1913
Lebensweisheit
Buch von
Bruno Wille
Deutsches Verlagshaus Bong u. Co.
Berlin – Leipzig – Wien - Stuttgart
Bei dem Buch handelt es sich um eine Zitaten- und Verssammlung. Im
Untertitel heißt es: „Eine Deutung unseres Daseins in Aussprüchen führender
Geister“.
Vor die in Rubriken, wie „Jugend und Alter“, „Schicksal und
eigene Kraft“, „Freundschaft“ oder „Religion und Glaubenssatzung“ usw.,
zusammengefassten Sammlung von Gedichten, Sprüchen und Lebensweisheiten hat
Bruno Wille selbst seine freireligiösen Glaubensanschauungen dargelegt. Er war
um diese Zeit führendes Mitglied der Freireligiösen Gemeinde Berlin, wo er u.
a. Religionsunterricht nach einem von ihm selbst konzipierten Lehrplan
erteilte. Als zudem damals in Deutschland bekannter und anerkannter
Romanschriftsteller und Literat unterscheiden sich seine Ausführungen in
eindrucksvoller Weise von den bis dahin bekannten freireligiösen Darlegungen.
Einleitung / Eine Sinndeutung des Weltalls
1. Die beiden
Bäume im Garten Eden
Um die
Grundansicht dieses Buches von der Lebensweisheit gleich anfangs mit einiger
Deutlichkeit hervortreten zu lassen, sei gesagt, was ich nicht als echte
Lebensweisheit betrachte: nicht Lebensklugheit, die eine Fülle von Erfahrungen
zu einer Anweisung verarbeitet hat, wie man ein möglichst genussreiches Dasein
führt. Allerdings findet auch solch eine Genusslehre Berücksichtigung, doch nur
deshalb, weil es angebracht erscheint, Proben davon zur Anregung zu bieten, um
den forschenden Leser über die egoistische Stufe der Selbsterkenntnis zu
unterrichten und durch Anschauungen in verschiedener Richtung vor Einseitigkeit
möglichst zu bewahren.
Der
„Baum des Lebens“ trägt als Frucht etwas anderes als die Kunst, das liebe Ich
zu hätscheln. Wer darin Meister werden möchte, muss sich an den anderen Baum
halten, von dem die alte Mythe gleichfalls erzählt. Auch er wuchs im Garten
Eden, wo ja alle Typen der Schöpfung versammelt waren und sogar die Schlange der Verführung
zischeln durfte. Ihn schaute die Urmutter der Menschenkinder lüstern an und
gestand sich, dass er „lieblich anzusehen“, dass von ihm „gut zu essen wäre“,
und dass es „ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte“.
So
übersetzt Luther und nennt ihn „Baum des Erkenntnisses Gutes und Böses“.
Tiefsinniger und auch sprachlich richtiger wäre die Übersetzung: Baum der
Unterscheidung des Vorteils und des Nachteils. Die Ichsucht bedeutet er, die
Klugheit des Egoismus.
Hingegen
treibt der „Baum des Lebens mitten im Garten“ gleichsam aus Gottes Herzen
hervor und bedeutet das Heil, das die erbliche Krankheit der Geschöpfe, ihre
Entfremdung vom Ewig-Einen, heilen kann. Zwar hat der Herr, damit der Mensch
„nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse
und lebe ewiglich“, seinen Cherub davor gelagert „mit einem bloßen hauenden
Schwert, zu bewahren den Baum des Lebens“. Doch die Heimat des ewigen Lebens
bleibt nicht versagt dem verlorenen Sohn; den Lebensbaum zu finden nach all der
schmerzlichen Enttäuschung, von ihm zu genießen und dann erst eigentlich „wie
Gott“ zu werden, ist der letzte Sinn der Austreibung aus dem Paradies.
Der
Baum der Unterscheidung von Vorteil und Nachteil spielt nicht allein in der
Schöpfungsgeschichte eine Hauptrolle, sondern auch sonst im Alten Testament; so
in den mosaischen Gesetzen, insofern sie sich mit Lohn und Strafe an die
Ichsucht wenden. Vom Baum des Lebens aber handelt das Neue Testament, handelt
eine Lehre, die sich „den Weg, die Wahrheit und das Leben“ nennt und die alte
Welt des Egoismus auf ein neues Reich, auf eine andere Form des Erlebens und
der Gestaltung des Daseins hinweist. Es geschieht z. B. durch ein Wort, das von
allen revolutionären Losungen die radikalste ist: „Wer sein Leben“ – nämlich
sein Ich – „erhalten will“, also sich ganz dem Egoismus in die Arme wirft, „der
wird es verlieren; wer aber sein Leben“, d. h. dessen starre Ichform, verliert
um meinetwillen, der wird es bewahren“, nämlich in der höheren Form des All-Selbst.
Nichts anderes hat Goethe im Auge, wenn er sagt:
Und
solang´ du das nicht hast,
Dieses:
„Stirb und Werde!“
Bist
du nur ein trüber Gast
Auf der
dunklen Erde.
Wenn
ich die „Heilige Schrift“ anführe, so geschieht es, weil sie gewisse Fundamentalweisheiten
enthält, die höchst volkstümlich geworden sind und mir nicht jüdisch oder
christlich, vielmehr menschentümlich erscheinen; Erlebnisse aller Zeiten und
Völker, genauer gesagt: ihr Wesen. Es gibt eben nur eine Wahrheit, nur eine
einzige echte Religiosität in den besseren Bekenntnissen.
Das
Wahre war längst schon gefunden,
hat
edle Geisterschaft verbunden;
das alte
Wahre, fass es an! Goethe
Das
alte Wahre berührt uns freilich oft fremd, weil es sich nicht in modernen
Begriffen ausdrückt, sondern in einer Sprache, die Sinnbild und Mythe ist. Der
geläuterte Mensch musste, um seine Heilserlebnisse den Menschengeschwistern
mitzuteilen, auf die sinnliche Welt Bezug nehmen. Weil diese uns allen
gemeinsam und vertraut ist, liefert sie uns den elementarsten Stoff zu
Verständigung, ja das Mittel zur Veranschaulichung geheimer Seelenereignisse.
Auch für das „Höchste Wesen“, ja für dieses erst recht, gibt es nur einen
sinnbildlichen Ausdruck.
So
weit das Ohr, so weit das Auge reicht,
du
findest nur Bekanntes, das ihm gleicht,
und
deines Geistes höchster Feuerflug
hat schon
am Gleichnis, hat am Bild genug. Goethe
So
verstanden, können Gestalten einer sonst fabelhaften Mythik zu bedeutungsvollen
Tatsachen der Innerlichkeit werden. Und unter diesem Gesichtspunkt entdecken
wir in den großen Linien der Bibel, die doch ein ganz einziges Dokument
religiöser Erlebnisse darstellt, eine sinnbildliche Beschreibung vom
Herumirren, vom Sehnen und Suchen der Seele nach ihrem heimatlichen Urgrund.
Als sie das Paradies der Einheit verloren hat, stürzt sie in den Kampf ums
Dasein, in ein hartes Ringen mit der wilden Natur, mit all den konkurrierenden
Geschöpfen. Es ist bezeichnend, dass die Weltgeschichte mit Brudermord anhebt,
und dass der Versuch, die zerrüttete Zusammengehörigkeit der Menschenkinder
gewaltsam herzustellen und den babylonischen Turm des Despotismus zu errichten,
daran scheitern muss dass die Völker einander nicht verstehen – was die Art des
Egoismus, sein Entzweien und Entfremden, in einer Variante beschreibt, zugleich
andeutend, erst das gegenseitige Verständnis der Menschen untereinander könne
die Einheit bringen, auf die es ankommt.
Ein
Sinnbild der Heimkehr zum Ewigen ist der Zug des „auserwählten Volkes“ aus der
Knechtschaft durch die Wüste der Not und Versuchung nach jenem „Land, wo Milch
und Honig fließt“, das einem tieferen Ver-stehen nicht etwa das spröde
Palästina, sondern den Garten Eden bedeutet. Die Führung der Suchenden hat
Moses, insofern er die Gesetze gibt und das Bündnis Israels mit Jahve erneuert.
Eine Spur jenes tieferen Sinnes, der die Mosesmythe gestaltet hat, ist die
Stelle im 5. Buch Mose 8,3, nach der das himmlische „Manna“, mittels dessen die
darbende Menge gespeist wurde, das Brot es ewigen Lebens, d. h. das erleuchtete
Gotteswort, bedeutet. Hier liegt also ein Hinweis auf die sinnbildliche
Bedeutung der Geschichte vor. Voll
inniger Empfindung für die Wahrheit, dass das Gesetz nicht hinreicht, die Seele
von der Ichform zu erlösen, dass also Moses durch einen größeren Messias
abgelöst werden muss, hat die suchende Religiosität die Gestalt Christi
hervorgebracht.
Sein
Leben ist ein Mysterium, eine mystische Darstellung der Menschenseele, die ihre
Göttlichkeit entdeckt und sich durch Versuchung, schmähliche Misshandlung und
aufopfernde Kreuzigung hindurch ringt zur Gewissheit des ewigen Lebens. In den
Ausdrücken „des Menschen Sohn“, „Gottessohn“, „eins mit dem Vater“ kennzeichnet
sich eine Erkenntnis, die bereits im Brahmanismus, für das Urchristentum aber
in der Platonischen Philosophie Geltung gewonnen hat; hiernach ist das „Wort“
der innewohnende Sinn und die ewige Vollendung alles Geschaffenen und bedeutet
als „Menschensohn“ den Idealmenschen, die Menschheit als einheitliches und
höheres Wesen. Wer sich vertrauend ihm hingibt, speist vom Baum des Lebens und
lebt ewiglich. Die paradiesische Speise, deren Genuss von allem Hungern und
Dürsten, ja vom Sterben heilt, wird deutlich gekennzeichnet in den
sinnbildlichen Geschichten von der Speisung der Fünftausend mit einem Brot, das
bei der Austeilung nicht weniger wird, sondern mehr, und vom Abendmahl, in dem
der „Logos“ (der ewige Sinn der Schöpfung) seinen Leib und sein Blut zur
Nahrung darreicht, auf dass seine Jünger zu einer Körperschaft verschmelzen.
Auch aus dem Legendenkreis, der Buddhas Gestalt bestrahlt, ließen sich
sinnbildliche Einkleidungen der Weisheit beibringen, ... dass nämlich der Sinn
des Daseins darin besteht, aus dem unrastigen, stets enttäuschenden, schuld-
und peinvollen Ichleben zur Hingabe an eine höhere Sphäre zu bekehren, um
schließlich, von allen Banden der Endlichkeit frei, einzugehen ins Ewig-Eine,
zu „Nirwanas“ Reinheit, Klarheit und Frieden.
2. Wahre
Bereicherung
Wie
grundverschieden von diesem Ideal ist doch das Ziel jener Vielzuvielen, die
Schopenhauer „Fabrikware der Natur“ nennt! Verbissen in den Wahn, sie könnten
nichts anderes sein als ein enges Ich, finden sie die Bedeutung ihres Daseins
nur darin, eifer- und streitsüchtig nach „Glück“ zu hasten. Verfehlen sie es,
so soll die Blindheit des Zufalls und die Tücke des Objekts, Dummheit und
Bosheit der Mitwelt daran schuld sein. Was sie dabei nicht berücksichtigen oder
nicht einmal ahnen, ist die im Weltzusammenhang begründete Verknüpfung des
Leidens mit dem egoistischen Genuss. Ein Entbehren ist seine Vorbedingung, nur
mit diesem mehr oder minder empfundenen Schmerz kann er erkauft werden. Sorge
und Mühsal, Kampf und Gefahr fallen überdies schwer ins Gewicht, als Mittel zu
seiner Gewinnung. Nie geht es dabei ohne eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber
den Nebenbuhlern ab, ja selten ohne
sittliche Verschuldung, die das spätere Leben durch Gewissenspein beunruhigt.
Gewöhnlich werden erstrebte Ziele nicht ganz erreicht, oft völlig verfehlt; und
dann wird wohl der Glaube an die reizende Fortuna durch Groll abgelöst.
Wo
aber die Mittel zu einem Genuss ausreichen, hält er selten, was er versprochen
hat. Mancher Genuss offenbart sich dann auf einmal als eine schillernde
Illusion, die unter der zupackenden Hand wie eine bunte Seifenblase zerplatzt.
Im günstigsten Fall ist die Befriedigung beim Schlürfen des Genusses eine
ziemlich kurze; denn eben an dieser Befriedigung stirbt er. Wenn auch später
neues Begehren nach ihm erwacht, so bringt doch die häufige Wiederholung des
gleichen Genusses eine gewisse Abstumpfung mit sich; nach Abwechslung verlangt
man nun und gesteht mit Faust:
So
taumel ich von Begierde zu Genuss,
und im
Genuss verschmacht ich nach Begierde.
Wehe
aber der Ichsucht, die zuwenig neue Reizungen findet! Stöhnen muss sie unter
der Geißel der Langweile; die schmerzt nicht minder als die Not.
Tiefere Lebenskenntnis
stimmt daher dem Ausspruch Schopenhauers zu:
„Versucht
man die Gesamtheit der Menschenwelt in einem Blick zusammenzufassen, so
erblickt man überall einen rastlosen Kampf, ein gewaltiges Ringen mit
Anstrengung aller Körper- und Geisteskräfte um Leben und Dasein [be]drohenden
und jeden Augenblick treffenden Gefahren und Übeln aller Art gegenüber. Und
betrachtet man dann den Preis, dem alles dies gilt, das Dasein und Leben
selbst, so findet man einige Zwischenräume schmerzloser Existenz, auf welche
sogleich die Langweile Angriff macht und welche neue Not schnell beendigt, Dass
hinter der Not sogleich die Langweile liegt, welche sogar die klügeren Tiere
befällt, ist eine Folge davon, dass das Leben keinen wahren, echten Gehalt hat,
sondern bloß durch Bedürfnis und Illusion in Bewegung erhalten wird; sobald
aber diese stockt, tritt die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseins zutage.“
Einen
bedeutsamen Hinweis tut hier der Philosoph; während das Dasein des gewöhnlichen
Sterblichen, der hauptsächlich Genuss sucht, einer tauben, wurmstichigen Nuss
gleicht, gibt es auch kerngesunde Früchte, dort nämlich, wo der Homo sapiens
seinem Leben „wahren, echten Gehalt“ verleiht. Gerade um diesen Lebensgehalt
handelt es sich, nicht um ein Glück, das flüchtig ist, nie hält, was es
versprochen hatte, und, dem Rausche verwandt, dem schmerzliche Ernüchterung
folgt, „die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseins“ enthüllt.
Nach den
erwähnten Worten des tiefsinnigen Schopenhauers muss es befremden, wenn er
seine „Aphorismen zur Lebensweisheit“ mit der Bemerkung einleitet: „Ich nehme
den Begriff der Lebensweisheit hier gänzlich im immanenten Sinne, nämlich in
dem der Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen, die
Anleitung, zu welcher auch Eudämologie (Glückslehre) genannt werden könnte; sie
wäre demnach die Anweisung zu einem glücklichen Dasein.“
Dass unser
Leben solch einem Dasein entsprechen könnte, hat Schopenhauer rundweg verneint.
„Keiner ist glücklich, sondern strebt sein Leben lang nach einem vermeintlichen
Glück, welches er selten erreicht, und auch dann nur, um enttäuscht zu werden.
In der Regel aber läuft zuletzt jeder schiffbrüchig und entmastet in den Hafen
ein. Dann aber ist es auch einerlei, ob er glücklich oder unglücklich gewesen,
in einem Leben, welches bloß aus dauerloser Gegenwart bestanden hat und jetzt
zu Ende ist.“
Wie ist [mit] dieser pessimistischen Lebensauffassung der
Versuch vereinbar, Lebensweisheit im Sinne einer Glückslehre auszuarbeiten, die
doch, wie ihr Ziel, das Glück, für unmöglich gehalten wird? Ein Widerspruch
liegt hier vor, und nicht zu entschuldigen vermag ihn Schopenhauers
Versicherung, seine Glückslehre habe nur einen bedingten Wert und beruhe auf
einer Anpassung, insofern sie nämlich auf dem gewöhnlichen Standpunkt bleibe
und dessen Irrtum festhalte. Wohl nur deshalb hat Schopenhauer hier mit dem
landläufigen Irrtum einen Kompromiss geschlossen, weil sein Charakter, obschon
mit einem tiefschauenden Geist verbunden, das Streben nach eigenem Glück und
die Sorge vor Unglück nie los geworden ist. Mögen wir solches Zurückbleiben des
Erdensohnes hinter der Einsicht des Weisen für menschlich, allzu menschlich halten,
so geziemt es sich doch nicht, dass wir auf der Suche nach echter
Lebensweisheit den gleichen Irrpfad betreten, im Glückswahn der Menge befangen,
so dass wir nicht zum Baum des Lebens gelangen, sondern jenen anderen Baum mit
ihm verwechseln, der egoistischen Vorteil und Nachteil unterscheiden lehrt.
Mein
abfälliges Urteil über das lebenskluge Suchen des Ich-Menschen nach Genuss
setzt mich dem Missverständnis aus, als ob ich einer büßerlich entsagenden
Weltanschauung huldige. Im Gegenteil! Nicht arm macht die Frucht vom Baum des
Lebens, sie erlöst von Armseligkeit und beschert einen Reichtum, der ins
Unermessliche wächst. Nur freilich bedeutet die Bereicherung, die ich meine,
keineswegs, dass der Ich-Mensch etwas in der Art erhält, wie man ihm einen Haufen
Geld, ein Quantum Lust beibringen kann; diese Bereicherung ist äußerlich; dabei
bleibt man, was man war.
Setz’ dir Perücken auf von
millionen Locken,
Setz’ deinen Fuß auf
ellenhohe Socken,
Du bleibst doch immer, was
du bist!
Unsere
wahre Bereicherung ist die Steigerung unseres Selbst zu einer Qualität, die
großartiger und inniger am All-Leben teilnimmt. Dabei gewinnt man eine höhere
Lebensform. Ich nenne sie das höhere Ich, das bessere Selbst, das All-Selbst
oder unsere Harmonie mit dem Sinn des Lebens. Dies ist der Satz, den die Weisen
im Innern entdeckt haben.
Ob die
Seele Befriedigung darin findet, das hängt von ihrer Entwicklungsstufe ab.
Vielleicht haftet sie an ihrer niedrigeren Ichform, ähnlich wie die Schnecke
mit ihrem Haus verwachsen ist, und dann wird sie der Zumutung, aus sich
herauszugehen, widerstreben. Mit dem absoluten Individualisten Stirner spricht
sie vielleicht: “Mir geht nichts über mich.“ Eine Erkenntnis indessen, die den
illusionären Charakter der Ichform durchschaut, führt über den egoistischen
Standpunkt hinaus zum harmonistischen, und da heißt es: Mir geht meine höhere
Lebensform über mein altes Ich, und sie bedeutet Hingabe an die Harmonie der
Menschheit. Über diese enge Ichform hinaus geht mir eine Form meines Lebens, in
der ich mich eins fühle mit der Allharmonie. Was zur höheren Form, zum
All-Selbst, bekehrt, ist kein frommer Eifer, kein „Spuk und Sparren“, wie
Stirner den Fanatismus jeder Art zutreffend getauft hat, ist vielmehr das wohl
empfundene Interesse des Edelkeims in uns, der wachsen möchte, ist die Ichsucht
nach echtem Lebensgehalt, nach der beseligenden Vollkommenheit des Unendlichen.
Hier
erfüllt sich die faustische Sehnsucht, was der ganzen Menschheit zugeteilt ist,
im inneren Selbst zu erleben und so das eigene Ich zu ihrem Ich zu weiten, ja
der Sonne gleich, mit ausstrahlender Teilnahme und wirkender Güte die Räume der
Schöpfung zu durchdringen. Das Wesen solcher Bereicherung wird durch eine
Unterscheidung beleuchtet, die zu den echten Weisheiten Schopenhauers gehört;
er unterscheidet nämlich zwischen dem, „was einer hat“, und dem, „was einer
ist“. Das beste und meiste muss jeder sich selbst sein und leisten, und je mehr
einer an sich selbst hat, desto weniger bedarf er von außen, und desto
erhabener steht er über den Wechselfällen des Schicksals. Während alle Habe
einen zweifelhaften Reichtum, und jede Form der Habsucht, zu der ja auch die
Genusssucht gehört, eine Selbsttäuschung des Ich-Menschen bedeutet, stellt die
Fülle unseres Innenlebens, unserer liebreich tätigen Anteilnahme am Leben, das
uns umgibt, die einzige unmittelbar empfundene, wahrhaft eigene Habe dar, oder
richtiger, jenes gesteigerte und veredelte Selbstgefühl, das an Wert jedweden
Besitz übertrifft. Seine Schätzung drückt sich in der Titanensehnsucht Fausts
insofern aus, als es ihm nicht darauf ankommt, etwas zu wissen und zu haben –
da er selbst geistige Habe gering schätzt -, sondern etwas zu sein, das im
Unendlichen aufgeht. Am weisesten Gedicht, das deutsches Gemüt hervorgebracht,
haben wir ein Evangelium von der idealen Harmonie des Kosmos. Ihr liebevoll
hingegeben, findet Lynkeus der
Türmer, d. h. der von hoher Geisteswarte schauende Mensch, im
Schauen der Ewigkeit sein höheres Bewusstsein, sein All-Selbst:
So
seh’ ich in allen
Die
ewige Zier;
Und
wie mir´s gefallen,
Gefall
ich auch mir.
Ihr
glücklichen Augen,
Was
ihr je gesehn –
Es
sei wie es wolle –
Es war
doch so schön.
Auf
dieser Entwicklungshöhe des allgemeinen Lebens sind alle Gegensätze nur
Ergänzungen und Erfrischungen, nicht mehr Feindschaften. Hier gibt es keine
Selbstzerfleischung, keine wüste Unordnung, keine Schuld und Qual, nicht einmal
einen eigentlichen Misston. Die Schönheit des Moments bedeutet zugleich eine
Schönheit des Ganzen. Der herrisch-gierige Charakter der Seele, wie er im
niedrigen Ich sorgenvoll und habsüchtig dem All entgegen tritt, ist aufgelöst,
und das große Erlösungswerk ergibt sich aus der Bekehrung zum harmonistischen
Standpunkt. Die neue Anschauungsweise sieht nicht mehr in dem engen, nichtigen
Stückchen Welt, das wir unser Ich nennen, unser Wichtigstes, sondern in unserer
Anteilnahme am idealen Berufe, am unvergänglichen Sinn des Weltalls.
3. Die Hingabe
des Helden
Dem
Preislied auf den Sinn des Lebens gegenüber erscheint es mir ratsam, vor dem zu
warnen, was Lessings Nathan „andächtig schwärmen“ nennt. Darum will ich gleich
betonen, dass man in den Sinn des Lebens nicht wie in eine gnädig erschlossene
Himmelstür eingeht. Für ein Geschöpf, das in den Trieben eines abgesonderten
Körpers wurzelt, ist das Ichleben die ursprüngliche Naturform, und sich von ihr
zu lösen bringt neben der Befriedigung des besseren Selbst manche Anstrengung,
Enttäuschung, ja Marterqual mit sich. So erscheint es mir wohl verständlich,
dass die Seele, noch an ihrer Ichform hängend, weil sie davon noch nicht
genügend enttäuscht worden ist, zurückbebt vor der Zumutung, den egoistischen
Standpunkt aufzugeben. Erst eine heroische Gesinnung entschließt sich zur
Hingabe an das überegoistische Leben.
Auch
diese Erkenntnis hat sinnbildliche Gestalt in alter Mythe: Herkules, der antike
Arbeitsheros, stand am Scheideweg, schwankend, ob er rechts oder links gehen
solle: von dem einen Pfad versprach ihm ein weiches holdes Weib alle Genüsse
der Welt; doch eine streng erhabene Gestalt lud ihn ein, den anderen Pfad zu
wählen, der rauh und voller Mühsal sei,
aber zum Heldentum, zur
Unsterblichkeit führe. Dafür entschied sich der hochsinnige
Herkules, ein würdiger Abkömmling des Himmelsherrn; er unterzog sich demütig
den schier übermenschlichen Anstrengungen, die ihm gestellt wurden, bestand die
zwölf Proben unter viel Mühsal, starb auch noch einen qualvollen Tod, wurde
aber dann in den Götterhimmel aufgenommen.
Kein Märchen, keine bloße Einbildung ist der Griechenheros, sondern eine
Wahrheit, eine tatsächliche Macht, nämlich das bessere Selbst als
Lebensrichtung und Entwicklungsmöglichkeit in jeder Seele. Paulus hat denselben
Erlöser den „inneren Christus“ genannt. Der Seele heldenhaftes Ringen gegen den
„Fürsten dieser Welt“, d. h. den Egoismus in jeder Form, wird in tiefsinniger,
leider wenig verstandener Sinnbildlichkeit dargestellt durch das
Evangelium-Mysterium vom „Menschensohn“, der sich aus Gott geboren fühlt, „die
Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit“ verachtet, hingegen das „Königreich der
Himmel“ aufsucht; arm und gering, doch überall hilfreich, erleuchtend,
erweckend, schreitet er durch die erlösungsbedürftige Menschheit, von
Finsterlingen verraten, verkauft, misshandelt; am Kreuze stirbt er, – das aber
ist ein uraltes Licht-, Heil- und Opferzeichen, das Hingabe an das Göttliche
bedeutend.
Wie man
sich praktisch stellt zur Mahnung dieser Symbole, ob man am Scheideweg des
Herkules – oder (was sinnbildlich die gleiche Bedeutung hat) bei der Versuchung
des Menschensohnes – egoistischen Genuss wählt, oder ob man, letzteren gering
schätzend, Sehnsucht nach einer höheren Stufe seines Lebens und Wirkens
empfindet, das ist Sache dieser Selbstbestimmung, und diese hängt ab von der
Persönlichkeitsreife.
Der
Baum des Lebens hat im Menschengemüt seine Entfaltungsstufen. Mit dem Keim hebt
er an, der aber treibt in jedem Menschenkind. Dass sich der Keim zur
Fruchtkrone entwickelt, ist der Beruf unseres Lebens. Erst wo der Trieb zu
solcher Reife waltet, wird das Leben zu einer Selbstschöpfung, zur Gestaltung
des Höheren. Was ich für die Quintessenz der Weisheit halte, bedarf nicht
irgend eines Glaubens, der ja stets Zweifel erlaubt; er gründet sich auf keine
Erwartung jenseitiger Vergeltung, auch nicht auf ein Dogma der Ethik oder der
philosophischen Beweise; er ist durchaus Eigentat der Persönlichkeit. Wer
jemals in der glühenden Pein des hadernden Egoismuswelt geschmachtet hat und
dann durch einen Tautropfen vom Lebensbaum erquickt wurde, der hegt im Herzen,
ob auch heimlich und schüchtern, Dankbarkeit, Liebe, Sehnsucht gegenüber dem
vollkommeneren Leben. Vielleicht wird ihm nun das niedere Dasein immer mehr zur minderwertigen Schale, ja zum Überdruss, und erstarkt hebt sich sein
besseres Selbst zu einem heldischen Schaffensdrang, der den Sinn des Weltalls
im eigenen Leben zu gestalten sucht, auf dass jenes ideale Reich Boden gewinne,
„wie im Himmel, also auch auf Erden“.
Nicht
abschrecken lässt er sich von der Tragik, die zum heroischen Leben gehört; er
ist Herkules und ist der missbrauchte Lichtbringer Prometheus; er gibt wie der
Königssohn Buddha die Güter der Ichsucht auf; er nimmt in tätiger Menschenliebe
Christi Kreuz auf sich; er trinkt den Giftbecher des Sokrates, der lieber
Unrecht leiden als Unrecht tun wollte; und er lässt sich, wie Giordano Bruno,
lieber zu Asche brennen bei lebendigem Leib, als dass er untreu würde seinem
besseren Selbst.
Mag nach
dem Tode kommen, was da wolle, wo das höhere Selbst oder „Daimonion“ auftritt,
da fürchtet er nicht Not noch Tod. Angst und Vernichtung kann dieser ja nur
über die endliche Form des Ichs verhängen; nicht aber reicht er an das
All-Selbst heran, das mit seinen Interessen den Helden ganz erfüllt und zu
einer überegoistischen Lebensform umgebildet hat.
Engel
tragen „Fausts Unsterbliches“ empor zu höheren Rängen des Daseins; und wie aus
der Raupenhülle ein neugeformtes flugbegabtes Wesen in leuchtende Lüfte sich
erhebt, so waltet der faustische Tatenleib in den „höheren Sphären“ kosmischer
Harmonie, von den Engeln „seliger Allverein“ genannt. Bezeichnend für den
unendlichen Sinn des Menschenlebens und Weltalls, als dessen Hoheslied die
Faustdichtung bezeichnet werden darf, ist auch die Versinnlichung der
Allharmonie oder „ewigen Zier“ in der „Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin“, die
als des Gottmenschen Mutter zur „Himmelskönigin“ erhöht wurde.. Der Tiefsinn
urchristlicher Gnosis meinte damit die göttliche Weisheit (Sophia), die den
Logos (das Wort und erleuchtende Heil) zur Welt bringt. Goethes Verständnis für
solche mystische Symbolik leuchtet aus den Worten des Schlusschors hervor:
Alles
Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis.
Fausts
Erdenwallen wird zum Gleichnis für die Menschenseele, die sich aus den
Schranken der Endlichkeit zum Unendlichen sehnt, bis ihr die Umformung zum
besseren Selbst gelingt. Gleich einem Schmetterling aus der Puppe geschlüpft,
darf es sich dem Leuchten der Ewigkeit ergeben, dem „Ewig Weiblichen“, das den
„Doktor Marianus“ hinanzieht; er bedeutet den zu höherer Lebensform
gesteigerten Faust, der „jeden besseren Sinn“ ermahnt, sich „umzuarten“ zur
Hingabe an das Ewige.
4. Die Bedeutung
des Vertrauens in der Weltanschauung
Doch
angenommen, ein Idealistenherz glaubte, in seiner Hingabe an die Allharmonie
den Sinn des Daseins gefunden zu haben, auf einmal aber erwacht der Zweifel: Bin
ich auch nicht ein irrender Schwärmer, ein Phantast des Glaubens?
Gibt es
denn einen ewigen Sinn des Weltalls?
Gibt es überhaupt ein Ewiges? Muss nicht alles Gewordene auch wieder
vergehen? Und lehren nicht Vertreter der Wissenschaft, unsere Kultur, die
Menschheit und alles geistige Leben gehöre zum Gewordenen und Vergänglichen?
Soll
nicht unser Planet einmal erkalten, so dass kein Mensch, kein Tier, kein
organisches Gebilde mehr leben kann? Wenn alsdann die Lebensfunktion der
letzten Eiweißzelle aufhört, erlischt das letzte Fünkchen Empfindung und
Erinnerung. Und vorbei ist es mit allem geistigen Leben, mit unserer
gepriesenen Kultur, der Arbeitsfrucht ungezählter Geschlechter, vorbei mit den
Lichtgedanken der Menschheit, mit dem Wahren, Schönen, Guten. Umsonst, letzen
Endes sinnlos, war die ganze Entwicklung der Erde und triumphierend darf
Mephistopheles am Grabe der Menschheit wie an Fausts Leiche [rufen]:
Vorbei
und reines Nichts, vollkommenes Einerlei!
Was
soll uns denn das ewige Schaffen?
Geschaffenes
zu nichts hinwegzuraffen!
Da
ist’s vorbei! Was ist daran zu lesen?
Es ist so
gut, als wär es nicht gewesen!
Dieser
Nihilismus eines „Geistes, der stets verneint“, ist ein so furchtbar niederdrückendes
Bewusstsein, dass es für einen Charakter, der den Sinn des Lebens ersehnt, eine
Art Hölle darstellt.
So hat
bereits altgriechische Weisheit empfunden, indem sie zu den schlimmsten Strafen
der Unterwelt die Qualen des Sisyphus und der Danaiden rechnet – jenes Mannes,
der einen Marmorblock bergan wälzen muss, wobei der Stein, sobald er ihn
beinahe oben hat, seinen Händen wieder entrollt – und jene Töchter des Danaus,
die ein Sieb mit Wasser zu füllen haben, was sie natürlich nie fertig bringen.
Und
wenn nun das All ein Sisyphus wäre? Wenn es mit all seinem mühseligen Streben
und Ringen nicht den mindesten Dauerwert zustande brächte? Diese Aussicht kann
manchen Idealisten entmutigen, indem sie ihm den Verdacht zuraunt, es sei
töricht, für ein Ideal Opfer zu bringen, das früher oder später vom öden Nichts
verschlungen werde. Solche Zweifel sind bisher noch von keiner Philosophie mit
voller Endgültigkeit widerlegt worden, und es gilt vielen Denkern für
ausgemacht, dass eine Lösung der letzten Lebensrätsel dem Menschengeist
überhaupt unmöglich ist. Gleichwohl wird alles Fragen, das aus der Tiefe
unserer Seele kommt, begleitet vom rastlosen Nachsinnen und ständiger Versuche,
einleuchtende Antworten zu finden. Und mag der strenge Verstand geltend machen,
dass Beweise von mathematischer Sicherheit fehlen, so wird dieser Mangel doch
von einer Art Logik ersetzt, die dem religiösen Gemüt eigentümlich ist.
Herzenslogik kann man sie nennen, wenn
auch dieser Ausdruck
insofern bedenklich erscheint,
als Logik Sache
des verständigen Denkens ist, während das Gefühl bekanntlich unser
Urteilsvermögen verwirren kann. Indessen entspricht eine gesunde Herzenslogik
unserer vernünftigen Natur. Ich verstehe darunter logische Schlüsse, gestützt
auf solche Gründe, die zwar bei misstrauischer Verstandeskritik unzureichend
erscheinen, für ein vertrauendes Gemüt aber zu Wahrscheinlichkeiten, fast zu
Gewissheiten werden.
Vertrauen
hat in unserem praktischen Leben viel Bedeutung und vernünftige Geltung; es
greift sogar in das theoretische Forschen weit mehr ein, als strenge Vertreter
der Wissenschaften bemerken oder einzugestehen wagen.
An
unserer „Menschenkenntnis“ hat Herzenslogik einen wesentlichen Anteil. Wie
manche Persönlichkeit haben wir nur flüchtig kennen gelernt, und recht günstig
ist das Bild ausgefallen, das wir uns von ihr entworfen haben, obwohl der
Verstand für wichtige Züge keine sicheren Beweise hat und andere Leute
vielleicht gar Warnungen laut werden ließen. Was in unserer Anschauung den
Ausschlag gab, ist unser Gefühl, ein Verhältnis der neuen Bekanntschaft zu
unserem Gemüt; reagiert dieses vorwiegend mit Billigung und Zuneigung, und wird
es vielleicht an ähnliche Ereignisse günstiger Art erinnert, so bringt es ein
Zutrauen entgegen, das aus einem objektiv ungenügenden Anschauungsmaterial ein
subjektiv sicheres und entsprechendes Bild zu formen weiß. Welchen Anteil
solche Herzenslogik an wissenschaftlichen Werken hat, wird uns beispielsweise
auf dem Gebiet der Geschichte deutlich, wenn wir etwa über die Reformation
grundverschiedene Urteile hören, je nachdem der Historiker protestantisch oder
katholisch gesinnt ist - , oder wenn wir an jene naturphilosophischen Probleme
herantreten, die teils im Sinne eines Darwin und Haeckel, teils wieder im
Anschluss an den Bibelglauben, teils auch mit dem Achselzucken des Agnostikers
beantwortet werden.
Wer die
Frage untersucht, ob das Weltall einen unverlierbaren Sinn habe, wird seine
Entscheidung nicht lediglich nach dem Kalkül des Ver-standes richten können,
sondern, sofern er überhaupt ein Weltbild zu ge-stalten wagt, auch nach dem
Grad und der Art des Vertrauens, das er dem schöpferischen Urgrund, aus dem
unser Leben wie die gesamte Schöpfung quillt, vermöge seiner Gemütsrichtung und
Lebenserfahrung entgegenbringt, oder aber vielleicht verweigert.
Wie bei
solchen Anschauungen unser Denken durch Stimmungen beeinflusst wird, zeigt der
Begriff „Natur“, der doch in verschiedenen Köpfen einen recht verschiedenen
Gehalt hat. So sieht z. B. ein Mönch in der Natur den Wurzelboden sündiger
Triebe, ein Nationalökonom einen Gegenstand der Nutzung, ein weichlicher
Städter hauptsächlich rohe Kulturlosigkeit, ein Pessimist den Tummelplatz
wüster Elemente, das künstlerische Auge aber leuchtet in heller Freude über
alles Natürliche, und
ein
Naturfreund vom Schlage des amerikanischen Dichterphilosophen Thoreau findet in
der Natur, in der Hütte am einsamen Urwaldsee, den Frieden und die Weisheit
seines Lebens.
5. Die
Innerlichkeit des Weltalls
Die
Frage, ob das Weltall einen unverlierbaren Sinn haben kann, wird bejaht von
einem Gemüt, in dem Religiosität (nicht mit Konfession zu verwechseln) lebendig
ist, nämlich Vertrauen zum Wesen oder Urgrund des Alls. Wie ein Erdbeben eine
ganze Landschaft erzittern lässt, vielleicht Städte zerstört und Inseln
verschlingt, so ist das religiöse Vertrauen erschüttert worden durch eine
Weltanschauung, die sich zwar um die Ehrlichkeit und Unabhängigkeit der
Forschung sehr verdient gemacht [hat], aber dem Misstrauen huldigt, das All sei
wesentlich etwas Totes und Brutales, nämlich Materie [bzw.], mechanische
Bewegung.
Während
die philosophischen Griechen keinen brutalen Mechanismus kannten, sondern unter
„Mechaneisthai“ ein sinnvolles Bewegen verstanden, stellt der materialistische
Mechanismus die allgemeine Geist-igkeit des Alls in Abrede, indem er gefühls-
und empfindungslose Bewegung oder Materie für das Grundwesen hält. Was wir
Seele und Geist nennen, bedeutet ihm nur einen Ausnahmefall; gelegentlich oder
vor-übergehend tritt er auf, wo nämlich der Hauptstoff des organischen Lebens,
das Eiweiß, entsteht.
Diese
Voraussetzung beruht auf einer Willkür. Wenn auch das Innenleben des Menschen
wie der Tierwelt in einem Verhältnis der Abhängigkeit zu gewissen
Eiweißfunktionen steht, so ist damit noch nicht gesagt, dass das Seelen- oder
Geistesleben überhaupt an eine vereinzelte materielle Organisation gebunden
sein muss. Vielmehr besteht die Möglichkeit, dass jene Naturphilosophen recht
haben, die nicht bloß die sogenannten Organismen für psychische Geschöpfe
halten, sondern Seele und Geist allenthalben sehen, auch in der „unorganischen“
Natur. Eine absolute Grenze zwischen dem „Organischen“ und dem „Unorganischen“
lässt sich überhaupt nicht ziehen, und vor allem darf nicht übersehen werden,
dass die Annahme, seelisches Leben sei auf die Eiweißorganismen beschränkt,
keineswegs auf strenger Logik beruht, sondern auf einer subjektiven Deutung,
die nicht zuverlässiger ist als die Herzenslogik. Bei den Vertretern des
Glaubens an brutale Materie liegt ein willkürliches Versagen jener
Fantasietätigkeit vor, die ein Innenleben in die Naturgebilde
hineindeutet. Gegen solches Hineindeuten
hat der Materialist nichts einzuwenden, wo es sich um höhere Organismen
handelt, und nur den niederen Gebilden spricht er das Innenleben ab. Mit
welchem Recht denn aber?
Wie
gelangen wir denn überhaupt zur Annahme eines seelisch-geistigen Innenlebens?
Verhehlen wir uns doch nicht, dass seelisches Leben in unmittelbarer Weise
jedem von uns nur an einer einzigen Stelle des Weltalls vorliegt, nämlich in
seiner eigenen Innerlichkeit.
Absolut
sicher ist in der Tat nur der Satz des Cartesius: „Ich denke, also bin ich!“ Ob
noch ein zweites unter den Körpergeschöpfen, die uns entgegentreten, seelische
Innerlichkeit hat, wissen wir nicht mit strenger Gewissheit; und wenn auch
bedeutende Wahrscheinlichkeitsgründe dafür sprechen, so gibt doch bei ihrer
Geltung Herzenslogik den Ausschlag. Mag mir ein Mitmensch noch so nahe stehen,
noch so traut und verständlich erscheinen, - von dem, was in seiner Seele
vorgeht, weiß ich in unmittelbarer Weise nichts, erfahre davon vielmehr nur
durch Anzeichen etliches, und die Anwendung ist Sache meiner Subjektivität,
desgleichen auch der Grad von Gültigkeit, den ich den Anzeichen von
Innerlichkeit zuschreibe. Was von dem Mitmenschen zu mir dringt, ist zunächst
bloß als äußere Erscheinung gegeben: ich sehe seine Körpergestalt, beobachte
seine Mienen, seine Gebärden und habe bestimmte Gehörsempfindungen, die seine
Sprachwerkzeuge veranlassen. Was ich die innerliche Bedeutung dieser Mienen,
Gebärden und Worte nenne, ist von meiner Fantasie in sie hinein gelegt worden.
Ich deute den Mitmenschen nach meinem eigenen Muster, schaffe ihn geistig nach
meinem Ebenbild. Weil ich an meinem „Ich“ ein gesetzmäßiges Beisammensein
gewisser Körperäußerungen mit gewissen Seelen- und Geistesvorgängen beobachte,
z. B. Heiterkeit beim Lachen, Schmerz beim Weinen, und weil ich beim Vernehmen
der Worte bestimmte Wahrnehmungen gemacht habe, ist aus solcher Verknüpfung von
Erfahrungen eine Sprache geworden, ein Mittel, Innerlichkeit auszudrücken; den
sinnlichen Erscheinungen, besonders den Äußerungen eines Mitwesens schreibe ich
gewisse seelisch-geistige Erscheinungen oder Vorgänge zu, deren Entsprechung
ich an mir beobachtet habe.
Diese
Art Wörterbuch hat, wie jedes Lexikon, zwei Reihen von Erscheinungen: eine
Reihe fremder Äußerungen, und mit ihr in gesetzlichem Zusammenhang eine andere
Reihe, die unmittelbar verständlich ist. Dieser „Sinn“ ist das
Seelisch-Geistige oder Innerliche, jene zunächst befremdende Erscheinungsreihe
oder aber das im Mitwesen auftretende Körperliche oder Äußerliche. Was mir ein
Freund anvertraut, was der Blick der Liebe oder die Drohung lauernden Hasses
verrät, alles ist meine Deutung, eine Vorstellung von Innerlichkeit nach dem
Muster meines Selbst gestaltet. Natürlich will ich nicht sagen, es sei nur
meine Deutung; ich habe ja gute Gründe zu der Annahme, dass die fremde
Innerlichkeit keine bloßen Einbildungen meiner Fantasie sind, sondern
unabhängig davon bestehen. Doch zu meiner Kenntnis gelangen sie durch meine
Fantasie, indem ich mein eigenes Innenleben in sie hineindeute; ich könnte auch
sagen: indem ich es in ihnen wiederfinde.
Wie weit
nun solche Deutungen von mir erstreckt wird, ob ich lediglich Menschen und
höheren Tieren oder auch „niedrigeren“ Organismen, z. B. Pflanzen und
einzelligen Wesen, Empfindung, Gedächtnis, Gefühl, Trieb zuschreibe, das hängt
von der besonderen Betätigung meiner Einbildungskraft ab. Wer etwas aus seiner
eigenen Innerlichkeit hineinzubilden vermag in ein gestaltloses
Eiweißkörperchen oder in die so genannten fließenden Kristalle – den wird
dieselbe Deutung folgerichtig zur Beseelung das ganzen Weltalls führen.
Wenn
ich solches Deuten eine Fantasietätigkeit nenne, so halte ich es doch nicht für
phantastisch, sondern für eine Form des Erkennens. Es ist ein Schließen „per
analogiam“, das aus der Ähnlichkeit im Äußeren eine entsprechende Ähnlichkeit
im Innern folgert.
Bis
zu welcher Grenze das Anerkennen äußerer Ähnlichkeit geht, ist Sache der
einzelnen Persönlichkeit, ihrer Fantasie, ihres Gemüts, ihrer Herzenslogik.
Während einige moderne Zoologen davor warnen, den Tieren, selbst Affen,
Elefanten, Hunden und Pferden, ein Innenleben nach menschlichem Muster
zuzuschreiben, und während Cartesius, wie die scholastische Philosophie, alle
Tiere für maschinenähnliche Organismen ohne geistiges Leben hielt, weist Gustav
Theodor Fechner nach, dass die Pflanzen in Bau und Benehmen den Menschen sehr
ähnlich sind, also seelisch gedeutet werden sollten, und spricht auch ein
Haeckel vom „Lieben und Hassen“ der Atome, wie ja sein Lehrmeister Goethe in
den „Wahlverwandtschaften“ die chemischen Atome als soziale Wesen betrachtet,
die aus Neigung einander suchen und wählen, aus seelischen Motiven einander
meiden und fliehen.
Weit
hinaus über die Tierwelt greift ein Analogieschluss, der aus menschenähnlichem
Bau und Benehmen ein seelisch-geistiges Leben folgert. Die Pflanze, der man
gewöhnlich die Fähigkeit, zu empfinden, zu fühlen, zu wollen, abspricht, zeigt
bei näherer Betrachtung so erhebliche Ähnlichkeiten mit dem Körperbau und
Verhalten des Menschen, dass man eine Innerlichkeit, der seinen ähnlich, in sie
hinein denken darf, ja mit einer gewissen Dringlichkeit dazu aufgefordert wird.
Schon die Tatsache, dass die Pflanze ein Organismus ist, dass sie aus zartem
Keim durch Ernährung und Vermehrung ihrer Zellen erwächst, dass sie isst,
trinkt und atmet, gesund oder krank sein kann, dass sie schöne Blüten
entwickelt, die zur Befruchtung anlocken, oder auch Früchte, die in geschickter
Weise der Fortpflanzung dienen, und dass sie nach den Perioden der ersten
Jugend, der Liebeszeit und der Reife altert und schließlich stirbt – schon
dieser allgemeine Entwicklungsgang ist dem Menschen so ähnlich, dass er uns
auffordert, zu ihm eine seelische Parallele, eine entsprechende Innerlichkeit
hinzuzudenken. Zu der allgemeinen Ähnlichkeit treten in Fülle noch andere
Berührungen der Pflanze mit dem Menschen, die man in Spezialwerken findet, z.
B. in Fechners Buch „Nanna“.
Freilich
ist die Pflanze dem Menschen und höheren Tieren in mancher Hinsicht wiederum
unähnlich; haben wir doch Augen und Ohren, Schmeck-, Riech- und Tastorgane,
dazu Glieder, mit denen wir so genannte willkürlichen Bewegungen ausführen und
unseren Aufenthaltsort verändern; und werden doch die eigentümlichen
Verrichtungen unseres geistig-seelischen Lebens durch Nerven, Rückenmark und
Gehirn bedingt, während das Seelenleben der Pflanze sich nicht durch derart
ausgebildete Werkzeuge vollzieht.
Aber
dieser Unterschied tritt eigentlich nur zwischen den höheren Pflanzen und den
höheren Tieren zutage, verschwindet jedoch, wenn wir auf der Entwicklungsleiter
der Organismen weit genug hinunter steigen. Es gibt Organismen, die keine
besonderen Organe zur Empfindung, keine Nerven, kein Gehirn oder Rückenmark
entwickelt haben, nicht einmal die Fähigkeit, sich willkürlich fortzubewegen.
Sind es Pflanzen? Sind es Tiere? Jedenfalls sind es Lebewesen, denen man
Empfindung, Gefühl, Trieb nicht absprechen kann; denn aus ihrem Benehmen lässt
sich auf ein Innenleben schließen.
Wenn
der einseitige Materialist geltend macht, die Empfindungen seien Reizungen der
Nerven und des Gehirns, so sollte er zunächst bedenken, dass der Nerven- und Hirnstoff
selber erfahrungsgemäß eine Gruppe von Gesichts- und Tastempfindungen ist, also
nicht als Ursprungsgrund für das Empfinden hingestellt werden darf. Sonst macht
man sich eines Zirkelschlusses schuldig, indem man auf die Frage: „Was ist das
Hirn?“ erwidern müsste: „Eine durch das Hirn bedingte Empfindungsgruppe.“ Bevor
der Mensch etwas von der Funktion des Gehirns und von der eiweißartigen
Kohlenstoffverbindung „Plasma“ weiß – als Kind, als Ungelehrter -, deutet er in
den Mitmenschen ein Bewusstsein hinein, nach dem Muster seines eigenen
Innenlebens. Was ihn dazu veranlasst, ist die allgemeine Ähnlichkeit, die jener
mit ihm im Bau und Benehmen hat; Nerven und Hirn des Mitmenschen spielen dabei
nicht die entscheidende Rolle. Ist dieser Schluss, dem die Menschheit viele
Jahrtausende hindurch huldigte, ehe es noch eine Physiologie gab, etwa
unstatthaft? Doch wohl nicht!
Freilich
hat unsere Physiologie nachgewiesen, dass die Geistäußerungen eines Tieres,
eines Menschen abnehmen oder gar aufhören, sobald ihm Nerven und Gehirn
beeinträchtigt oder zerstört werden. Aber hieraus geht lediglich hervor, dass
zwischen diesen bestimmten Geistäußerungen einerseits, dem Hirn- und
Nerveneiweiß andererseits ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das sich durch
folgendes Bild veranschaulichen lässt. Wenn ich die Saiten eines Klaviers
verletze oder das ganze Klavier zerstöre, so leidet oder verschwindet dieses
Klaviers Musik. Aber folgt hieraus etwa, Musik überhaupt sei ohne Klavier
unmöglich? Keineswegs; es gibt ja Musikinstrumente mannigfaltiger Art; neben
den Saiteninstrumenten hat man zum Beispiel Blasinstrumente, und schließlich
ist nur eine gleichmäßige Erschütterung der Luft nötig, damit der musikalische
Ton entsteht. Der Materialist, der bloß einem Nerven- und Hirnwesen Bewusstsein
zutraut, verfährt ebenso einseitig wie ein Naturvolk, das ausschließlich
Hauchmusik kennt (durch die Kehle, Flöte oder Trompete hervorgebracht) und nun
nicht glauben will, dass sich auch auf andere Weise Musik machen lässt. Würde
solch ein Volk zum ersten Mal vernehmen, wie man mit schwingenden Saiten
herrliche Töne hervorbringt, es würde zunächst meinen, die Saiten seien Röhren,
durch die jemand Luft haucht. An seinen engen Erfahrungen geklammert, würde es
der neuen Tatsache zunächst wie einem Wunder gegenüber stehen. Dieser Vergleich
mag dem Materialisten dartun, wie verkehrt es ist, einen bestimmten Träger des
Bewusstseins für den allein möglichen zu halten. Warum sollte dann gerade
Eiweiß die privilegierte Bedingung seelisch-geistigen Lebens sein?
6. Alles Dasein
ist Erlebnis
Zur
kritischen Überwindung des Materialismus und Mechanismus gelangt man auch,
indem man mit strenger Folgerichtigkeit feststellt, was denn eigentlich mit den
Worten „Materie“ und „Bewegung“ gemeint ist. Da stellt sich denn heraus, dass
man darunter nur gewisse Empfindungen verstehen kann, deren Qualitäten durch
die Natur des empfindenden Subjekts und seine Sinnesorgane bestimmt werden.
Wie
ein Ton nach Auffassung des Physiologen objektiv in Luftschwingungen besteht,
die lautlos, also etwa ganz anderes als Ton sind, während dieser erst durch die
Natur unserer Gehörsnerven und unser Gehirn bedingt erscheint – so kommt auch
die Wahrnehmung so genannter „Materie“, nämlich ausgedehnter, mit dem Auge
empfundener oder ertasteter „Körper“ erst auf der subjektiven Seite zustande.
Räumliche Unterschiede, Ausdehnung und Bewegung sind, wie Härte oder Weichheit
und die so genannte Undurchdringlichkeit von Stoffen, ohne ein empfindendes
Subjekt ebenso undenkbar wie Grün, Rot und Gelb ohne Auge und Nervensubstanz.
Auf
dieser Grundanschauung beruht der erste Satz im Hauptwerk Schopenhauers: „Die
Welt ist meine Vorstellung.“ Er will damit nicht etwa sagen, dass die
Erlebnisse, die uns unsere Sinne vermitteln, Täuschungen seien. Vielmehr ist
ihnen das zuzuschreiben, was wir „Wirklichkeit“ nennen, und in der Tat leuchtet
die Sonne nicht bloß für mich, sondern auch für meine Mitmenschen. Aber diese
sind keine höhere Instanz, sondern formell bloß Wiederholungen des Ich,
ausgestattet mit denselben Sinnen. Mag also die Materie eine Gültigkeit über
das einzelne Subjekt hinaus für alle gleich oder ähnlich empfindenden Wesen in
gleicher Lage haben, so folgt hieraus doch nicht, dass sie unabhängig vom
Empfinden überhaupt etwas bedeutet.
Was
die idealistische Philosophie leugnet, ist lediglich eine solche Materie, der
die subjektive Seite abgesprochen wird. „Materie nie ohne Geist“, hat der
tiefschauende Goethe gesagt. Mit anderen Worten: wo man Materie oder Bewegung
annimmt, muss man folgerichtig auch ein seelisch-geistiges Wesen voraussetzen,
in dem sie zur Empfindung gelangt. Ein Dasein, das nicht erlebt wird, bedeutet
einen Widerspruch in sich selbst, bedeutet eine Bestimmung ohne Bestimmtheit,
ein Ding ohne Eigenschaft, eine Wasserwoge ohne Bewegung und ohne Wasser, ein
Messer ohne Heft und ohne Klinge. Oder bleibt von der Materie, wenn wir ihre
sinnlich empfundenen Eigenschaften hinweg denken, noch etwas übrig? Etwas
Körperliches, Physisches, das keine seelisch-geistige Seite hat, das weder von
sich selbst noch von anderen Wesen erlebt wird, wäre völlig unbeschreiblich,
und statt zu glauben, es sei "etwas", sollten wir es lieber ein
Unding nennen.
Alles,
von dem wir sagen, es sei da, wird irgendwie erlebt. Die Richtigkeit dieses
Satzes können wir in geistigem Anschauen erkennen, worauf ja alle Erkenntnis
beruht, sei es nun eine unmittelbare Anschauung, sei es eine solche, die in
Form des Beweises auftritt, das heißt: die mittels eingeschobener Logik auf
schließliche Anschauung zurückführt.
Mag
also der Leser versuchen, in unmittelbarer Anschauung einzusehen, dass Dasein
Erlebnis bedeutet! Spreche ich von etwas, das vorhanden ist, so meine ich, dass
im Gebiet des Bewusstseins (im allgemeinsten Sinne dieses Wortes), des
innerlichen Lebens, irgendein Unterschied sich aus dem übrigen
Bewusstseinsinhalt heraus sondert. Jedenfalls kann ich meine Erfahrung „da ist
–“ nicht ohne mein Bewusstsein denken. Will ich aber sagen, etwas sei
unabhängig von meinem Bewusstsein vorhanden, so ordne ich es einer anderen
Bewusstseinsform ein, die den Träger dieses „etwas“ bildet, d. h. es in sich
erlebt. Angenommen aber, es gebe in den Eingeweiden der Erde eine
Tropfsteinhöhle, ohne dass je ein Mensch, ein Tier sie wahrgenommen hat, so
kann ich nicht umhin, dieser Höhle lauter Empfindungsqualitäten zuzuschreiben;
ich denke zu den Steinzapfen, von denen Wasser träufelt, eine heimliche Hand
hinzu, die den kühl-nassen Stein betastet sowie ein Ohr, das dem Tropfenklingen
lauscht. Und wenn ich auch nicht gerade Sinnesorgane hinzu zu denken brauche,
so nehme ich doch jedenfalls ein Bewusstsein an, in dem das Höhlenerlebnis
erfolgt.
Wer sich
außerstande glaubt, in unmittelbarer Anschauung die allgemeine Geistigkeit des
Daseins zu erkennen, mag Einzelerfahrungen zusammentragen und zum Gesetz
verallgemeinern! Mag er die Frage be-
antworten,
ob ihm oder einem anderen Wesen jemals etwas Existierendes vorgekommen ist, das
nicht Erlebnis gewesen wäre. Die Antwort muss lauten: Das allerdings nicht; das
wäre ja auch unmöglich, weil nämlich alle Erfahrung ein Vorgang innerhalb des
Bewusstseins ist. Kein Objekt ohne Subjekt!
Aber
es bleibt noch der Einwand: „Außer dem Erlebnis, das in Wesen erfolgt, die es
empfinden, ist ein Ding noch etwas anderes, ein an und für sich vorhandenes Objekt“.
Dies zuzugeben, ist die Frage angebracht, was wir mit der Bezeichnung „an und
für sich“ eigentlich meinen. Nun wohlan: etwas, das an und für sich ist, habe
ich nur an einem einzigen Beispiel erlebt, nämlich an mir selbst; ich bin nicht
bloß für andere Wesen vorhanden, sondern auch etwas für mich, unabhängig vom
Empfinden anderer; ich bin nicht bloß etwas Äußerliches, Körperliches, sondern
auch ein Innenleben, ein Selbsterlebnis. Und nach diesem Muster stelle ich mir
das eigene Dasein alles dessen vor, das ich außerhalb meines Bewusstseins
annehme.
„An
und für sich sein“ heißt also nichts anderes, als Selbsterlebnis sein, und die
Bezeichnung „Ding an sich“ ist entweder eine leere Worthülse oder bedeutet das
Weltall, insofern es nicht bloß in seinen Geschöpfen zum Erlebnis gelangt,
sondern zugleich in der allumfassenden Einheit: in der Weltseele.
Auf
diese passt das Wort des Psalmisten: „Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es
... Wo soll ich hingehen vor deinem Geist? Führe ich gen Himmel, so bist du da;
bettete ich mich in die Unterwelt, siehe so bist du auch da.“ Ja, nicht Flügel
der Morgenröte, ebensowenig Flügel überspannter Fantasie und Verrenkungen der
Logik bringen es fertig, dem Allgeist zu entgehen, Materie oder Bewegung ohne
Geist vorzustellen. Erst diese Selbheit von Dasein und Erlebnis entrückt uns
der Zweifelsucht, der Ungewissheit, ob man den Sinnen trauen darf, ob sie das
„Ding an sich“ nicht etwa in subjektiver Entstellung zeigen. Ich erkenne die
Wirklichkeit, habe von ihr völlig angemessene Empfindungen, insofern ich
vermöge der Einordnung meines Bewusstseins in das allumfassende Bewusstsein
selber Wirklichkeit bin.
Die
Welt ist, wie sie erlebt wird, weil ihr Erlebtwerden eben nichts anderes
bedeutet, als was man unter dem Wort „Dasein“ versteht. Dass diese einfache
Wahrheit so oft übersehen wird, und zwar von denen, die sich dem Erforschen
objektiver Natur ergeben, ist wohl aus ihrer einseitigen Betrachtungsweise
erklärlich: In ihrer Hingabe an das Objekt vergessen sie, dass sie selber oder
ähnliche Subjekte stets dabei sind, wo Objekte sich darstellen.
Wie
diese Überlegungen nachgewiesen haben dürften, braucht sich das Vertrauen in einen
unvergänglichen Sinn des Weltalls nicht erschüttern
zu lassen
durch den trübseligen Glauben, das Weltwesen sei etwas Brutales.
Wen
philosophische Besonnenheit vielmehr zu der Anschauung führt, das Dasein sei
geistiger Natur, dem ergibt sich hieraus die Möglichkeit, dass der große Geist,
in dem wir leben, weben und sind, die höchsten Werte, die in uns herangereift
sind, treu in seiner Erinnerung bewahrt und in seinem schöpferischen Leben
unermesslich verwertet.
7. Aus einem brutalen
Weltwesen könnte
nichts Höheres entstehen
Zu den
Verstandesgründen, die solches Vertrauen zum Allwesen stützen, gehört noch
folgende Erwägung: Denken wir
gering vom Wesen
[ = Sosein] des Weltalls, so lassen sich die höchsten Leistungen des
allgemeinen Daseins, die wir verehren und lieben, überhaupt nicht erklären.
Wäre es nämlich etwas Brutales, so fänden wir keine Spur von einem zureichenden
Grunde, aus dem das Auftreten geistigen Lebens, selbst wenn es nur gelegentlich
und vorübergehend erfolgte, und besonders dessen edelste Blüte, das Wahre, Schöne
und Gute, begreiflich wäre.
Wenn
wir die Venus von Milo mit einem rohen Marmorblock vergleichen, so finden wir
in dessen physischen Kräften keinen zureichenden Grund für die künstlerische
Form, in der sich das Ideal weiblicher Schönheit ausdrückt, sondern wir fühlen
uns logisch verbunden, den geistigen Gehalt dieses Marmors aus einer
Geistesquelle abzuleiten, aus dem Künstler, der hier seine ideale Innenschau
ausprägte. Und betrachten wir ein Gemälde, so sind wir außerstande, es aus
einem zufälligen Zusammenfließen der Farben zu erklären, sondern die sinnvolle
Farbzusammenstellung lässt sich nur aus dem schöpferischen Künstlergeist
verstehen. Überhaupt ist es unmöglich, Hohes aus Niedrigem herzuleiten;
wenigstens das Elementare des Hohen muss im Niedrigen vorhanden sein.
Eine
Tatsache erklären heißt: sie zurückführen auf einen einfacheren, schon
begriffenen Sachverhalt. Dass in einem Dreieck die Summe der Winkel zwei Rechte
ausmacht, verstehe ich, sobald ich mit dem geistigen Auge die Natur des
Dreiecks durchschaue und daran bemerke, dass die Verlängerung einer Seite über
die Spitze hinaus und die Durchschneidung dieser Spitze durch eine Parallele
(zur gegenüberliegenden Seite) drei Winkel ergibt, die einen gestreckten
Winkel, d. h. zwei Rechte ausmachen und identisch sind mit den drei Winkeln des
Dreiecks. Der mathematische Beweis ist nichts anderes als die Darlegung der
Identität des zu Beweisenden mit etwas bereits Anerkanntem.
Wo aber das
Verhältnis des zureichenden Grundes zu dem, was verstanden werden soll, in der
Form zeitlicher Kausalität auftritt, d. h. wo wir verstehen wollen, wie eine
Wirkung sich aus ihrer Ursache ergeben konnte, da besteht die gesuchte
Identität in dem Nachweis, dass wir in der Ursache bereits die Anlage zur
Wirkung sehen.
Wird solch
eine Anlage nicht bemerkt oder gar geleugnet, so gilt uns die zu erklärende
Wirkung für unverständlich. Wenn z. B. schwarze Finsternis auf einmal heller
wird, so kann die Ursache nicht in der Finsternis liegen, weil es ja die Natur
der letzteren ist, finster zu sein; vielmehr müssen wir das Hellerwerden aus
einem Lichtquell erklären. Das gleiche nun gilt vom geistigen Licht: Finstere
Brutalität, eine geistlos gedachte Materie oder Bewegung, lässt nie und nimmer
verstehen, wie sich daraus seelisches, geistiges, vernünftiges, schönes,
sittliches Leben zu entwickeln vermochte.
Das
hat Du Bois-Reymond eingesehen, wenn er sagt, es werde für alle Zeiten dem
Menschengeist unerklärlich bleiben („Ignorabimus“), wie aus der mechanischen
Bewegung unserer Nerven- und Hirnatome Empfindung, Vorstellung, Gedanke werden
könne. Der Irrtum dieses Naturphilosophen besteht freilich in der Annahme, dass
Empfindung, Vorstellung und Gedanke tatsächlich aus brutaler Bewegung
hervorgehe. Die Psychophysik bestreitet dies und sieht die für Du Bois-Reymond
unüberwindliche Schwierigkeit schwinden, indem sie mit gutem Grund annimmt,
dass des Weltalls Wesen eben keine brutale Materie oder Bewegung ist, sondern
Erlebnis, Bewusstsein.
Eine
exakte Weltanschauung möchte der materialistische Mechanismus zustande bringen,
doch beschränken sich seine Erfolge auf das physische Gebiet, wo Größen
gemessen werden, also Mathematik Anwendung findet. Völlig versagt er gegenüber
der seelisch-geistigen Seite des Weltalls und stellt in dieser Hinsicht
geradezu das Gegenteil einer Welterklärung dar, indem er nämlich etwas
Sinnloses als den Urgrund betrachtet. Eine gewisse Logik allerdings schreibt er
ihm zu, die Folgerichtigkeit der Naturgesetze, doch sie bedeutet ihm ein
blindes, bewusstloses Wirken.
Die
heutigen Materialisten werden an Besonnenheit hoch überragt durch Philosophen,
die vor mehr als drei Jahrtausenden in Indien lehrten. Die Verfasser der
Upanischaden sahen bereits, wie die ganze äußere Welt nur möglich ist, insofern
sie von einem Subjekt getragen wird, wie die Dinge dieser Welt ihre Realität
nur vom Allgeist (Atman) zu Lehen tragen und wie dieser in seinen Landsleuten
erkannt wird und zum höchsten Selbstbewusstsein gelangen kann. "Tat twam
asi" "Das bist Du" spricht eine Weiser zu seinem Sohn, indem er
ihm ein Ding nach dem anderen zeigt und dabei das Gefühl in ihm zu erwecken
sucht, dass all dieser Dinge Wesen sein eigenes Selbst sei. „Wer da alle Wesen
im Ich erblickt und in allen Wesen das eigene Selbst, der wendet sich nie
wieder von ihm ab.“ „Fürwahr, wer das Selbst gesehen, gehört, verstanden und
erkannt hat, von dem wird diese ganze Welt gewusst.“ „Brahman, welches als
Seele allem innerlich ist ..., es ist deine Seele, welche allem innerlich ist.“
Von
den alten Indern reicht diese Weltanschauung bis in die heutige Zeit. In Plato
und den Gnostikern fand sie großartige Vertreter, desgleichen in den Mystikern
und monistischen Philosophien des Mittelalters, ferner in den idealistischen
Philosophen der Neuzeit, in Berkeley, für den alles nur Bewusstsein ist, dann
im Kritiker der reinen Vernunft [Kant], der den gewaltigen Ausspruch tat: „Wenn
ich das denkende Subjekt wegnehme, muss die ganze Körperwelt wegfallen“, desgleichen,
wie bereits erwähnt, in Schopenhauer. Naturwissenschaftlichen Realismus suchten
der pantheistischen Grundansicht zu vermählen Giordano Bruno, Spinoza und
Goethe, zuletzt der Psychophysiker Fechner, auch Lotze, Paulsen und Verworn
sowie die „pantheistische“ Richtung unter den Monisten[1].
8. Das
Unbewusste und die Schwelle des Bewusstseins
Erst im
idealistischen Monismus erfüllt sich mir das philosophische Suchen, sämtliche
Hervorbringungen der Allnatur aus einem einheitlichen Grund abzuleiten.
Dem
Pan-Psychismus nähert sich halbwegs der Monist Haeckel, indem er mit dem
griechischen Naturphilosophen Empedokles vom "Lieben und Hassen der
Elemente" spricht und auf die Zellpsychologie hinweist, darauf die
Überzeugung gründend "schon dem Atom wohne die einfachste Form der
Empfindung und des Willens inne, oder, besser gesagt, der Fühlung und der
Strebung, also eine universale Seele primitivster Art“, und dasselbe gelte auch
von den Massenteilchen, die aus Atomen sich zusammensetzen.
Eingeschränkt
freilich hat Haeckel seine seelische Deutung der Gesamtphysis durch die
Bemerkung, das Empfinden und Fühlen der Atome sei auf den untersten Stufen der
Naturbildungen nur „unbewusst“.
Ja, was
soll denn das heißen: unbewusste Empfindung, unbewusstes Gefühl? – Rot und Grün,
Blumenduft und Harfenklang sind Empfindungen; wenn diese aber nicht innerhalb
eines Bewusstseins auftreten, so sind sie eben unempfundene Empfindungen, d. h.
ein Widerspruch in
sich
selbst. Von „unbewusstem“ Seelen- oder Geistesleben lässt sich lediglich im
Sinne einer Psychophysik sprechen, die sich auf das Gesetz von der „Schwelle
des Bewusstseins“ bezieht. Denken wir uns den Menschen als ein Gebäude, das
unten einen Keller, darüber ein Erdgeschoss und oben den Dachraum hat. Wird das
Gebäude von einer Überschwemmung betroffen, so tritt das Wasser zunächst in den
Keller. Ist es derart gestiegen, dass es den Keller hin bis zur Decke füllt, so
kommt ein Moment, wo es über die Schwelle der Haustür ins Erdgeschoss tritt,
und bei genügender Höhe erreicht es sogar den Dachraum.
Mit dem
Wasser lässt sich das Bewusstsein vergleichen. Zuweilen bleibt es so genanntes
Unterbewusstsein: während des tiefen Schlafes spielen sich in uns noch allerlei
Vorstellungen ab, auch Empfindungen von Körpervorgängen, selbst von äußeren
Geschehnissen, nur dass diese Erlebnisse sich nicht über die Schwelle des
oberen Bewusstseins erheben, d. h. nicht deutlich in jene geistige Einheit
hineinreichen, die unser waches Ichbewusstsein bildet.
Sie
sind dann unterbewusst; erst wenn wir lebhaft träumen, oder wenn die
körperlichen Empfindungen stark auftreten, gelangen sie zum gewöhnlichen
Ichbewusstsein; wir erwachen dann und haben vom Geträumten etwas in der
Erinnerung, während die unterbewusst gebliebenen Träume sich kaum dem Gedächtnis
einprägen.
Der
psychophysische Schwellenbegriff will sagen: das menschliche Bewusstsein und
überhaupt das Weltbewusstsein gliedert sich zu verschiedenen Einheiten,
einander über-, untergeordnet, und zwischen ihnen ziehen sich Grenzen derart,
dass Erlebnisse, die in der einen Bewusstseinseinheit auftreten, nicht ohne
weiteres der angrenzenden Einheit bemerkbar werden, sondern erst dann, wenn sie
sich zu einer gewissen Auffälligkeit erhoben haben oder droben einem besonderen
Interesse begegnet sind.
Um
das Gesetz von der Bewusstseinsschwelle zu veranschaulichen, habe ich das Bild
von einem Haus gebraucht, das aus Keller, Erdgeschoss und Dachraum besteht.
Doch hier ist die Anmerkung am Platz, dass sich das Weltall nicht bloß in drei
Stockwerken oder seelische Einheiten gliedert, sondern in ungezählte, dass es
also nicht einem Fischerhäuschen gleicht, sondern einem gotischen Dom, der ins
Unendliche emporwächst, und zwar indem mehrere Säulen sich zur Einheit
zusammenfinden, indem ferner die so gebildete Einheit eine Säule höherer
Ordnung darstellt und mit ihresgleichen einen abermaligen Zusammenschluss zur
Einheit zustande bringt. Und indem diese Organisationsform immer weitere
Fortsetzung findet, d. h. aus unteren Bewusstseinsstufen jedesmal eine Wölbung
erwächst, eine übergeordnete Daseinsstufe oder „höhere“ Sphäre“, wie es im
„Faust“ heißt.
Soweit
unsere Sinne und Geistesaugen reichen, bemerken wir als untere Sphären folgende
seelische Einheiten der unorganischen Welt:
Ganz
unten das Atom – Haeckel schreibt ihm, wie gesagt, seelischen Charakter zu und
nennt es die einfachste „Persönlichkeit“; Atome schließen sich zur
Molekularsphäre zusammen – z. B. zwei Atome Wasserstoff mit einem dritten Atom
Sauerstoff zu einem Molekül Wasser. Eine dritte Sphäre ist die Kristallisation,
in der sich die Moleküle eines Stoffes zu einer Einheit organisieren, die etwas
Höheres bedeutet, insofern sie Ähnlichkeit mit den einfachsten Formen des so
genannten
organischen Naturreiches hat.
Nach
Haeckel „trennt keine unübersteigliche Kluft die organische Welt vollständig
von der unorganischen“. Eine Sphäre der organischen Welt ist die Zelle, doch
bereits eine höhere. Tiefer noch als selbst das Plasmakügelchen der primitiven
Monere, an dem das Mikroskop keine Gliederung entdeckt, steht das
Plasmamolekül, von Haeckel „Plastidul“ genannt: Doch muss es, wie er aus der
komplizierten Natur der Zelle folgert, in der ja eine ganze Welt von Anlagen,
z. B. Vererbungsmöglichkeiten, enthalten ist, bereits eine Organisation
darstellen.
In
der Pflanze und in den höheren Tieren haben sich die Zellen mannigfaltig
individualisiert und zur Arbeitsteilung für das Leben den Gesamtorganismus
gegliedert, und zwar so, dass jedes besondere Glied, z. B. das Herz oder ein
Nerv, als eigenartiger Zellverband, als sphärische Überwölbung sich darstellt.
Auch das Glied nennt Haeckel eine Person. Wie nun unsere Glieder zum
menschlichen Körper verbündet sind, so entspricht diesem körperlichen
Überwölbungssystem und einem jeden anderen ein seelisch-geistiges. Auch die Weltseele
gliedert sich ähnlich wie der gotische Riesendom.
Was
eine höhere Sphäre gegen niedere abgrenzt, ist die Schwelle des Bewusstseins.
Bei ihrer Aufnahme in die höhere Sphäre sinkt das Bewusstsein der
untergeordneten Organe im allgemeinen unter die höhere Bewusstseinsschwelle und
wird daher relativ unbewusst. Wie Fechner, der geniale Begründer der
Psychophysik mit gutem Grund vermutet, sind alle mechanischen Naturvorgänge
ursprünglich unter scharfem Aufmerken erlernt worden, um dann automatisch zu werden
und als jener Mechanismus, den die Materialisten für seelenlos halten (unter
der Schwelle des oberen Bewusstseins gesunken und also unterbewusst, nicht aber
absolut unbewusst), als automatische Fertigkeit von Generation zu Generation
vererbt zu werden. Wenigstens mehr oder minder wird das zur ersten
Hervorbringung zweckmäßiger Einrichtungen nötige Spezialbewusstsein bei deren
Wiederholung im Einzel- und Gesamtorganismus erspart.
Was diese
Darlegung hauptsächlich zeigen möchte, ist ein Gesetz der organischen
Entwicklung, demgemäß jeder Zusammenschluss von
Wesen
zu einer Tätigkeit, die gemeinsamen Lebenszwecken dient, ein Oberbewusstsein
zustande bringt, das sich durch eine Schwelle vom unteren Getriebe scheidet. Somit
entspricht einer jeden Einheit, zu der sich das Leben auf der physischen Seite
verbindet, zugleich eine seelische Einheit, und der Dom, den die
kosmisch-organischen Gebilde, einander haltend und überwölbend, ins
Unermessliche bauen, ist zugleich eine Gliederung der Rangordnung von geistigen
Sphären.
9. Die
Menschheit als Organismus
Eine
Spanne des Weltendoms haben wir flüchtig betrachtet: die Entwicklung vom Atom
zum Menschen. Wer aber meint, hier sei nun der Gipfel erreicht – wer noch
protzen kann mit dem vermessenen Wort, der Mensch sei die Krone der Schöpfung,
der kennt nicht die schauende Andacht einer ehrlich-demütigen Seele, wenn sie
sich sehnt nach dem, was höher ist als der Ichmensch.
Heil
den unbekannten
Höhern
Wesen,
Die
wir ahnen!
Ihnen
gleiche der Mensch;
Sein
Beispiel lehr´ uns
Jene
glauben. –
so
lautet ein Bekenntnis des großen Idealbildners, der in seinem „Faust“ sowohl
den Namen wie den echten Typus des Übermenschen geprägt hat und im Schlussakt
seines Weltanschauungsgedichtes den Ausblick in höhere Sphären eröffnet. Wie
Goethe überhaupt nur „Gottnatur“ kennt, so bedeuten auch die „höheren“ Wesen
und Sphären für ihn nichts Übernatürliches, sondern obere Wertstufen, edlere
Qualitäten, die aus der Naturentwicklung emporwachsen. Wollen wir ihre Art,
ihre Physis und Psyche, wissenschaftlich erfassen, so unterscheiden sie sich
von den Göttern des Übernatürlichkeitsglaubens bedeutsam dadurch, dass diese
Götter den irdischen Geschöpfen wie äußere Gegenstände gegenüberstehen, während
die monistische Auffassung alles Höhere mit dem Niederen durch eine gewisse
Identität verbindet.
Ähnlich
wie gotische Säulen sich oben zu einer Wölbung zusammenschließen, so gibt es
auch etwas Höheres, das über den einzelnen Menschen waltet. Und ähnlich wie die
Zellen unseres Körpers sich zu Gliedern verbünden und diese wiederum zum
Gesamtkörper, so organisieren sich die Menschen zu Familien und Gemeinden,
Wirtschaftsgruppen, Ständen, Klassen und Staaten, zu Dörfern, Städten,
Fabriken, Schulen und Verkehrsanstalten, schließlich aber alles zum umfassenden
Organismus Menschheit.
Einen
treffenden Ausdruck dafür fand die soziologische Klugheit der Römer in der
Fabel des Menenius Agrippa. Dieser Patrizier suchte die ständische
Zerrissenheit seines Volkes zu heilen durch die Geschichte von den Gliedern des
menschlichen Körpers, die einmal haderten: Die Hände waren es müde, für das
Ganze zu schaffen, der Mund mochte nicht mehr kauen, der Magen nicht mehr
verdauen, und indem so jedes Glied die Arbeit einstellte, befiel Schwäche den
Gesamtkörper; die Hände zitterten, der Magen knurrte vor Hunger, und hätten
sich die neidischen Geschwister nicht, durch Not belehrt, rasch wieder zum
Gemeinschaftssinn bekehrt, der ganze Körper wäre zugrunde gegangen. Im
Anschluss an diese Einsicht pflegt man längst den Staat, eine jede Nation, ja
die Menschheit einen Organismus zu nennen. Und nicht bloß eine dichterische
Vergleichung liegt hier vor, sondern im eigentlichen Sinne lässt sich die
Menschheit als eine biologische Persönlichkeit ansehen.
Man wende
nicht ein, die Einzelmenschen hätten eine zu große Selbständigkeit, als dass
sie als Glieder eines höheren Organismus gelten dürften. Einige Selbständigkeit
kommt ja auch den Gliedern unseres Körpers zu, und weit mehr den Gliedern
gewisser niedriger Organismen. Zellen unseres Körpers, z. B. weiße
Blutkörperchen, können, von ihm abgetrennt, eine Zeitlang lebendig bleiben und
sogar gefüttert werden, und die Glieder jenes Quallenstaates, den der Zoologe
Syphonophorenquallen nennt, sind zwar für gewöhnlich zu einem Organismus
zusammengewachsen und haben sich in der Arbeitsteilung für die Lebenszwecke der
Gesamtheit zu beruflicher Einteilung spezialisiert, vermögen aber auch
abgetrennt vom Ganzen ihr Leben zu fristen.
Übrigens
wird die Selbständigkeit des Einzelmenschen oft überschätzt. Sind wir denn
nicht alle Sprosse am Baum der Menschheit? Gehörte nicht jeder Einzelne einmal
zum Körper seiner Mutter, seines Vaters und eines jeden seiner Vorfahren? Dass
Zwischenraum die Menschen voneinander trennt, ist kein durchschlagendes
Bedenken gegen ihren Zusammenschluss zu einer Einheit. Auch die Blutkörperchen,
die sich als rote und weiße Kügelchen durch unsere Adern schieben, haben
Zwischenraum: in einer Flüssigkeit schwimmen sie, mit der sie dahin fließen. So
bewegen auch wir Menschen uns in einem gemeinsamen Medium: in Luft und Licht.
Nur weil man das durchsichtige Luft- und Lichtmeer nicht zu bemerken pflegt,
ist man auf die Meinung verfallen, sie seien eine Art Nichts, das eine völlige
Trennung zwischen den Menschen zustande bringt. Aber sehet doch: was hier zu
trennen scheint, das eben verbindet uns miteinander.
Wallte
nicht Luft zwischen uns, wir vermöchten nicht zueinander zu reden; erfolgt doch
die Verständigung dadurch, dass unsere Sprachwerkzeuge die Luft erschüttern und
die Luftwellen das Ohr und den Geist anregen, Worte zu vernehmen. Und flutete
kein Licht zwischen den Körpern, wir ständen den Mitwesen blind gegenüber,
während wir gerade durch das Licht, das von einem Menschen zum Auge des anderen
dringt, innig verbunden werden. Luft und Licht können also, weit entfernt, die
Menschen voneinander abzuhalten, ihr Umleib genannt werden, der alle verbindet.
Zum gemeinsamen Umleib gehören auch noch die künstlichen Werkzeuge, deren wir
uns zu Verkehrszwecken bedienen, z. B. die Eisenbahnen und elektrischen Drähte,
die Straßen und Häuser, das Postwesen und die Presse, die Fabriken und Schulen,
Büchereien und Museen, alles, was Kultur heißt.
Der
Begriff „Kultur“ hat uns vom physischen Gebiet auf das geistige
übergeleitet, und hier zeigt sich besonders deutlich, wie sehr die Menschen bei
all ihrer Selbständigkeit aufeinander angewiesen sind. Was wäre der Einzelne
ohne die Sprache, die er von seinesgleichen lernt, und die doch ein Erzeugnis
der Gemeinschaft ist? Ohne sie käme er in seiner geistigen Entwicklung nicht
über den Idioten hinaus. Wird doch fast alles menschliche Verstehen, vor allem
das höhere Geistesleben, der Schatz des Gemütes und der sittlichen Weisheit,
die Wissenschaft und Kunst, den Einzelnen durch die Sprache übermittelt.
Wie
zutreffend es demnach ist, den inneren Reichtum einer Persönlichkeit nicht
lediglich als ihr Verdienst aufzufassen,
vielmehr als eine Kollektivleistung ihres Volkes und der Menschheit, das hat
ein Goethe erkannt, dessen Genialität ihn nicht zum eitlen Egoisten machte,
sondern den eigenen Lorbeer dem Genius der Menschheit zu Füßen legen ließ. „Was
habe ich getan?“ spricht er bescheiden zu Eckermann, „ich habe alles, was ich
gesehen, gehört und beobachtet habe, gesammelt und verwandt; ich habe die Werke
der Natur und der Menschen in Anspruch genommen. Jede meiner Schriften ist mir
von Tausenden verschiedener Personen zugeführt worden: der Gelehrte und der
Unwissende, der Weise und der Tor, Kindheit und Alter haben dazu beigetragen.
Größtenteils ohne es zu ahnen, brachten sie mir ihre Gedanken, ihre
Fähigkeiten, ihre Erfahrungen. Oft haben sie das Korn gesät, und ich habe
geerntet. Mein Werk ist die gemeinsame Leistung aller Menschen.“
Die
edelste Form, in der sich die Glieder der Menschheit zu einem Gesamtorganismus
zusammenschließen, liegt auf sittlichem Gebiet und wird Gemeinschaftsgeist
genannt. Er entwickelt sich in einer Reihe von Stufen, so als Familiensinn, der
die Liebe der Gatten, der Eltern zu den Kindern und umgekehrt, der Geschwister
und Verwandten zueinander umfasst, ferner als Parteigeist und als
Vaterlandsliebe, um schließlich in jener allgemeinen Menschenliebe aufzugehen,
zu der schon die antiken Meister der Weisheit gemahnt haben. So in
großartiger Symbolik die
Geistesführer des Urchristentums: Christus ist die Personifikation einer
geeinten Menschheit, ist der Hirt, der die Herde treulich
zusammenhält,
ist
der Weinstock, um den sich die Reben ranken, und ist das Reich Gottes, dessen
einende Kraft im Abendmahl die Jünger zusammenhält, wie sich unsere Zellen zum
Gesamtkörper organisieren. Dies alte Ideal ist durch das Sinnen der folgenden
zwei Jahrtausende nicht überholt worden.
Unter
den neuzeitlichen Verherrlichungen der Menschheitsidee hebe ich ein paar Proben
heraus. Zunächst des mystischen Dichters Angelus Silesius:
Die
Menschheit ist’s, die man im Menschen lieben soll ...
Der
Mensch hat eher nicht vollkommener Seligkeit,
Als
bis die Einheit hat verschluckt die Anderheit ...
Ach,
dass wir Menschen nicht, wie die Waldvögelein,
Ein jeder
seinen Ton, mit Lust zusammenschrein.
Der
Künstlerphilosoph Richard Wagner lehrt im Anschluss an Jung-Hegelsche Gedanken
eine All-Einheit des Menschengeschlechts, deren Umrisse folgendermaßen laufen:
„Gleichwie
der Mensch viele und mannigfaltige Glieder hat, von denen jedes sein Geschäft
und Nutzen und besondere Art hat, die alle zusammen aber doch nur den einen
Leib ausmachen, so sind alle Menschen die Glieder des einen Gottes...Gottes
teilhaftig in der Unsterblichkeit sind alle, die ihn erkennen: Gott erkennen
heißt ihm dienen: das ist, seinen Nächsten lieben wie sich selbst.“
Gott
ist also für Richard Wagner die geheimnisvolle Einheit des Menschengeschlechts,
die in der Liebe zutage tritt, und die „erkennen“ Liebe üben heißt; er ist mit
der Menschheit von Anfang an eins.
„Aber
die so geeinte Menschheit bedeutet doch zunächst nicht mehr als ein Ideal, in
leuchtenden Farben auf die sonst so graue Wand der Zukunft gemalt.“ Dieser
Einwand ist berechtigt. Es liegt ja auf der Hand, dass der Zusammenschluss der
egoistischen Einzelmenschen, der hadernden Parteien und mordenden Völker zu
einem höheren Organismus gegenwärtig noch sehr mangelhaft verwirklicht ist.
Eine ähnliche Mangelhaftigkeit freilich müssen wir auch dem Körper des
Einzelmenschen zuschreiben, der doch oft von Krankheiten heimgesucht wird und
durch sein Sterben beweist, dass an der Maschinerie noch lange nicht alles in
Ordnung [ist]. Überhaupt sind die zweckmäßigen Gebilde, die wir im Naturreich
vorfinden, nur Etappen auf der Suche nach Organismen, die in sich selbst sowie
im Verhältnis zur Umwelt, vollkommene Harmonie haben. Wenn also die
Weltgeschichte ein Suchen nach Vollkommenheit darstellt, so macht die sittliche
Mangelhaftigkeit der Menschheit keine Ausnahme von der Regel. Noch
lange nicht haben wir Sterblichen die höhere Sphäre, den Übermenschen
verwirklicht. Immerhin ringen wir in unseren
edelsten Vertretern nach
dieser Richtung, und wenn der Sinn des Lebens keine Täuschung bedeutet,
so sind die Ideale des Wahren, Schönen und Guten eine sich ausbildende
Naturgesetzlichkeit; und gegenseitiges Verständnis, Mitgefühl und Liebe oder
wenigstens Rücksichtnahme und Duldsamkeit, gegenseitige Achtung und
Menschlichkeit werden einmal das sittliche Leben derart harmonisiert haben, wie
die naturalistische Seite des Kosmos in Form der Naturgesetze bereits vorliegt.
10. Das geniale
Bewusstsein
Gegen die
Annahme dass wir Menschen zu einem höheren Wesen zusammenwachsen, ließe sich
die Frage vorbringen, wie es denn komme, dass der Einzelmensch vom Bewusstsein
des übergeordneten Organismus nichts unmittelbar erlebt und erst durch eine
Schlussfolgerung zu ihm geführt wird.
Zur
Antwort verweise ich auf das Schwellengesetz, nach dem die untere Sphäre nur
spärlichen Anteil am Oberbewusstsein hat – nämlich nur da, wo untere Erlebnisse
zu einer Bedeutung wachsen, die in der höheren Interessenssphäre Geltung
findet. So bleiben im Allgemeinen die seelischen Inhalte unserer Zellen
unterhalb der Schwelle unseres gewöhnlichen Bewusstseins und treten daselbst
als Empfindung und Gefühl nur soweit auf, als sich aus der Masse des
Gewöhnlichen etwas Besonderes hervorhebt – etwa das schmerzliche Anzeichen
einer Krankheit oder Hunger und Durst.
Gleichfalls
nur zum Teil macht sich das Oberbewusstsein nach unten für die Psyche
eingeordneter Organe bemerkbar. Während z. B. die Zellen des Herzmuskels oder
des Nervus sympathicus gewöhnlich keinen Anteil nehmen an dem, was unser
Oberbewusstsein beschäftigt, wirken einzelne Erlebnisse daselbst – Schreck,
Zorn, Scham, Sehnsucht – erregend oder lähmend auf den Schlag des Herzens, auf
die Funktionen der Blutgefäße und andere sonst „unbewusste“ Zellentätigkeiten
ein.
Ein
ähnliches Verhältnis nun zeigt der Organismus Menschheit in Form des so
genannten genialen Bewusstseins. In der Tat stammt es von einem Genius her, aus
der höheren Sphäre des Menschheitsgeistes. In der Genialität überwindet der
Einzelne seine gewöhnliche Ichform und lebt fühlend in der "Überseele“,
wie Emmerson sagt.
Genial ist
ein Forscher, insofern er sich dem Genius der Erkenntnis ergibt, d. h. sein
Ich, frei von Vorteilssucht, frei von Ehrgeiz und Rechthaberei, ebenso demütig
wie tapfer in den Dienst der Wahrheit stellt. Solcher Edelsinn macht ihm das
Geistesauge klar und sicher, so dass es tief und großartig die Zusammenhänge
erschaut und die Materialien, die treuer Fleiß gesammelt, derart ordnet und
deutet, dass sie dem Erkenntnistrieb Klarheit und Reichtum geben.
Indem
wir bedenken, dass es sich hier um ein System von Begriffen, Gesetzen und
Erklärungen, also um das Erfassen von Identitäten handelt, bemerken wir, worin
die allerhöchste, die kosmische Bedeutung der Wissenschaft besteht: Indem sie
in die sonst verwirrende, fremd und feindlich zerrissene Welt Ordnung, Einheit
bringt, trägt sie dazu bei, dass der Ichmensch die Einheit der Dinge und seine
Identität mit den anderen Wesen durchschaut und sich wenigstens theoretisch vom
egoistischen Standpunkt zum harmonischen bekehrt.
In
gleicher Weise genial, in die höhere Sphäre erhebend, wirkt das Schauen und
Schaffen des Künstlers oder, allgemeiner gesagt, des künstlerisch erlebenden
Gemütes. Wie besonders Schopenhauer nachgewiesen hat, beruht alles ästhetische
Empfinden auf einer Überwindung oder doch Beruhigung des Egoismus. Wer die Idee
des Schönen schaut, wird „aus sich selbst entrückt“ wie Faust; d. h. er hat
sein niederes Ich vergessen. Erst wo der „Wille zum Leben“, wie Schopenhauer
sagt, oder, mit anderen Worten, der engherzige Sinn für Vorteil und Nachteil,
gleich einem drückenden Sklavenjoch überwunden ist, erst da kann das bessere
Selbst erwachen: unsere innige Teilnahme an der Mitwelt, jene Liebe, von der
ein Kunstwerk, um echt zu sein, beseelt sein muss.
Im
Zusammenstimmen der Gefühle, im poetischen, einzig neuen, daher magisch
verklärten Schauen, sowie in einem Reichtum von Beziehungen, den nur die
Unendlichkeit haben kann, geht uns die Weisheit des Brahmanenwortes auf
"Das bist du!" Ja, die Welt mit ihren zahllosen Geschöpfen, das
Himmelszelt in seiner Erhabenheit, das wilde Meer wie der heilige Wald und die
keusche Blume, das Raubtier wie der Schmetterling, der Mitmensch, die
unerschöpfliche Fülle von Gefühlen und Anschauungen, die das Menschentum
enthält, allerlei leidende und fröhliche Kreatur, Geburt und Tod – all das, o
Mensch, bist du selbst!
Aus
dem Spiegel der Umwelt blickt dich dein tiefstes Wesen an, und so verklärst du
dich zum besseren Selbst. Mindestens in der holden Träumerei fühlst du dich
erlöst aus dem Kerker der Ichsucht. Wohlan denn, umfasse mit deiner Teilnahme,
was da lebt und webt. Einen Mittler, der diesen Seelenzustand fördert, hast du
am Künstler. Er, dem das Herz aufgeht beim Anblick eines schlichten Baches,
eines Gebüsches, einer Blume, eines Menschenkindes, dieser Entdecker feinster
Zusammenhänge und Erlauscher zusammenstimmender Gefühle, dieser Deuter des
Herzens, der den Bösen wie den Edlen, den Eigenartigen wie den Alltagsmenschen
mit Sympathie durchleuchtet, dies „klare Weltenauge“ kann uns zu der Seelenruhe
leiten, die Spinoza „geistige Liebe zu Gott“ nennt.
Dem
Menschenkenner bleibt freilich unverholen, dass der Künstler und der Forscher
durch ihre Genialität nicht immer vor der Einseitigkeit, dieser Schlacke des
Endlichen, bewahrt werden. Ein Schopenhauer war nur als Theoretiker groß und
nicht imstande, als Charakter in der Lebenspraxis seine höchste Erkenntnis zu
betätigen. Wie häufig künstlerische Begabung blasses Ästhetentum ohne sittliche
Weihe bedeutet, das zeigen die Atelierlöwen von heute; und Tolstoi hat, von
Übertreibungen im Einzelnen abgesehen, ganz Recht, wenn er den üblichen Kotau
vor dem, was Kunst und Wissenschaft heißt, verweigert. Erst Güte gibt dem
Wahren und Schönen seinen vollen Wert und vervollständigt die Leistungen
wissenschaftlicher und künstlerischer Genies. In der Hingabe an das Dreigestirn
des Idealismus, das aus der höheren Sphäre des Menschentums strahlt,
verwirklichen seine eingeordneten Glieder den Sinn des Lebens.
Auf
welchem Wege auch immer der Mensch dazu gelangt, in einem Mitwesen sein eigenes
Selbst wiederzuerkennen, er wird – sofern dies Erlebnis die Tiefe seines
Charakters ergreift – zu einer höheren Lebenspraxis bekehrt. Schon das Kind,
das unbedachtsam einem Tier weh getan, fühlt sich zu einem edleren Benehmen
verpflichtet, sobald ihm klar wird: es fühlt wie du den Schmerz! Und so beruht
auf dem mitfühlenden Verständnis für die Umwelt alle Moral, die mehr ist als
Familien-, Standes- und Klassenegoismus, mehr als Knechtseligkeit und
Werkgerechtigkeit.
„Liebe
deinen Nächsten als dein Selbst – widerstrebe nicht dem Übel mit Gewalt –
liebet eure Feinde!“ mit dieser Mahnung spricht Christus die echt humanistische
Erkenntnis aus, dass das Böse nur in unpersönlicher Weise überwunden werden
kann, so dass nicht sein zufälliger Träger, ein Beet, auf dem das Unkraut
gerade wächst, vernichtet, sondern das Unkraut ausgerodet wird, nämlich jener
Wahn der Ichsucht, der den Einzelnen rücksichtslos macht.
Obwohl
solcher Verfinsterung unterworfen gehört jeder Einzelmensch doch auch zur Herde
des heiligen Hirten; und eben aus diesem Grund, weil er Beruf und Anlage zum
höheren Leben hat, soll er nicht noch niedriger gedrückt, nicht misshandelt,
nicht getötet, vielmehr zum Besseren erhoben werden; das aber kann nur eine
Menschlichkeit, die nicht verdammt und umbringt, sondern noch im bösartigen
Verbrecher den Keim zum besseren Selbst anerkennt.
11. Die Bedeutung
des Bösen
Bosheit
und Güte, diese Gegensätze vor Augen, stehen wir einer rätselhaften Tatsache des
kosmischen Lebens gegenüber: seiner Zwiespältigkeit, die doch ebenso zweifellos
vorliegt wie seine Einheit. Ein „Monismus“, der an ein absolutes Monon, an pure
Einheit ohne Widerspruch glaubt, ist ebenso verfehlt wie ein Dualismus, der die
Gegensätze im Dasein für unermittelt und unüberwindlich hält. Philosophisch
haltbar ist nur eine Weltanschauung, die Monismus und Dualismus in der Weise
verschmilzt, dass sie beide relativ gelten und einander ergänzen lässt. Um die
Bedeutung des Dualismus zu erleben, muss man die naturalis-
tische Einseitigkeit, die fast nur auf die äußere, physische Seite des Daseins
hinblickt, verlassen und sich im geistig-sittlichen Bereich umsehen.
Eine
Weltanschauung soll eben nicht bloß auf sinnlicher Erfahrung und verständiger Zurechtlegung
fußen, sondern zugleich Gemüt und Charakter, die gesamte geistige
Persönlichkeit befriedigen. Indem wir nun als fühlende und wollende Wesen im
Weltall stehen, erleben wir dessen Werte in einer unendlichen Skala abgestuft.
Aus
dem finsteren Abgrund der Nichtigkeit ragt eine Stufenleiter zu den lichten
Höhen des Vollkommenen empor, und wir, wie alle Wesen, klimmen auf dieser
Himmelsleiter. Höher möchten wir empor, dorthin, wo es uns besser deucht. Den
Aufwärtsstrebenden aber umfassen neben Boten des Lichts auch Dämonen des Wahns.
Gierig haschen wir nach Lust und Gütern, verlieren dabei oft den Halt und
stürzen zur Tiefe. Entsetzt umhergreifend klammern wir uns dann wieder an einer
Sprosse fest, und aufs neue geht’s empor. Massenhaft tobt Kampf unter den
Wesen, die einander die besseren Plätze streitig machen. Heil dem, der während
seiner Lebensspanne auch nur ein wenig höher kam! Sein Leben entspricht dem
Sinn des Ganzen.
Wohin denn
aber gilt es zu gelangen? Den Bescheid versuchen bildliche Ausdrücke. Die Tiefe
ist das Minderwertige, ist geistige und sittliche Finsternis, lähmende Kälte,
Niflheim, Hölle, das Nichtige und Trügende, Vergängliche und Zerstörende, der
Irrtum und die Lüge, das Hässliche, die Gemeinheit und rohe Selbstsucht.
Hingegen bezeichnet die andere Richtung das „Höchste Wesen“, das „Licht der
Welt“, den „Logos“, das „Königreich der Himmel“, das „ewige Leben“, das
Vollkommene, Schöpferische und Erhaltende, den Inbegriff aller Ideale, den Sinn
des Daseins.
Im
„Faust“ werden die beiden polaren Gegensätze so außergewöhnlich tief erfasst,
dass auch in dieser Hinsicht Goethes weise Dichtung eine Offenbarung ist. Dem
„Herrn“ stellt der Prolog im Himmel Mephistopheles gegenüber. Als „Geist, der
stets verneint“, als ungefügiger „Sohn des Chaos“ bedeutet dieser die Macht der
Unordnung, die des Lebens Harmonieformen zu vernichten, die Emportriebe ins
Niedere zu lenken sucht.
Mephistopheles
ist nichts Geringeres als die eine Seite des Daseins. Tagtäglich haben wir mit
ihr zu tun, und darin eben wurzelt unsere Sehnsucht nach einem höheren Sinn des
Lebens, dass wir unter einem Wust von Nichtigkeiten schmachten und seufzen. In
seinem Selbstporträt erinnert Mephisto an Sisyphus, ahnend, dass all sein Mühen
schließlich unfruchtbar bleibt. Im Schicksal Fausts betätigt sich
Mephistopheles als das minderwertige Ich, als genusssüchtiger und herrischer
Egoismus. Auch als die Zersetzung, die das Vertrauen zur idealen Welt, den
Glauben an den Logos zerstört. Wenn Mephisto eine Macht über Faust erlangt, so ist
der Grund dafür in dessen Desperation zu suchen. Es ist bezeichnend, dass der
Dämon der Nichtigkeit in dem Moment sich Faust nähert, wo dieser am Sinne
seines Lebens derart verzweifelt, dass er zum Selbstmord greift und Hoffnung,
Glauben und Geduld verflucht.
Andererseits
bedeutet das Erwachen höherer Gefühle in Faust jedesmal ein Verdrängen des
finsteren Geistes. Alle Reden und Betätigungen Mephistos kann man als eine
dialektische Darstellung des niedrigen Lebenspols und als Vorgänge menschlichen
Innenlebens betrachten.
Somit
bestärkt der philosophische Gehalt der Faustdichtung durchaus nicht jenen
Dualismus, der etwas Übernatürliches der Natur gegenüberstellt. Gott und
Teufel, Himmel und Hölle, Sinn und Unsinn sind vielmehr immanente Verhältnisse
der Allnatur; und in ihrer mittelalterlichen scholastischen Gewandung verkündet
die Faustdichtung entschieden den Monismus als eine Untrennbarkeit von Gott und
Welt, wie sie Giordano Bruno meinte, der den Zusammenbruch des scholastischen
Dualismus vollendete.
An
diesen philosophischen Lehrmeister schließt sich Goethe an, zugleich an die
Zwei-Einheits-Idee der persischen Religion. Zwei Gottheiten lässt diese gelten,
Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, Sinn und Unsinn; aber Ormuzd und
Ahriman sind Zwillingsbrüder, und mag ihr Streit um den Besitz der Welt und
Menschheit schier unversöhnlich toben, am Jüngsten Tag wird Frieden
geschlossen. Dann bekehrt sich der finstere Geist zum Lichte, auch die Hölle
findet Erlösung, und es wird offenbar, dass auch das Böse dem Guten dient und
die Finsternis nur dazu da war, des Lichtes Fülle in seiner prangenden
Schönheit, Wahrheit, Güte triumphieren zu lassen.
Wir haben
es hier mit einer bedeutsamen Wahrheit in der Entwicklungsgeschichte des Lebens
zu tun. Der Schmerz gehört nicht minder wie die Freude zu dem Impulsen
lebendiger Betätigung; nicht zu entbehren vermag ihn die Menschheit. Schmerz
macht vorsichtig und klug; die Not ist die Mutter aller Erfindungen. Kälte und
Finsternis mussten die Horden der Eiszeit erleiden, um das Feuer bereiten zu
lernen; und wenn wir bedenken, dass auf der Anwendung des Feuers so ziemlich
die gesamte Technik beruht, müssen wir jenes physische Missgeschick preisen,
das den Prometheusfunken bescherte. Das Drohen des Hungers war es ohne Zweifel,
was den vorgeschichtlichen Menschen zur Viehzucht und zum Ackerbau brachte.
Wassernöte
mussten erlitten werden, bevor man darauf verfiel, einen schwimmenden Baumstamm
zum Kahn auszuhöhlen und als Transportmittel mit Ruder oder Segel durch die
Flut zu bewegen.
Aber
nicht bloß materielle Not bildete einen Antrieb zur Vervollkommnung, sondern
auch die geistig-sittliche. Ein Dürsten nach Klarheit treibt den Forscher,
seine Probleme zu lösen, der Zweifel spornt den ringenden Geist an, den
quälenden Zustand der Ungewissheit zu beseitigen. Jene sittliche Not, die wir
Schuldbewusstsein, Gewissensqual nennen, ist für viele aufwärtsstrebende
Charaktere ein unentbehrlicher Antrieb. Auch hängt die Vervollkommnung des
sozialen Körpers ebensosehr von sozialen Schmerzen wie von Befriedigungen der
Verheißungen ab. Unzufriedenheit hat sich in der Geschichte der Völker als
Kulturhebel erwiesen, während soziale Gemeinschaften, die sich einer bornierte
Zufriedenheit ergaben, der Versumpfung anheimfielen.
Durch
Leiden wird das Mitgefühl ausgebildet, die Liebe verfeinert, der Heroismus
gestählt. Findet sich denn nicht gerade unter Armen und Kranken besonders viel
Mitleid mit ihresgleichen? Und was den Heroismus betrifft, so wird Giordano
Brunos Entschluss, seine Überzeugung nicht zu widerrufen, vielmehr als Märtyrer
zu ihrem Triumph den Scheiterhaufen zu besteigen, psychologisch verständlicher,
wenn man bedenkt, dass ihn jahrelanger Kerker nebst Folter nicht mürbe, sondern
stahlhart gemacht hatte, und dass er seine Leiden nicht umsonst erlitten haben
wollte, sondern zugunsten seines höheren Selbst, das ihm desto lebendiger
wurde, je mehr er als arme Kreatur zu leiden hatte.
So
dient manches , das man zunächst schmerzlich als Übel empfindet, zur Vertiefung
und Veredlung des Gemütes.
Sogar
das Verbrechen erweist sich, obwohl verabscheuenswert, in gewisser Hinsicht als
Fortschrittsmoment; denn wie die Schmerzen des Patienten, ihr Sitz und ihre
Art, dem Arzt Aufklärung über die Natur der Krankheit verschafft, das er sie zu
heilen imstande ist, so zeigt jedes Verbrechen dem sozialen Arzt, wo etwas
morsch und faul am Gesellschaftskörper ist, und gibt wenigstens einen
Fingerzeig über den Weg zur Heilung.
Solche
Betrachtungen enthüllen uns die bedeutsame Wahrheit, dass das Übel im Weltall, weit entfernt, den Sinn des
Daseins vereiteln zu können,
ihn
vielmehr befördern muss, wie Mephistopheles, von dem „der Herr“ sagt, er müsse
„als Teufel – schaffen“.
Welch
ein erhebender Trost über unser Gemüt! Verscheucht ist ihm auf einmal jene abergläubische
Furcht vor dem Teuflischen, die das Mittelalter so unheimlich macht.“ Harmlos,
humorvoll mit einem stillseligen Augenblick lernen wir die niedrige Seite des
Lebens betrachten. Alles Leid und Übel bedeutet ja keimende Freude und
Erhebung: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“ Das Böse ist das
unreife Gute, aus Irrtum und Wahn sprießt heimlich die Wahrheit empor, das
Hässliche ist ein bloßer Mangel an Schönheit, und alles Minderwertige trägt
insofern Heilkraft in sich, als gerade der Mangel zur Vervollkommnung treibt.
Was wir den Unsinn des Lebens nennen, hat zwar innerhalb des Zeitlichen, in der
geschichtlichen Entwicklung Wirklichkeit, aber keine absolute Gültigkeit; es
bildet eine Vorstufe des höheren, und in der Schau des Ewigen, das ja die
unendliche Reihe der Entwicklungsstufen umfasst, bildet die Geschichte des
Weltalls eine Symphonie, das Böse darin die aufgelöste Dissonanz.
12. Tod und
Unsterblichkeit
Das
gilt auch vom Tode, der gewöhnlich von den Menschen als ein Übel betrachtet
wird, wie sie denn die Hinrichtung für die schwerste Strafe halten. „Und eh man
noch den halben Weg erreicht, muss schon ein armer Teufel sterben“ – dieser
trübselige Gedanke, den nicht allein die Philister, sondern selbst ein
Titanengeist Gefolgschaft leistet, kann sich erweitern zur Verzweiflung am Sinn
des Daseins. Zumal in unserem materialistischen Zeitalter stehen Millionen von
Menschen an den Gräbern, in die sie ihre Lieben hinuntersenken, in einer
Stimmung, die an Mephistos Meditation bei Fausts Leichnam erinnert.
Vorbei
und reines Nichts, vollkomm´nes Einerlei ...
Da
ist’s vorbei – was ist daran zu lesen?
Es ist so
gut, als wär´ es nicht gewesen.
Aber
ist das wirklich wahr? Ist es mit einem toten Menschen gänzlich vorbei? Dürftig
lautet der Trost des Materialisten, dass der Leichnam nach dem Gesetz von der
Erhaltung des Stoffes und der Kraft im Haushalt der Natur zu neuen Gebilden
verwendet werde und sich in Gras und Blumen, Tiere und neue Menschen
verwandele; was uns den Verstorbenen teuer macht, ist ja nicht sein Erdenstaub,
sondern seine Individualität, wie sie sich in Charakter, Innenleben und
Betätigung ausprägt. Wer also das Wort Unsterblichkeit nicht als gehaltlose
Redensart anwenden will, muss darunter
das Fortleben der geistigen Individualität verstehen.
Die
Psychophysische Anschauung betrachtet alle menschliche Wirklichkeit als eine
Zweiheit von Reihen: der körperlichen Reihe entspricht auf allen ihren Punkten
eine seelisch-geistige, und wenn es eine physische Unsterblichkeit gibt, so
muss ihr eine psychische entsprechen.
Das
Gesetz von der Erhaltung der Energie gilt also nicht bloß in der äußeren Natur,
sondern auch im Bereich der Innerlichkeit. Suchen wir aber nach einer
Beschreibung dieses Reiches, soweit es über den einzelnen Menschen hinausgeht,
so finden wir als nächstes Gebiet den Menschengeist, in dem die einzelnen
Individualitäten gleich Wellen im Strom enthalten sind. Da nun der
Menschengeist wiederum einem Höheren eingeordnet ist – dem Geist aller Geister,
jenem Meer, „das flutend strömt gesteigerte Gestalten“ – so bedeutet jede
Individualität nichts Geringeres als eine bestimmte Tendenz des Allgeistes und
hat folglich ein unendliches Feld zu ihrer Existenz und Betätigung.
Die Art
ihres Fortlebens über das Grab hinaus lässt sich an einem physischen Bild
veranschaulichen: Ist ein Stein ins Wasser gefallen, so können wir noch des
weiteren, mag er auch schon auf dem Grunde liegen, seine Wirksamkeit ringsum
beobachten. Die von ihm angeregte Lufterschütterung vernehmen wir vielleicht
noch als Echo, und der Spiegel des Wassers zeigt Wellen, die den Ort des
Einfalls umzingeln, und zwar in der Weite immer unmerklicher werden, niemals
jedoch ihre Energie in Nichts verschwinden lassen.
Ähnlich
nun die geistigen Wellen, die ein Mensch um sich herum verbreitet. Es sind die
eigentümlichen Wirkungen seines Lebens, in denen sich seine Eigenart ausprägt.
Aufgenommen werden sie von Mitmenschen, die sie verarbeiten und der Nachwelt
vermachen. Wenn sich bei diesem Weiterwirken neue Formen bilden, so haben wir
hier nur ein Seitenstück zum physischen Gesetz von der Erhaltung der Energie
und des Stoffes. Wo auch immer eine Arbeit verrichtet, ein Gefühl, ein Gedanke
angeregt, ein Beispiel gegeben wird, fällt ein Samenkorn in den Schoß der
Menschheit, um sich heimlich zu entwickeln, österlich aufzuerstehen und
fortzuwirken ohne Ende. Und kein Moment unseres Lebens bleibt bedeutungslos,
jede Winzigkeit wird unverlierbar im All aufbewahrt. Die großen Menschen machen
sich unsterblich in ruhmreichen Werken, die ihrer Individualität eine neue
Körperlichkeit verleihen, sogar einen getreueren Ausdruck dafür als es Fleisch
und Bein zu sein vermag.
Hat
nicht der Kunstfreund Recht, in einem Bild von Dürer, einem Musikstück von
Beethoven den Schöpfer selbst zu sehen, so dass man die bezeichnende Redensart
gebraucht: „Da haben wir einen Dürer, einen Beethoven“? – Und bedeutet nicht in
gleicher Weise jegliche Tat, durch die ein Mensch schafft und der Menschheit
spendet, eine edle Selbstverkörperung? Auch die Namenlosen leben fort.
In
einem Dorf ein armes Mütterchen, das Jahrzehnte hindurch Haus- und Feldarbeit
getan, dem geliebten Manne Kinder geschenkt und sie rechtschaffen erzogen, den
Nachbarn stets Güte und Beistand erwiesen hat, - in solcher schlichten Weise
macht es sich unsterblich; und wer weiß, ob das gute Beispiel, das es den
Kindern vorlebte, die edlen Anregungen, die sein Charakter ausstreute, nicht
später einmal sich verdichten zu einem sittlichen Wohltäter der Menschheit.
Wohl oder übel leben überhaupt die Eltern in ihren Kindern fort; im allgemeinen
Sinne aber hat jeder Mensch Kinder – seine Werke sind es.
Was
mit ihrer rein kausalen Unsterblichkeit eine endlos moralische Bedeutung
verknüpft, ist der Umstand, dass sich aus aller Tüchtigkeit neue Tüchtigkeit
entwickelt, während Wahn und Laster ebenfalls ihresgleichen erzeugen:
Das
aber ist der Fluch der bösen Tat,
Dass sie fortwährend Böses
muss gebären.
Mit diesem
Bewusstsein wächst unser Verantwortungsgefühl, und nicht etwa bloß Menschen sind
wir verantwortlich für unser Wirken, auch einem ewigen Richter: dem Sinn des
Daseins. Seine Bestrafungen sind keine künstlichen Qualen, von einer Autorität
verhängt, sondern die natürlichen Folgen einer Tat, die in ähnlicher Weise auf
den Täter fallen, wie im Volksmärchen auf das fleißige Mädchen Gold, auf das
faule Pech regnete.
Das
Böse bestraft und mordet sich selbst, wie Judas sich erdrosselte. Denn weil
Leben und Freude nur in harmonischen Verhältnissen bestehen kann, das Böse aber
stets Disharmonie bedeutet, so ist Zerfall seine Tendenz. Eine sittlich
verfallene Nation zerrüttet sich selbst und wird von tüchtigen Völkern
verdrängt. Und in der Kunst, Wissenschaft, Ethik behaupten sich lediglich
Werke, die zur Harmonie der Menschheit beitragen. Während die Wahngebilde eines
Irrsinnigen der Vergessenheit anheimfallen, lebt unsterblich die mathematische
Entdeckung des Pythagoras oder etwa die Verherrlichung der Liebe im
Korintherbrief.
Das
unendliche Fortleben der geistigen Persönlichkeit in ihrem Tatenleib ist etwas
ganz anderes als der Unsterblichkeitsglaube von Egoisten, die sich an
himmlischer Freudentafel gütlich tun und den Frevler mit der höllischen
Folterkammer einschüchtern möchten. Doch das Vornehme wird nicht leicht
populär. Der gewöhnliche Mensch macht sich nicht viel aus seinem Tatenleib,
weil er darin etwas ziemlich Fremdes und jedenfalls erst Zukünftiges sieht.
Weist man ihn darauf hin, dass seine Handlungsweise Folgen über sein Grab
hinaus hat, so entgegnet er wohl oder denkt es heimlich: „Nach uns die
Sintflut! Vom System meiner Wirkungen, das nach meinem Tode ein schattenhaftes
Dasein führt, habe ich keinen Vorteil, keinen Nachteil; denn sobald ich ins
Gras gebissen habe, weiß ich nichts mehr.“
Selbst
wenn der letzte Satz Widerlegung fände, wenn philosophische Spekulation, etwa
im Sinne Fechners, den Nachweis erbrächte, dass der Tatenleib mit individuellem
Bewusstsein lebt, so bleibt der gewöhnliche Mensch noch geneigt, das, was ihm
später einmal geschieht, gering zu schätzen. Blass und winzig erscheint ihm die
Zukunft im Verhältnis zur Gegenwart, ähnlich wie ein fernes Gebirge am Horizont
nur ein Dunststreifchen ist, während uns die nahen Gegenstände groß und grell
umringen. Ist man der Ichsucht ergeben, so wird man von ihrem Grundwahn eben
verblendet, und jede Erkenntnis, die das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen
betrifft, erleidet eine gewisse Verzerrung.
Zu den
schief geratenen Ansichten gehört auch der Glaube, dass zeitliche Trennung
absolute Gültigkeit habe, und dass die Zukunft ein Nichts sei, ebenso wie die
Vergangenheit keine Existenz mehr habe.
Hiergegen
wendet nicht bloß der Theoretiker von Königsberg ein, die Zeit sei eine
Anschauungsform des Subjekts; auch die Weisheit des Herzens fühlt es tief,
dass, von einer höheren Sphäre aus betrachtet, Zukunft und Vergangenheit volle
Realität besitzen, nämlich dem unvergänglichen Jetzt der Ewigkeit angehören.
Nicht
mehr vom Ichwahn befangen, erwacht man zur Einsicht, dass die Individualität
identisch ist mit ihren Wirkungen, mögen diese auch in fernsten Zeiten und
entlegensten Himmelsräumen erfolgen. Dem so Erwachten braucht nicht bewiesen zu
werden, dass sein Tatenleib bewusst leben wird, schon im Jetzt hat er das
Bewusstsein der Verewigung. So ist denn sein Wachsen in die höhere Sphäre keine
zeitliche Entwicklung, sondern ein unmittelbares Erfassen des Höheren ohne
zeitliche und räumliche Umstände. Auf einmal wird das Ganze erlebt, wie es
Goethe in dem großartigen Wort meint: „Der Augenblick ist Ewigkeit.“.
13. Das bessere
Selbst oder All-Selbst
Die echte
Weisheit hebt also mit einem neuen Fühlen an, sie ist ein Entschluss, eine
Charaktertat. Weil es dabei das alte Leben zu verlieren und eine ungewohnte
Welt zu erobern gilt, so ist die antike Mahnung zutreffend: Sapere aude – wag
es, ein Weiser zu sein! Diesem Wagnis hingegeben erhebt sich das Selbst zur
wahren Freiheit. Solange wir nur in der Ichform leben, fühlen wir uns innerlich
wie äußerlich von Verhältnissen der räumlich-zeitlichen Welt bestimmt.
Unabhängig
und ursprünglich verhalten wir uns erst, wo die höhere Sphäre uns ergreift.
Bedeutet sie doch in ihrer wesentlichen Richtung den Allgeist selbst, und der
allein ist frei, weil es neben ihm nichts gibt, das ihn bestimmen könnte.
In dem
also, was wir als unser besseres Selbst erleben, tritt erst eigentlich der
Schöpfer auf, während die naturgesetzliche Ordnung bloß den Erhalter offenbart.
Wie der Blitz ist diese schöpferische Ordnung aus der Höhe; im Nu beleuchtet
sie den bedeutsamsten aller Zusammenhänge, der zuvor im Dunkeln lag; eins fühlt
sich das Geschöpf mit seinem Urgrund und zu einem neuen Leben erweckt.
Solche
Umwandlung des Sinnes und überhaupt das Erleben der höheren Sphäre können wir
ziemlich deutlich an den großen Mystikern be-obachten, beispielsweise an
Plotin, Franziskus von Assisi, Meister Eckhart, Suso, Sebastian Franck und dem
Verfasser der Deutschen Theologie, ferner an Jakob Böhme und Angelus Silesius.
Doch nicht
bloß in großartigen Bekehrungen zeigt sich die Sinneswandlung, sondern innerhalb
des täglichen Lebens als eine Fülle und Ausweitungen des Ich in der Richtung
zum All.
Der
unreife Mensch, zunächst also das Kind ist ein naiver Egoist, dessen
Lebensinteressen vorwiegend auf Wachstum und Erhaltung seines Körpers, auf
Genuss und Schmerzvermeidung gerichtet sind.
Was nun
diesen gewöhnlichen Menschen der höheren Sphäre näher bringt, sind
Freundlichkeit und Liebe zur Umwelt. Indem das Kind Mutter und Vater,
Geschwister und Gespielen gern hat, versetzt es sich immer inniger in sie
hinein und erweitert so die Form seines Erlebens. Und wenn das Gemüt in einer
Landschaft aufgeht, vom Frieden einsamer Felder, von der Erhabenheit des
Sternenhimmels geweiht, oder wenn es sich in Stimmungen eines dichterischen,
malerischen, musikalischen Kunstwerkes verloren hat, so fühlt sich der Mensch
von seiner gewöhnlichen Lebensform wie aus einem Kerker erlöst.
Wie
Sympathie zu den Sternen erheben kann, zeigt beispielsweise Schillers Lied an
die Freude: der gemütliche Jubel beim Klang des Bechers wird dem genialen
Dichterphilosophen zu einer Symphonie, die das Gewimmel der Sonnenbälle und
Planeten im unermesslichen Raum anstimmt nebst den prangenden Blumen und
Geschöpfen der Erde, besonders auch den vom Ideal erfüllten Sterblichen.
Die
überwältigende Macht und geheimnisvolle Schönheit der höheren Sphäre kommt
sogar Menschen, die nicht zur Begeisterung neigen, während einer Periode ihres
Lebens zum Bewusstsein, wenn sie nämlich die Liebe zum anderen Geschlecht
hinreißt. Obwohl diese oft nur in der minderwertigen Form der Genusssucht
auftritt, waltet doch etwas Großes darin, und eben das Große bedingt ihre
überwältigende Macht: es ist der „Genius der Gattung“, das Interesse, das der
Menschheitsorganismus an dem Wiederersatz seiner sterblichen Glieder nimmt. Die
Zeugung ist das unentbehrliche Korrelat des Todes. Was der emporringende Geist
der Menschheit in den bisherigen Einzelgestaltungen noch nicht erreicht hat,
sucht er durch neue zu ermöglichen, und von dieser Vervollkommnungspolitik
erfüllt, leiht er der Fortpflanzung mehr oder minder eine himmlische
Verklärung. Mit besonderer Genialität tritt solche Erotik in gefeierten
Liebespaaren auf, wie sie in Geschichte, Sage und Dichtung aller Völker
heroengleich leben; ich nenne Hero und Leander sowie Romeo und Julia, die ihr
zeitliches Leben ohne Bedenken opferten, um den tiefen Sinn ihrer Liebe zu
erfüllen. Genial ist auch Gretchens Hingabe an Faust, und treffend gelangt die
Ewigkeitsbedeutung ihrer Glut in den Worten zum Ausdruck: „Ewig, ewig! Ihr Ende
würde Verzweiflung sein.“
Schon die
Tierwelt zeigt dem Beobachter, dass sie ihrer Gattungsliebe die höchste
Wichtigkeit beimisst, indem manche Tiere daran sterben, und indem die Erzeuger
oft einen Heldensinn walten lassen, der bis zur Aufopferung für die
Nachkommenschaft geht.
Reiner
oft als in der Gattenliebe, nicht mit sinnlicher Lust verschmolzen, tritt die
Liebe in der Elternschaft auf; nichts Ungewöhnliches sind ja jene Mütter und
Väter, die ohne Eigennützigkeit, unter Einsatz ihrer Hauptkraft und Arbeit, das
Wohl der Kinder zu fördern suchen.
Haben
solche idealen Triebe innerhalb des Familienlebens den Menschen mit Interessen
erfüllt, die bereits über die gewöhnliche Ichform hinaus, in die höhere Sphäre
greifen, so bietet das große Kulturleben weitere Anregung zur Entfaltung des
besseren Selbst aus der Ichknospe. In den öffentlichen Interessen, in der
Begeisterung religiöser, politischer, sozialer Parteien, in der Vaterlandsliebe
und in der Humanität waltet mehr oder minder ehrlich, oft unklar oder gar auf
Irrwegen, jener Vervollkommnungstrieb, durch den sich das Weltall als werdender
Gott kennzeichnet.
Den
uns bekannten Gipfel des Idealismus bildet die Gesinnung jener Weisen und
wahrhaft Heiligen, deren Ichleben völlig im Dienste der höheren Sphäre steht,
so dass sie verkörperte Organe des Menschengeistes, des Allgeistes sind. Ihre
Gemütsverfassung lässt sich vergleichen einer seliggroßen Harmonie von Tönen,
auch dem grenzenlosen Frieden einer glatten Meeresfläche, die des wolkenlosen
Himmels ewige Sterne spiegelt. Kein „Glück“ im gewöhnlichen Sinne ist dieser
innere Zustand, sondern jenes Selbstgefühl des Rechtseins, von dem Goethe sagt:
Alle
Tag´ und alle Nächte
Rühm
ich so des Menschen Los:
Denkt
er ewig sich ins Rechte,
Ist er ewig schön und groß.
An
Hoheit reicht dies Selbstgefühl unermesslich hinaus über alles Genießen, schon
deshalb, weil Fausts Bemerkung zutrifft: „Genießen macht gemein.“
Wer
in diesem Leben die Gier nicht missen kann, dem bleibt es versagt, Jünger der
Weisheit zu sein. Erst wenn er durch Enttäuschung aufgerüttelt ist und
einsieht, wie töricht er war, sich für die egoistische Lebensform zu
begeistern, die gleich einer Seifenblase jeden Moment zerstäuben kann, erst
dann trachtet er nach einem Ausweg, der aus Illusion, Unrast und Enge zum Frieden,
zur Klarheit und Freiheit führt. Dann berührt ihn ein Wehen vom Baum des Lebens
und er spürt, dass in dieser Richtung der verlorene Garten Eden wiedergefunden
wird. Keine Lust gibt es dort, aber auch keine Schuld und keinen Tod. „Stark
wie der Tod ist die Liebe“; deutlicher noch wird diese Wahrheit in der Formel:
Überwunden wird alle Todesfurcht durch die Liebe, d. h. durch Hingabe an die
seelischen Überwölbungen des Ichlebens; an das bessere Selbst im Menschen
reicht kein Sterben hinan.
Dass
Todesfurcht nichts als eine egoistische Sorge ist, dass sie schwinden muss,
sobald wir uns freimachen von diesem finsteren Despoten „Ich“, mag folgende
Betrachtung dartun.
Das
Ichbewusstsein beruht auf der Meinung, der Mensch sei lediglich ein Stück Welt,
sonst weiter nichts. Man identifiziert sich mit seinem Körper und seinem
Eigentum. Sobald man aber vor die Aufgabe gestellt ist, dieses Ich genauer zu
bestimmen, sieht man, dass seine Grenzen verschwimmen. Mit welchem Zeitpunkt
begann denn mein Ich zu existieren? Etwa mit dem Tag meiner Geburt? Hat der
Körper des Säuglings nicht in völliger Ausbildung kurz zuvor im Mutterleib
gelebt? Und gehört er als Keim, als Blut und Triebkraft nicht seit uralten
Zeiten seinen Vorfahren an? Dass der Mensch die Spitze der Pyramide bildet,
deren Basis breit und immer breiter in die Vergangenheit reicht, sehen wir bei
einer schlichten Überlegung: Wir haben zwei Eltern, vier Großeltern, bereits
acht Urgroßeltern, und je weiter wir die Generationsreihe verfolgen, desto mehr
gehen die einzelnen Schichten ins Breite; vor Jahrtausenden umfasste mein
Leben, die Wurzel meiner jetzigen Lebensform, ein ganzes Volk, schließlich
sogar die Erde, ja das Weltall.
Insofern
wir Nahrung aufnehmen, leiblich und geistig wachsen, andererseits wieder Teile,
die unserem Körper angehörten, der Außenwelt überliefern, zeigt sich, wie das
Ich mit dem ganzen All in einer Weise verwoben ist, die keine scharfe
Abgrenzung gestattet. Indem wir atmen, Speise und Trank genießen, flutet das
Ganze in den Teil hinein, der Makrokosmos in den Mikrokosmos. Was zuvor
Sonnenstrahl, Regen und Wind, Erde und Keim gewesen, wird Pflanze oder Tier,
Brot oder Fleisch, dann von unserem Organismus aufgenommen und zu seinen Zellen
umgebildet: der Kohlenstoff aber, der soeben noch unserem Ich gedient hat,
entflieht der ausatmenden Lunge und geht in den Kreislauf des äußeren
Naturlebens über.
Die Natur
lässt keine Grenzen gelten, alles fließt. Auch die Empfindungen und
Vorstellungen, die unser Bewusstsein erfüllen, sind nicht im genauen Sinn des
Wortes unser Eigen. Sehen denn nicht Milliarden von Menschen und Tieren die
eine Sonne, die allen gemeinsam strahlt? Oder gibt es wohl ein Ich, in dem
völlig einzige Gefühle und Triebe leben? Bedeutet nicht der Hunger – um dies
Beispiel herauszugreifen – etwas, das alle Geschöpfe tagtäglich bewegt, einen
gemeinsamen kosmischen Trieb? Und hat nicht
Goethe
eine große Wahrheit ausgesprochen, als er jenes Geständnis ablegte, sein Geisteswerk
sei eine gemeinsame Schöpfung aller Menschen? Ja, unser Volk lebt in seiner
Muttersprache, und die ganze Menschheit, ja der allumfassende Weltgeist erfüllt
jeden Einzelnen. So flutet wieder vom Ich ins All jener Strom von Wirksamkeit,
den ich Tatenleib genannt habe.
An solchem
All-Ich-Bewusstsein haben wir nun eine befreiende Erkenntnis, während die
Meinung, das Ich sei absolut vom All unterschieden, sei davon ein abgetrenntes
Stückchen, unseligen Wahn bedeutet.
Eben
diese Meinung bildet den Grund des Egoismus. Hält man sich für das Fragment
einer brutalen Natur, hineingeschleudert in das Gewühl der Kreaturen, die alle
eifersüchtig ihr Leben verteidigen und ihren Genuss erhaschen möchten, so
glaubt man, auf rücksichtslosen Kampf ums Dasein, auf die Gier nach Lebens- und
Genussmitteln angewiesen zu sein, und so zittert man natürlich vor einem
Sterben, das des endlichen Wesens Ende bedeutet. Erwachen wir aus dieser
Täuschung! Es gilt, das Bewusstsein des All-Ich aus dem engen Ich zu entfalten.
„Leb´ im Ganzen! Wenn du lange dahin bist, es bleibt!“
14. Das Recht des
Natürlichen im Höherstreben
In
Umrissen habe ich geschildert, wie der Mensch im reifenden Gemeinschaftsgefühl,
in der fortschreitenden Erkenntnis seines wahren Wesens das zunächst enge Ich
immer mehr ausweitet, so dass es sich zum höheren Selbst entwickelt.
Verschiedene Stationen dieses Werdeganges entsprechen nun die Monumente der
Weisheit, die im folgenden Teil unseres Buches zusammengestellt sind [Diese finden sich in Willes Buch, die hier nicht
wiedergegeben sind.]. Im Großen und Ganzen um die Idee vom höheren
Selbst versammelt, geben sie doch auch der Lebenslust und Kämpferkraft, dem
Sehnen nach Glück und der Weltklugheit des Ich-Menschen manch
charakteristischen Ausdruck. Deshalb braucht unser Buch nicht widerspruchsvoll
zu sein. In gewissen Gegensätzen der Lebensanschauung soll eben nur etwas von
jener Vielseitigkeit des Erlebens und jener Abstufung zum Ausdruck gelangen,
ohne die kein selbständiges Ringen nach höherem Menschentum erfolgen kann. Auch
die sittlich reife, geistig abgeklärte Persönlichkeit wird sich selbst
gestehen: Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.
Bevor wir
nun zu den Monumenten der Lebensweisheit übergehen, ist es wohl angebracht,
eine Missdeutung abzulehnen, der meine Verherrlichung des höheren Selbst
ausgesetzt ist. Indem ich die Körperlichkeit des Menschen, sein daraus
hervorgehendes Bewusstsein der Vereinzelung und Endlichkeit für den Wurzelgrund
egoistischer Sorge, Gier und Rücksichtslosigkeit erkläre, gerate ich vielleicht
in den Verdacht, jener Büßermoral zu huldigen, die in der Sinneslust eitel
Sünde wittert, sowie jenem überspannten Altruismus, der vom Menschen verlangt,
der Welt zu entsagen und alle Rechte der Individualität preiszugeben.
Solchem
Missverständnis ist eigentlich schon vorgebeugt, indem ich betonte, dass es
nirgendwo im All starre Grenzen gibt, dass vielmehr alle Gegensätze nur Stufen
einer Lebenseinheit sind. Das gilt auch von den Gegensätzen Sinnlichkeit und
Vergeistigung, Egoismus und Hingabe an die höheren Sphären. Sinnlicher Genuss
und Ichsucht, Todesfurcht und Kampf ums Dasein dürfen für etwas Niederes
angesehen werden, ohne dass man ihnen deshalb jegliches Recht abzusprechen hat.
Gerade wer im sittlichen Leben einen Aufstieg sieht, wird das relative Recht
einer jeden Stufe gelten lassen, sofern er der Entwicklungsidee Rechnung trägt.
Alles Niedere bedeutet ja die Vorbereitung des Höheren, ist in der Naturordnung
begründet und logisch unerlässlich. Bevor die Traube ihr süßes Feuer hat, muss
sie sauer schmecken, und man darf nicht auf ihre Unreife schelten. Worauf es
ankommt, ist eben nur, dass sich das Gewächs – so auch der Mensch – den
Bedingungen des Reifens hingibt. Unsinnig wär’s, wollte der Gärtner dies
Verhältnis für ein Weltübel halten und seinen Groll in der Vernichtung unreifer
Früchte auslassen.
Weiß
doch der Gärtner: wenn das Bäumchen grünt,
Dass
Blüt´und Frucht die künftigen Jahre zieren.
Nicht
minder töricht wie das Vernichten unreifen Gewächses, ja weit unheilvoller ist
der Versuch der Büßermoral, den Leib zu kasteien und die Regungen der Sinne zu
ersticken. Nirgendwo sollte abgetötet, überall nur entwickelt, nur veredelt
werden. In gesundem Wirken hat jedes Organ unseres Körpers, jeder ihm
innewohnende Trieb seinen Beruf, dem höheren Ganzen zu dienen, also schließlich
hat all unser natürliches Leben ein gewisses Recht und gehört zur All-Harmonie,
zum Sinn des Daseins. Es kommt nicht darauf an, dass wir widernatürlich und
gewaltsam nach plötzlicher Loslösung vom Irdischen ringen, sondern darauf, dass
wir, Kinder des Staubs, ähnlich wie Sonnenblumen, immerdar zum heiligen
Lichtquell das Antlitz kehren. In finsteren Winkeln, bei feiger Abkehr des
Gemütes, in dumpfem Schuldwahn entartet das Körperleben, und moralische
Erbärmlichkeiten sprießen daraus hervor.
Drum
hinweg aus aller Dumpfigkeit und Enge, hinaus mit deinem Körper. Menschenkind,
ins Luft- und Lichtmeer, in die Woge gesunden Gefühls und freien Geistes!
Unbefangenheit und Gesundheit haben stets etwas von Unschuld, und wie innig das
Leben der Sinne mit echtem Idealismus verschmolzen werden kann, erleben wir in
der Kunst der alten Griechen, in Platons Weltanschauung, in der Renaissance und
bei Goethe. Wiedergeburt, ja noch höhere Entfaltung des Hellenismus gehört zu
den Zielen aller echten Kultur. Vergeistigen wir die Sinnlichkeit anstatt sie
zu ersticken. Der Gehalt solcher Vergeistigung wird uns von den großen, starken
Persönlichkeiten dargeboten, und auch in dieser Richtung ist der Künstler
berufen, den Ethiker zu ergänzen.
Ein
Erlebnis zu vergeistigen bedeutet nun nichts anderes, als es befreien aus Enge
und Einseitigkeit, seine Zusammenhänge mit dem Unendlichen zu finden. Dem
„Brutalen“, Pflanzlichen, Tierischen gehört das Sinnliche eben nur dadurch an,
dass es nicht bewusst zu höheren Sphären greift. Auch hier gilt die Losung:
„Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“, nämlich die leuchtende Schönheit des
Kosmos, die Liebe zum Ewigkeitsgehalt des Daseins.
Ganz
das Gleiche gilt vom Egoismus. Mag er darauf bedacht sein, das Ich zu behaupten
und selbst kämpfend zu verteidigen, es mit Lebensfreude zu erquicken und durch
Macht zu erweitern – wenn nur stets etwas von „Gott“ in solchem Streben ist, d.
h. wenn dabei niemals die Richtung zum höheren Leben verloren wird, und die
Sehnsucht nach dem Sinn des Lebens immerdar lebendig bleibt. Wie nächtlicher
Dunst sich verdichtet und am Halm als ein Tröpflein hängt, darin sich die
heilige Sonne in der Fülle ihrer Farben spiegelt, so kann jedes Erlebnis, auch
wenn es der Sinnlichkeit und zunächst der Ich-Region angehört, eine Sammlung
und Konzentration des Weltalls enthalten und uns zum Unendlichen erheben.
Wo
das Ich als Charakter zu wirken hat, da sollte es sich als Vertreter der
emporstrebenden Menschheit fühlen und, von diesem höheren Selbstbewusstsein
durchdrungen, im Ringen nach dem Wahren, Schönen, Guten das Recht der eigenen
Individualität, der freien Überzeugung tapfer behaupten. Nur von innen heraus,
in Selbstbestimmung, vermag sich die bessere Natur zu entwickeln. Autorität ist
ein verfehltes Mittel, zur Höhe emporzuschrauben, weil Autorität eben eine Form
der Unterdrückung bedeutet und die Seele in der Ichverengung bestärkt, also
gerade das Übel reizt, auf dessen Überwindung es ankommt. Durch den Hinweis auf
den höheren Zweck vermag sich die Autorität nicht zu rechtfertigen; der Zweck
heiligt eben keineswegs die Mittel, vielmehr kann ein unreines Mittel das an
sich gute Wollen fruchtlos machen.
Mit
diesem Schlusswort glaube ich hinreichend angedeutet zu haben, dass die
Lebensweisheit, deren Gestaltung ich hier vertrete, gewisse Einseitigkeiten zu
meiden sucht, denen der hin und her schwankende Zeitgeist Huldigungen
darbringt. Da sehen wir rechts das Gemeinschaftsideal in Form der Autorität –
als staatliche und kirchliche Gewalt, Zwangserziehung, Bestrafung und äußere
Belohnung, als Dogmatismus in Religion und Wissenschaft, in Kunst und Moral,
als Militarismus und Kapitalismus, überhaupt als Sozialordnung, die den
Einzelnen zur Unterwerfung unter das so genannte Gemeinwohl zu zwingen sucht.
Links
indessen empört sich gegen die Autorität ein Subjektivismus, Individualismus,
der das Ich entfesseln möchte, die Freiheit in schrankenlosem Wettbewerb zu
verwirklichen sucht und die Willkür zum Gesetz der Gemeinschaft erhebt. Ganz
ähnlich stehen einander die Gegensätze von Materialismus und mönchischer
Schwärmerei gegenüber, sowie von religiöser Ungläubigkeit und veralteter
Religion.
Einen
harmonischen Ausgleich sehe ich in einer Weltanschauung, die ebenso in der
physischen Natur wie in unserem Gemüt den Werdegang des höchsten Wesens erkennt
und verehrt, die in der Materie den Geist spürt und auf diesem Wege das Mittel
findet, die materielle Natur immer mehr in den Dienst der besten Geistwerte zu
stellen, die im Einzelwesen die Interessen des Ganzen zur höchsten Geltung zu
bringen sucht, die des Menschen Selbstbestimmung auf die allgemeine Ordnung
hinlenkt, aber den Sinn für Ordnung nur aus der freien Überzeugung entwickelt.
Dr.
Bruno Wille
[1]
Ausführlicheres
über meine Weltanschauung
siehe in meinem Buche „Offenbarungen des Wacholderbaumes“. Auch mein Roman „Die
Abendburg, Chronika eines Goldsuchers“ geht auf Weltanschauung und
Lebensdeutung im idealistischen Sinne aus.