichen Selbst, um dadurch seines Lebenszusammenhanges mit ihm gewiss und seiner wahren göttlichen Wesenheit in möglichster Eindringlichkeit sich selbst bewusst zu werden. Hier ist also das Gebet nicht eine eigennützige Forderung an Gott oder ein auf diesen ausgeübter wunderhafter Zwang, wie in den heidnischen Religionen und im Christentum, besonders in der römisch- und griechisch-katholischen Kirche, sondern es ist die Selbstbesinnung des Menschen auf die göttliche Tiefe seines Ich und zugleich eine Selbstaufforderung zu einem dieser seiner göttlichen Wesenheit entsprechenden Verhalten. Es ist die Bitte des Menschen um Kräftigung seines religiösen Bewusstseins und insofern selbst eine wahrhaft religiöse Handlung, die darum auch nicht trügerisch ist, weil jede bewusste Einstellung des Ich auf sein wahres Selbst zugleich eine Kräfigung des Ich durch den göttlichen Wesensgrund des Menschen vermitteltst der in ihm wirksamen Gnade darstellt. 

Ende


 

1917

Kosmische Entwicklung

von Georg Pick

 

 

Freie Religion; Juli/August 1924

 

Der Zufall hat mir einige Blätter in die Hände gespielt, die ich während des Weltkrieges [I. Weltkrieg] in einer freien Stunde beschrieben habe. Es war das erste Mal, dass mir meine freireligiöse Weltanschauung in ihrer ganzen Weihe und Gewalt zum Bewusstsein kam. Das Geschriebene sei im Folgenden wiedergegeben.

Georg Pick

Am Narotsch-See, den 13. 8. 1917

 

Aus dem Unendlichen kommen wir, ins Unendliche gehen wir. Aus dem Unendlichen nehmen wir die Kräfte des Lebens, dem Unendlichen schenken wir Kraft um Kraft, Wirkung um Wirkung.

Das Unendliche ist ein Wachsen. Was es sonst ist, können wir nicht wissen. Wir wissen nur: es ist ein Werden, ein wunderbares Aufwärtsstreben.

Das ganze Wesen des Unendlichen, seine Vergangenheit, seine Zukunft ist in uns zum Menschen geworden, der Logos [1] der Welt zum Fleisch, das Absolute zum Bewusstsein seiner selbst. Indem wir auf uns schauen und in uns, was ja dasselbe ist, schauen wir auf einen Brennpunkt aller Strahlen, die die Ewigkeit zu versenden hat.

Im Anfang war ein Ahnen, eine Sehnsucht, ein Sich-Regen und Recken des Welterwachens. Ist es nicht noch lebendig in dir als die dunkle Kraft des Werdenwollens? 

Nichts stirbt in der Welt, alles bleibt lebendig und hat ewiges Leben, auch der erste unendliche Anfang ist noch da. In den Welten ist er, die am Sternenhimmel neu erscheinen, in den Knospen ist er, die sich dem Sonnenlicht erschließen, in uns ist er, die wir aus der Eizelle wurden und Tag für Tag zu neuen Menschen werden. Manchmal merken wir’s kaum, manchmal wird die ganze Wahrheit mächtig und gegenwärtig. Ein Gefühl, als wären wir neu geboren, rinnt durch unsere Adern. Was gestern war, kann heute schon tot sein in mir, was ich gestern ahnte, ist heute offenbar und zum Wissen geworden.  Was ich heute bin, wird morgen tot


 

sein. Jeden Tag sterbe ich, jeden Tag wache ich wieder auf und bin dann ein Größerer, Schönerer; denn das Leben ist Entwicklung.

Das Leben ist Entwicklung, weil auch die Welt Entwicklung ist, denn das Leben ist der Spiegel der Welt.

Als die Welt zum Werden erwachte, da erwachte das Ringen in ihr, das Messen der Kräfte, das Stoßen der Kräfte, das Vergleichen, das Siegen, das Friedenschließen und die Liebe, die die größte unter ihnen ist, ist immer steigende Vollendung.

Aus dem Walten titanischer Kräfte fügt sich der Weltenbau; sie schufen aus sich rollende Nebel, sie schufen Sonnen mit ihren Planeten, aus deren Liebe und Flucht das Kreisen entstand.

Hörst du nicht die Wellen dieses gewaltigen Naturgeschehens auch in dir weiterklingen? Fühlst du nicht, wie die Kräfte deines Wesens miteinander ringen, bis der höhere Ausgleich gewonnen ist? Hast du schon einen Entschluss gefasst,  groß oder klein,  dann hast du erlebt,  wie die Elemente deines Wesens mit lautem Schlachtruf aufeinander prallen, bis Friede war. Und als dieser Friede kam, da zog ein beglückendes Gefühl in deine Seele, denn du hattest eine neue Stufe erstiegen auf dem Wege des Lebens.

Aus diesem Walten wurde und wird das Leben, das Reich der Pflanzen und der Tiere und die Menschheit. Siehst du, wie die Kräfte allüberall sich umfassen? Aus ihrem Kampf formt sich das Neue, das Höhere, das Reinere. Herrlich, wo dieser Kampf sich zum Wettkampf der Liebe bändigt! Hast du schon der roten Körper gedacht, die deinen Leib durchfluten, ohne Hass gegen ihresgleichen, nur allesamt arbeitend an dem Bau des Menschen?

Die Geschichte der Menschheit besteht aus Hass und Ausgleich, aus Liebe und Arbeit, aus Werden und Wachsen. Ihre Gegenwart ist die Erfüllung der Sehnsucht vergangener Zeiten, in ihr ruhen die Inhalte, die einst waren, zu neuer Form vereinigt.

In der Geschichte der Menschheit steht der einzelne Mensch.

In ihm feiert das vergangene Weltall, in ihm das Reich der Organismen, in ihm die Menschheit die Auferstehung, ihr Erwachen in einem seiner selbst bewussten Geist.

Je vollkommener, schöner, harmonischer all diese Vergangenheit zu neuem Leben erwacht, desto vollkommener ist das Individuum.

Was meine Vorväter waren, das ist auch in mir, ihr ganzes Werden ist auch das meine, aber ich stehe über ihnen, indem ich sie alle in mir vereinige, ich bin ein neuer Gedanke der Ewigkeit.

Meine Vorväter  haben aus  ihrer  Kultur geschöpft,  nicht aus sich selbst


 

allein. Auch ich schöpfe aus der Menschheitskultur, ihre Künstler, ihre Philosophen, ihre Propheten sind in mich eingegangen und leben in mir.

Darum ruht das ganze Weltall in meinem Leben, die ganze vergangene Ewigkeit.

Wohin geht die Welt, was will der Gang des Geschehens? – Wir können’s nicht wissen. Es liegt wie der Grund des Meeres im Blau des Unendlichen. Da finden wir nur ein geheimnisvolles Wort: Das heißt Erfüllung, das heißt Vollendung.

Es heißt Erfüllung; denn in allem, was ist und wird, liegt ein Sehnen nach diesem Ende. Dieses Ende lag schon im ersten Erwachen der Welt, es lag in der Sehnsucht, die ihr den Odem des Lebens einblies, sie war gewollt im ersten Frieden, den der Ausgleich der Kräfte schuf.

So schreitet die Entwicklung der Welt von Erfüllung zu Erfüllung, von Sehnsucht zu Sehnsucht empor bis zum Menschen. Erfüllung ist der Mensch, darum liegt in ihm das Ganze der vergangenen Ewigkeit. Sehnsucht ist der Mensch, darum liegt in ihm die künftige Ewigkeit.

Lass sie einströmen, o Mensch, alle die Wunder in dein Leben, die die Gegenwart dir offenbart, lass sie reden wie die Stimme des Gewitters von dem Übermenschlichen, von dem Schaffen der Mächte, die Stein auf Stein fügten zum Bau des Weltentempels.

Halte die Sehnsucht wach! Sie ist das Wesen der Welt, lass sie das deine sein, denn in dir ist die ganze Welt. Aus der Sehnsucht wird dir das Streben, aus dem Streben die Erfüllung. Beide aber, Streben und Erfüllung deines Sehnens wird dir in der Arbeit, wird dir in der Tat.

Vor dir liegt die Schöpfung, dass du sie empfangest, in dir liegt sie, dass du sie wirkest.

Wunder auf Wunder sind in dir gehäuft, willst du Wundertäter sein, so lass sie hereinrauschen ins Weltgeschehen, stürmisch und schäumend wie Wellen oder ruhig und leise, wie dein Leben gebietet.

Als ein Kind der Menschheit bist du geworden was du bist. Sei was du bist, auch ganz.  Jeder Augenblick ist das Geschenk der unendlichen ewigen Welt. Sei dein Leben kurz, sei’s lang; da ist kein Unterschied. Schenke ihr alles, was du hast, der Welt, der Menschheit; schenke ihr deinen Hass, deine Liebe, deine Sehnsucht, deine Tat, alles was du hast.  Schenke ihr jubelnd und jauchzend, denn das Walten der Welt ist in dir.

Dass du ein Glied seist in der Kette, die sich spannt aus den dunklen Tiefen der Vergangenheit in die endlosen Höhlen der Zukunft, von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Dann bist du zugleich alles in allem.


 

Juli 1918

 

Verfassung der Freireligiösen Landesgemeinde Baden

 

aus: „Karl Weiß – 125 Jahre Kampf um Freie Religion“

Mannheim,

1970

 

Schon am 7. Juli 1918 konnten die Vertreter der fünf badischen Gemeinden in den „Vier Jahreszeiten“ in Karlsruhe zusammentreffen, um die Verfassung zu besprechen... Die 10 Titel waren verhältnismäßig rasch erledigt, bis auf den Titel „Von den Grundsätzen der Landesgemeinde und ihre Stellung zur Kirche“, ...

Der Paragraph heißt nun:

„Die Freireligiöse Landesgemeinde versteht unter Religion den Glauben an eine der Welt innewohnende, in ihr sich auswirkende geistige Macht und damit an einen Sinn und Zweck des Daseins. Diese Macht nennt sie Gott. Begriff, Bild und Vorstellung Gottes überlässt sie im Übrigen dem persönlichen Bedürfnis, Denken und Empfinden des Einzelnen.“

„In Anwendung auf das Leben ist ihr die Religion das Streben, das Göttliche im Menschen zu entfalten und sich so zur freien, sittlichen Persönlichkeit herauszubilden.“

„Die Freie Religion ist mit den bestehenden Religionen darin einig, dass auch sie nach religiös-sittlicher Vervollkommnung strebt.“

„Sie ist darin von ihr getrennt, dass sie den Glauben an eine außerweltliche Offenbarung, Hilfe und Vermittlung sowie an eine außerweltliche Belohnung und Bestrafung ablehnt.“

... Aus den „Erläuterungen zur Verfassung“ sei noch folgendes hervorgehoben:

I.            In der Verfassung des Bundes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands aus dem Jahre 1859 steht als Zweck angegeben: „Förderung des religiösen Lebens“. Hier ist zunächst ein unzweideutiges Bekenntnis zur Religion gegeben. Noch genauer spricht sich die Verfassung der Freireligiösen Landesgemeinde Badens aus: sie will die Freireligiösen in eine Gemeinschaft zusammenschließen, um das ihnen eigene religiöse Bewusstsein zu klären und zu vertiefen und im Leben zur sittlichen Wirkung zu bringen. „Fördern“ heißt doch nicht verneinen, sondern aufbauen, und „klären und vertiefen“ heißt nicht auflösen, sondern zum Leben erwecken, heißt die religiösen Gefühle im starken Hauch des Lebens fruchtbar zu machen. Dass wir, und zwar stark, verneinen mussten, das geben wir unumwunden zu.  Doch  verneinten  wir nur, um bejahen  zu können,  wir verneinten die äußeren Erscheinungen der Religion, deren Schule im Verlauf der Jahrhunderte erstarrt und des Geistes bar geworden ist. Wir verneinen aber niemals das Ewige der Religion, das aus dem Wesen und dem Gemüt des Menschen entspringt und dort allein seinen Ursprung hat.

Um den verwirrenden Begriffsbestimmungen über Religion entge-gen zu treten, haben wir in der Verfassung auch gesagt, was unter Religion zu verstehen ist. Es gibt solche, die behaupten, Religion sei Wissenschaft und Kunst, andere, die sagen, sie sei Sozialismus, wieder andere, sie sei Menschlichkeit oder Gewissenhaftigkeit. Aber all dies ist nicht Religion, kann jedoch zu ihr in die innigsten Beziehungen treten. Die Religion gibt der Wissenschaft Begeisterung, der Kunst Wärme, dem Sozialismus Tiefe, der Menschlichkeit und der Gewissenhaftigkeit den ewigen Gehalt. Wie die Farben rot stets rot, grün stets grün leuchten, der musikalische Ton g immer in g schwingen wird, so wird Religion, wissenschaftlich verstanden, niemals ihrem Wesen entfremdet werden dürfen, immer nur das sein können, was sie von Anfang an war: Das Gefühl des Menschen von seinem Zusammenhang mit dem All-Einen, seinem Einssein mit dem Ewigen und Unendlichen. So sagen wir in unserer Verfassung: Unter Religion verstehen wir den „Glauben an eine der Welt innewohnende, in ihr sich auswirkende, geistige Macht“. Damit bekennen wir uns zum All-Einen, Allumfassenden, Allerhaltenden, wie sich der Dichter ausdrückt, und geben der Trennung zwischen Gott und Welt, Jenseits und Diesseits, Seele und Körper den Abschied. Und weiter bestimmt die Verfassung: „Diese Macht nennen wir Gott„. Angehörige der freigeistigen Kreise haben daran Anstoß genommen. Sie hätten es lieber gesehen, wenn das Wort „Gott“ gar nicht genannt worden wäre. Wir wissen ja auch, welch schwerer Missbrauch mit dem Namen Gottes schon getrieben worden ist und noch getrieben wird, und doch benutzen wir ihn, nicht um derer Willen, die an diesem Namen hängen, sondern aus dem einfachen Grunde, um ein Wort zu haben, mit dem wir, ohne lange Erörterungen hervorzurufen, jedem unmissverständlich das  All-Eine,  das Ewige nennen können. Auch das Wort, heiße es wie es wolle, ist nur ein Bild, und ein sehr unzulängliches, da es niemals restlos das bezeichnen wird, was wir in unserem Geiste damit sagen wollen. Die Hauptsache dabei ist stets, dass wir uns von der lebendigen Kraft, der großen Lebensmacht, die durch das Wort versinnbildlicht wird, durchdrungen und getragen fühlen.

II.            Jede Religion, welcher Art sie auch sei, hat nur dann einen Wert, wenn sie sich ausdrückt in einem sittlichen Lebenswandel. Darum sagt die Verfassung der Freireligiösen Landesgemeinde: „In Anwendung auf das Leben ist ihr die Religion das Streben,  das Göttliche im Menschen zu entfalten und sich so zur freien sittlichen Persönlichkeit herauszubilden.“ Die Kirche strebt auch nach sittlicher Vervollkommnung ihrer Gläubigen, der Weg aber, den sie dazu empfiehlt, ist für uns ungangbar. Wir müssen ihn verneinen, um der Würde und Selbständigkeit des Menschen willen, die von der Kirche wohl auch gewollt, die sie aber mit Mitteln zu erreichen sucht, die von der Mehrheit der Menschen nicht mehr verstanden werden. Das Wesen der Sittlichkeit besteht doch darin, dass der Mensch aus seinem eigenen Selbst heraus das Rechte schafft und das Gute tut. Die Kirche aber sagt, dass der Mensch das Gute nur vollbringen könne im Vertrauen auf die Gnade Gottes, also im Vertrauen auf etwas außer ihm Wirkendes, von dem er nie die Gewissheit hat, ob es auch in ihm zur Wirkung kommen werde. Soll der Mensch das Gute aus seinem Selbst, also dem in ihm wohnenden Göttlichen, schaffen, dann muss dieses als Kraft in ihm wirksam sein. Und zu dieser Kraft, die ein Teil der Allkraft ist und Menschengeist wird, müssen wir des Menschen Vertrauen wecken.

Darum müssen wir ablehnen die Kirchenlehre von der Erbsünde, die sagt, dass der Mensch böse sei von Jugend auf und nie das Gute aus sich tun könne, da seine Kraft dazu gebrochen und seine Vernunft getrübt sei.

Wir müssen ablehnen die Teufelslehre, nach der der Mensch durch den Bösen zum Bösen verführt werde und Gott dies zulasse, da der Mensch den freien Willen habe, zu folgen oder nicht.

Wir müssen ablehnen die Gnadenlehre der Kirche, nach der der Mensch unter dem Einfluss der göttlichen Gnade das Gute tue, ob er wolle oder nicht.

Und wir müssen ablehnen die Vergeltungslehre, nach der der Mensch für das Gute, das er nicht aus eigener Kraft, sondern mit Hilfe der Gottesgnade getan, mit einem seligen Leben belohnt und für das Böse, das er unter Zulassung Gottes durch die Verführung des Teufels wirke, mit ewiger Höllenstrafe bedroht werde.

Wir lehnen auch ab die Lehre von einem Vermittler, der den Menschen durch seinen Opfertod die Sündenlast abnimmt. Der Mensch muss sich aus Niedrigkeit und Schuld selbst erlösen durch den steten Willen zum Guten durch die Erfüllung des Guten, wodurch er ein Gegengewicht schafft zu seiner Schuld und sie unter dem Druck des gegenwärtig Guten allmählich löscht.

Wir anerkennen auch nicht die übernatürliche Offenbarung, wie sie einzig in der „Schrift“ als dem Worte Gottes bestehen soll. Alles offenbar werden göttlichen Geistes ist von Anfang an, an menschlichen Geist gebunden gewesen. Menschengeist ist Gottesgeist.

Und dieser Geist ist nicht nur in Propheten und Aposteln zum Ausdruck gekommen, sondern auch in allen jenen Männern und Frauen, die im Verlaufe der Jahrtausende für Menschenwohl und Menschenfortschritt gearbeitet und durch ihren Geist ihn gefördert haben. So sagen wir in der Verfassung der Freireligiösen Landesgemeinde kurz und bündig: „Wir unterscheiden uns von den bestehenden Kirchen dadurch, dass wir den Glauben an eine außerweltliche Offenbarung, Hilfe und Vermittlung sowie an eine außerweltliche Belohnung oder Bestrafung ablehnen.“

III.           Es gibt nun nicht wenige, selbst freidenkende Menschen, die anerkennen, dass die Freireligiösen die Reinheit der Religion wahren und im Menschen die geistige Selbständigkeit und die sittliche Würde festigen, aber sie befürchten, dass es nur wenige Menschen geben dürfte, die stark genug seien, die ihnen gestellte Aufgabe zu erfüllen. Wie wollt ihr, so fragen diese, die seelisch Schwachen, die im Unglück Klagenden, die von den Menschen Verstoßenen, die von der Not Bedrückten, die Trauernden zu trösten? Die Freie Religion ist Leben und Tat. Sie sucht zu helfen, wo sie kann.

Wir Menschen fehlen und fehlen umso mehr, je mehr wir streben. Und laden wir durch solche Verfehlungen eine Schuld auf uns, so können wir sie nur abtragen, indem wir das Zerstörte nach Möglichkeit wieder herstellen, den Geschädigten durch uns Genugtuung zukommen lassen. Da das Böse sich leider nicht immer austilgen lässt und weiter wirkend immer noch Böses erzeugt, auch wenn Jahre darüber hin sind, so können wir uns von solcher Schuld nur durch Häufungen guter Taten entlasten. Also keine Fremdperson kann uns von der Schuld loslösen, so lieb sie uns auch hätte, das können wir nur selbst, indem wir das Göttliche in uns immer mehr wachsen lassen, um uns allmählich von der Trieb- und Erdgebundenheit zu befreien.

Und kehrt Unglück bei uns ein, zermürbt Krankheit unseren Körper, bricht in misslichen Verhältnissen unser schwer errungenes Vermögen zusammen, greift die Not uns an Körper und Seele, was könnte uns freien Menschen der Gedanke an himmlische Vergeltung helfen, wo wir doch hier die Bestimmung unseres Lebens erfüllen sollen und wollen? Lernen wir doch erkennen das, was in allem unserem Unglück selbst verschuldet ist und nehmen wir dessen Folgen mutig auf uns. Aus dem unverschuldeten Leid aber wollen wir die wichtige Erkenntnis ziehen, dass nichts umsonst ist und Schmerz, Leid, Not und Tod Seelenkräfte in uns wach rufen, die uns den Mut geben, auf den Trümmern neu aufzubauen, ein neues Leben zu beginnen, schöner  und  reiner als das alte war, das wir zusammen-


 

brechen sahen; ein neues Leben durch die Liebe, die in harten Erfahrungen gereift, groß und stark wurde und uns jene Taten verrichten lässt, die des Menschen Herrlichkeit auf Erden verkünden.

Und wenn der größte Schmerz uns erfüllt, wenn der Tod an eines unserer Lieben herantritt, wissen wir, dass es für uns keinen Tod gibt. Nichts, was einst Form trug und Gestalt im Leben, geht unter. Es wandelt sich nur, wandelt sich zu neuem Leben in neuer Form; welcher Art sie sei, das ist uns Menschen verborgen.  Wenn kein Atom untergehen kann, das ein Teil und Gestalt war, wie viel weniger kann die bewusst gewordene Kraft, der Geist, vergehen, der  die Atome formte und das Gebilde der Liebe schuf, das nur durch seinen Geist sich unserer Seele unzertrennlich vermählen kann. Nach dieser unzertrennlichen Durchdringung unserer Seele müssen wir trachten. Je mehr wir uns in das Andere hineinleben, es seelisch und geistig zu erfassen suchen, je mehr wird es ein Teil von unserer eigenen Seele, und stirbt es körperlich, dann ist uns eigen sein Geist, es lebt und webt in uns und gehört uns an bis zu unserem letzten Atemzug. So verliert der Tod für den Freireligiösen seine Schrecken.

So wollen die Freireligiösen Leben und Schicksal gestalten in aller Freiheit. Verbürgt doch die erste Verfassung der freien religiösen Gemeinden Deutschlands jedem Gemeindemitglied: „Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten“. Vorausgesetzt ist da, dass der religiös Freie auch sein Selbst erkennen und es Kraft seines Wissens und Gewissens bestimmen kann, dass er in seinem Selbst den Quell der wahren Freiheit erkennt und bei aller Freiheit sich bestimmt fühlt, im Ewigen Halt zu suchen, dessen Kraft in ihm sich geltend macht als Gesetz, Ordnung und Harmonie oder mit anderen Worten als Wahrheit, Schönheit und Liebe. Wer auf dem Weg zum Selbst noch strauchelt, wer nicht Wissen genug hat, selbständig zu urteilen, religiös sich zu führen, der muss sich eben führen lassen, so lange, bis er des geistigen und religiösen Führers nicht mehr bedarf, d. h. bis sein Geist stark genug ist, das innere Seelenleben selbst zu führen und zu bestimmen. Denn wir kennen die Schwierigkeiten, die falsch verstandene religiöse Freiheit in unseren Reihen verursacht hat; wir wissen, wie so oft mit der brüchig gewordenen Schale auch zarte Wahrheitskerne zerstört, wie notwendige Bindungen als Geistesfesseln voreilig abgetan wurden und an Stelle der Freiheit in der Religion eine Freiheit von der Religion trat. Darum darf und kann nur derjenige auf Selbstbestimmungsrecht in religiösen Angelegenheiten Anspruch erheben, der wahrhaft frei und wahrhaft religiös ist. Dies zu werden ist das Ziel jedes Freireligiösen.


 

Aber noch ein anderes gehört zu den unerlässlichen Eigenschaften des Freireligiösen. Das ist die Duldsamkeit. Auch bei den Bekenntnisfreien werden verschiedene religiöse Meinungen vorkommen. Und die freireligiöse Verfassung der Landesgemeinde ist ein Beispiel dieser Duldsamkeit, hat sie doch bei ihrer Religionsbestimmung „Begriff, Bild und Vorstellung Gottes dem persönlichen Bedürfnis, Denken und Empfinden der Einzelnen überlassen“, hat also bei der tiefsten religiösen Frage nach Gott der Freiheit des Gemeindemitgliedes keine Fesseln angelegt. Kommen Meinungsverschiedenheiten vor, so sollen die Einzelnen sich nicht bekämpfen oder Trennungsversuche einleiten, wie es bisher in den Kirchen vorkam, sondern sie sollen sich verstehen lernen und zufrieden sein über das alle einigende Ziel. Das ist der echten Freireligiösen ernstes Streben. Damit dies nicht gefährdet werde, verzichten sie auf Priester, weil überall, wo solche sind, Glaubenszwang und Seelenfang sich zeigen, lehnen sie ab irgendeine Persönlichkeit, sei’s Oberkirchenrat, Bischof oder Papst als eine religiöse Majestät; da eine solche immer eine gewisse Geistes-Knechtschaft zur Folge hat, lehnen sie auch ab ein heiliges Buch als einzige Quelle der Wahrheit, um diese suchen zu können, wo und wann sie quillt. Der Wahrheitsquell fließt nicht nur in Palästina, sondern in vielen anderen Ländern, kommt nicht nur von einem Auserwählten, sondern von ungezählten anderen, die auch ihre Mitmenschen mit göttlichem Geist erfüllen. Überall in der Kulturwelt hat die Wahrheit ein lebensspendendes Stromfeld gefunden, aus dem nach Herzenslust zu schöpfen wir nicht unterlassen werden."

 

Soweit die Erläuterungen zu unserer Verfassung, die zugleich die Richtlinie enthält für das Glaubensleben der Freireligiösen sowie eine Belehrung für die, die für ihre Seele einen neuen Halt suchen, weil sie sich dem Kirchenglauben entfremdet haben.



[1] Logos, der griechische Ausdruck für Gedanke, Vernunft, auch für Wort. Im Sinne der Weltvernunft zum ersten Mal von dem Philosophen Heraklit gebraucht (536 – 470 v. chr. Ztr.), am Anfang des Johannis-Evangeliums von Luther mit „Wort“ übersetzt.