Freireligiöses Quellenbuch 1.

1913

 

 

Lebensweisheit

 

Buch von

Bruno Wille

Deutsches Verlagshaus Bong u. Co.

Berlin – Leipzig – Wien - Stuttgart

 

Bei dem Buch handelt es sich um eine Zitaten- und Verssammlung. Im Untertitel heißt es: „Eine Deutung unseres Daseins in Aussprüchen führender Geister“.

Vor die in Rubriken, wie „Jugend und Alter“, „Schicksal und eigene Kraft“, „Freundschaft“ oder „Religion und Glaubenssatzung“ usw., zusammengefassten Sammlung von Gedichten, Sprüchen und Lebensweisheiten hat Bruno Wille selbst seine freireligiösen Glaubensanschauungen dargelegt. Er war um diese Zeit führendes Mitglied der Freireligiösen Gemeinde Berlin, wo er u. a. Religionsunterricht nach einem von ihm selbst konzipierten Lehrplan erteilte. Als zudem damals in Deutschland bekannter und anerkannter Romanschriftsteller und Literat unterscheiden sich seine Ausführungen in eindrucksvoller Weise von den bis dahin bekannten freireligiösen Darlegungen.

 

 

Einleitung / Eine Sinndeutung des Weltalls

1.         Die beiden Bäume im Garten Eden

Um die Grundansicht dieses Buches von der Lebensweisheit gleich anfangs mit einiger Deutlichkeit hervortreten zu lassen, sei gesagt, was ich nicht als echte Lebensweisheit betrachte: nicht Lebensklugheit, die eine Fülle von Erfahrungen zu einer Anweisung verarbeitet hat, wie man ein möglichst genussreiches Dasein führt. Allerdings findet auch solch eine Genusslehre Berücksichtigung, doch nur deshalb, weil es angebracht erscheint, Proben davon zur Anregung zu bieten, um den forschenden Leser über die egoistische Stufe der Selbsterkenntnis zu unterrichten und durch Anschauungen in verschiedener Richtung vor Einseitigkeit möglichst zu bewahren.

Der „Baum des Lebens“ trägt als Frucht etwas anderes als die Kunst, das liebe Ich zu hätscheln. Wer darin Meister werden möchte, muss sich an den anderen Baum halten, von dem die alte Mythe gleichfalls erzählt. Auch er wuchs im Garten Eden, wo ja alle Typen der Schöpfung versammelt waren  und sogar die Schlange der Verführung zischeln durfte. Ihn schaute die Urmutter der Menschenkinder lüstern an und gestand sich, dass er „lieblich anzusehen“, dass von ihm „gut zu essen wäre“, und dass es „ein lustiger Baum wäre, weil er klug machte“.

So übersetzt Luther und nennt ihn „Baum des Erkenntnisses Gutes und Böses“. Tiefsinniger und auch sprachlich richtiger wäre die Übersetzung: Baum der Unterscheidung des Vorteils und des Nachteils. Die Ichsucht bedeutet er, die Klugheit des Egoismus.

Hingegen treibt der „Baum des Lebens mitten im Garten“ gleichsam aus Gottes Herzen hervor und bedeutet das Heil, das die erbliche Krankheit der Geschöpfe, ihre Entfremdung vom Ewig-Einen, heilen kann. Zwar hat der Herr, damit der Mensch „nicht ausstrecke seine Hand und breche auch von dem Baum des Lebens und esse und lebe ewiglich“, seinen Cherub davor gelagert „mit einem bloßen hauenden Schwert, zu bewahren den Baum des Lebens“. Doch die Heimat des ewigen Lebens bleibt nicht versagt dem verlorenen Sohn; den Lebensbaum zu finden nach all der schmerzlichen Enttäuschung, von ihm zu genießen und dann erst eigentlich „wie Gott“ zu werden, ist der letzte Sinn der Austreibung aus dem Paradies.

Der Baum der Unterscheidung von Vorteil und Nachteil spielt nicht allein in der Schöpfungsgeschichte eine Hauptrolle, sondern auch sonst im Alten Testament; so in den mosaischen Gesetzen, insofern sie sich mit Lohn und Strafe an die Ichsucht wenden. Vom Baum des Lebens aber handelt das Neue Testament, handelt eine Lehre, die sich „den Weg, die Wahrheit und das Leben“ nennt und die alte Welt des Egoismus auf ein neues Reich, auf eine andere Form des Erlebens und der Gestaltung des Daseins hinweist. Es geschieht z. B. durch ein Wort, das von allen revolutionären Losungen die radikalste ist: „Wer sein Leben“ – nämlich sein Ich – „erhalten will“, also sich ganz dem Egoismus in die Arme wirft, „der wird es verlieren; wer aber sein Leben“, d. h. dessen starre Ichform, verliert um meinetwillen, der wird es bewahren“, nämlich in der höheren Form des All-Selbst. Nichts anderes hat Goethe im Auge, wenn er sagt:

Und solang´ du das nicht hast,

Dieses: „Stirb und Werde!“

Bist du nur ein trüber Gast

Auf der dunklen Erde.

Wenn ich die „Heilige Schrift“ anführe, so geschieht es, weil sie gewisse Fundamentalweisheiten enthält, die höchst volkstümlich geworden sind und mir nicht jüdisch oder christlich, vielmehr menschentümlich erscheinen; Erlebnisse aller Zeiten und Völker, genauer gesagt: ihr Wesen. Es gibt eben nur eine Wahrheit, nur eine einzige echte Religiosität in den besseren Bekenntnissen.


 

Das Wahre war längst schon gefunden,

hat edle Geisterschaft verbunden;

das alte Wahre, fass es an!                   Goethe

Das alte Wahre berührt uns freilich oft fremd, weil es sich nicht in modernen Begriffen ausdrückt, sondern in einer Sprache, die Sinnbild und Mythe ist. Der geläuterte Mensch musste, um seine Heilserlebnisse den Menschengeschwistern mitzuteilen, auf die sinnliche Welt Bezug nehmen. Weil diese uns allen gemeinsam und vertraut ist, liefert sie uns den elementarsten Stoff zu Verständigung, ja das Mittel zur Veranschaulichung geheimer Seelenereignisse. Auch für das „Höchste Wesen“, ja für dieses erst recht, gibt es nur einen sinnbildlichen Ausdruck.

So weit das Ohr, so weit das Auge reicht,

du findest nur Bekanntes, das ihm gleicht,

und deines Geistes höchster Feuerflug

hat schon am Gleichnis, hat am Bild genug.       Goethe

So verstanden, können Gestalten einer sonst fabelhaften Mythik zu bedeutungsvollen Tatsachen der Innerlichkeit werden. Und unter diesem Gesichtspunkt entdecken wir in den großen Linien der Bibel, die doch ein ganz einziges Dokument religiöser Erlebnisse darstellt, eine sinnbildliche Beschreibung vom Herumirren, vom Sehnen und Suchen der Seele nach ihrem heimatlichen Urgrund. Als sie das Paradies der Einheit verloren hat, stürzt sie in den Kampf ums Dasein, in ein hartes Ringen mit der wilden Natur, mit all den konkurrierenden Geschöpfen. Es ist bezeichnend, dass die Weltgeschichte mit Brudermord anhebt, und dass der Versuch, die zerrüttete Zusammengehörigkeit der Menschenkinder gewaltsam herzustellen und den babylonischen Turm des Despotismus zu errichten, daran scheitern muss dass die Völker einander nicht verstehen – was die Art des Egoismus, sein Entzweien und Entfremden, in einer Variante beschreibt, zugleich andeutend, erst das gegenseitige Verständnis der Menschen untereinander könne die Einheit bringen, auf die es ankommt.

Ein Sinnbild der Heimkehr zum Ewigen ist der Zug des „auserwählten Volkes“ aus der Knechtschaft durch die Wüste der Not und Versuchung nach jenem „Land, wo Milch und Honig fließt“, das einem tieferen Ver-stehen nicht etwa das spröde Palästina, sondern den Garten Eden bedeutet. Die Führung der Suchenden hat Moses, insofern er die Gesetze gibt und das Bündnis Israels mit Jahve erneuert. Eine Spur jenes tieferen Sinnes, der die Mosesmythe gestaltet hat, ist die Stelle im 5. Buch Mose 8,3, nach der das himmlische „Manna“, mittels dessen die darbende Menge gespeist wurde, das Brot es ewigen Lebens, d. h. das erleuchtete Gotteswort, bedeutet. Hier liegt also ein Hinweis auf die sinnbildliche Bedeutung der Geschichte vor.  Voll inniger Empfindung für die Wahrheit, dass das Gesetz nicht hinreicht, die Seele von der Ichform zu erlösen, dass also Moses durch einen größeren Messias abgelöst werden muss, hat die suchende Religiosität die Gestalt Christi hervorgebracht.

Sein Leben ist ein Mysterium, eine mystische Darstellung der Menschenseele, die ihre Göttlichkeit entdeckt und sich durch Versuchung, schmähliche Misshandlung und aufopfernde Kreuzigung hindurch ringt zur Gewissheit des ewigen Lebens. In den Ausdrücken „des Menschen Sohn“, „Gottessohn“, „eins mit dem Vater“ kennzeichnet sich eine Erkenntnis, die bereits im Brahmanismus, für das Urchristentum aber in der Platonischen Philosophie Geltung gewonnen hat; hiernach ist das „Wort“ der innewohnende Sinn und die ewige Vollendung alles Geschaffenen und bedeutet als „Menschensohn“ den Idealmenschen, die Menschheit als einheitliches und höheres Wesen. Wer sich vertrauend ihm hingibt, speist vom Baum des Lebens und lebt ewiglich. Die paradiesische Speise, deren Genuss von allem Hungern und Dürsten, ja vom Sterben heilt, wird deutlich gekennzeichnet in den sinnbildlichen Geschichten von der Speisung der Fünftausend mit einem Brot, das bei der Austeilung nicht weniger wird, sondern mehr, und vom Abendmahl, in dem der „Logos“ (der ewige Sinn der Schöpfung) seinen Leib und sein Blut zur Nahrung darreicht, auf dass seine Jünger zu einer Körperschaft verschmelzen. Auch aus dem Legendenkreis, der Buddhas Gestalt bestrahlt, ließen sich sinnbildliche Einkleidungen der Weisheit beibringen, ... dass nämlich der Sinn des Daseins darin besteht, aus dem unrastigen, stets enttäuschenden, schuld- und peinvollen Ichleben zur Hingabe an eine höhere Sphäre zu bekehren, um schließlich, von allen Banden der Endlichkeit frei, einzugehen ins Ewig-Eine, zu „Nirwanas“ Reinheit, Klarheit und Frieden.

 

2.         Wahre Bereicherung

Wie grundverschieden von diesem Ideal ist doch das Ziel jener Vielzuvielen, die Schopenhauer „Fabrikware der Natur“ nennt! Verbissen in den Wahn, sie könnten nichts anderes sein als ein enges Ich, finden sie die Bedeutung ihres Daseins nur darin, eifer- und streitsüchtig nach „Glück“ zu hasten. Verfehlen sie es, so soll die Blindheit des Zufalls und die Tücke des Objekts, Dummheit und Bosheit der Mitwelt daran schuld sein. Was sie dabei nicht berücksichtigen oder nicht einmal ahnen, ist die im Weltzusammenhang begründete Verknüpfung des Leidens mit dem egoistischen Genuss. Ein Entbehren ist seine Vorbedingung, nur mit diesem mehr oder minder empfundenen Schmerz kann er erkauft werden. Sorge und Mühsal, Kampf und Gefahr fallen überdies schwer ins Gewicht, als Mittel zu seiner Gewinnung. Nie geht es dabei ohne eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber den Nebenbuhlern ab,  ja selten ohne sittliche Verschuldung, die das spätere Leben durch Gewissenspein beunruhigt. Gewöhnlich werden erstrebte Ziele nicht ganz erreicht, oft völlig verfehlt; und dann wird wohl der Glaube an die reizende Fortuna durch Groll abgelöst.

Wo aber die Mittel zu einem Genuss ausreichen, hält er selten, was er versprochen hat. Mancher Genuss offenbart sich dann auf einmal als eine schillernde Illusion, die unter der zupackenden Hand wie eine bunte Seifenblase zerplatzt. Im günstigsten Fall ist die Befriedigung beim Schlürfen des Genusses eine ziemlich kurze; denn eben an dieser Befriedigung stirbt er. Wenn auch später neues Begehren nach ihm erwacht, so bringt doch die häufige Wiederholung des gleichen Genusses eine gewisse Abstumpfung mit sich; nach Abwechslung verlangt man nun und gesteht mit Faust:

So taumel ich von Begierde zu Genuss,

und im Genuss verschmacht ich nach Begierde.

Wehe aber der Ichsucht, die zuwenig neue Reizungen findet! Stöhnen muss sie unter der Geißel der Langweile; die schmerzt nicht minder als die Not.

Tiefere Lebenskenntnis stimmt daher dem Ausspruch Schopenhauers zu:

„Versucht man die Gesamtheit der Menschenwelt in einem Blick zusammenzufassen, so erblickt man überall einen rastlosen Kampf, ein gewaltiges Ringen mit Anstrengung aller Körper- und Geisteskräfte um Leben und Dasein [be]drohenden und jeden Augenblick treffenden Gefahren und Übeln aller Art gegenüber. Und betrachtet man dann den Preis, dem alles dies gilt, das Dasein und Leben selbst, so findet man einige Zwischenräume schmerzloser Existenz, auf welche sogleich die Langweile Angriff macht und welche neue Not schnell beendigt, Dass hinter der Not sogleich die Langweile liegt, welche sogar die klügeren Tiere befällt, ist eine Folge davon, dass das Leben keinen wahren, echten Gehalt hat, sondern bloß durch Bedürfnis und Illusion in Bewegung erhalten wird; sobald aber diese stockt, tritt die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseins zutage.“

Einen bedeutsamen Hinweis tut hier der Philosoph; während das Dasein des gewöhnlichen Sterblichen, der hauptsächlich Genuss sucht, einer tauben, wurmstichigen Nuss gleicht, gibt es auch kerngesunde Früchte, dort nämlich, wo der Homo sapiens seinem Leben „wahren, echten Gehalt“ verleiht. Gerade um diesen Lebensgehalt handelt es sich, nicht um ein Glück, das flüchtig ist, nie hält, was es versprochen hatte, und, dem Rausche verwandt, dem schmerzliche Ernüchterung folgt, „die gänzliche Kahlheit und Leere des Daseins“ enthüllt.


 

Nach den erwähnten Worten des tiefsinnigen Schopenhauers muss es befremden, wenn er seine „Aphorismen zur Lebensweisheit“ mit der Bemerkung einleitet: „Ich nehme den Begriff der Lebensweisheit hier gänzlich im immanenten Sinne, nämlich in dem der Kunst, das Leben möglichst angenehm und glücklich durchzuführen, die Anleitung, zu welcher auch Eudämologie (Glückslehre) genannt werden könnte; sie wäre demnach die Anweisung zu einem glücklichen Dasein.“

Dass unser Leben solch einem Dasein entsprechen könnte, hat Schopenhauer rundweg verneint. „Keiner ist glücklich, sondern strebt sein Leben lang nach einem vermeintlichen Glück, welches er selten erreicht, und auch dann nur, um enttäuscht zu werden. In der Regel aber läuft zuletzt jeder schiffbrüchig und entmastet in den Hafen ein. Dann aber ist es auch einerlei, ob er glücklich oder unglücklich gewesen, in einem Leben, welches bloß aus dauerloser Gegenwart bestanden hat und jetzt zu Ende ist.“

Wie ist [mit] dieser pessimistischen Lebensauffassung der Versuch vereinbar, Lebensweisheit im Sinne einer Glückslehre auszuarbeiten, die doch, wie ihr Ziel, das Glück, für unmöglich gehalten wird? Ein Widerspruch liegt hier vor, und nicht zu entschuldigen vermag ihn Schopenhauers Versicherung, seine Glückslehre habe nur einen bedingten Wert und beruhe auf einer Anpassung, insofern sie nämlich auf dem gewöhnlichen Standpunkt bleibe und dessen Irrtum festhalte. Wohl nur deshalb hat Schopenhauer hier mit dem landläufigen Irrtum einen Kompromiss geschlossen, weil sein Charakter, obschon mit einem tiefschauenden Geist verbunden, das Streben nach eigenem Glück und die Sorge vor Unglück nie los geworden ist. Mögen wir solches Zurückbleiben des Erdensohnes hinter der Einsicht des Weisen für menschlich, allzu menschlich halten, so geziemt es sich doch nicht, dass wir auf der Suche nach echter Lebensweisheit den gleichen Irrpfad betreten, im Glückswahn der Menge befangen, so dass wir nicht zum Baum des Lebens gelangen, sondern jenen anderen Baum mit ihm verwechseln, der egoistischen Vorteil und Nachteil unterscheiden lehrt.

Mein abfälliges Urteil über das lebenskluge Suchen des Ich-Menschen nach Genuss setzt mich dem Missverständnis aus, als ob ich einer büßerlich entsagenden Weltanschauung huldige. Im Gegenteil! Nicht arm macht die Frucht vom Baum des Lebens, sie erlöst von Armseligkeit und beschert einen Reichtum, der ins Unermessliche wächst. Nur freilich bedeutet die Bereicherung, die ich meine, keineswegs, dass der Ich-Mensch etwas in der Art erhält, wie man ihm einen Haufen Geld, ein Quantum Lust beibringen kann; diese Bereicherung ist äußerlich; dabei bleibt man, was man war.

Setz’ dir Perücken auf von millionen Locken,

Setz’ deinen Fuß auf ellenhohe Socken,

Du bleibst doch immer, was du bist!


 

Unsere wahre Bereicherung ist die Steigerung unseres Selbst zu einer Qualität, die großartiger und inniger am All-Leben teilnimmt. Dabei gewinnt man eine höhere Lebensform. Ich nenne sie das höhere Ich, das bessere Selbst, das All-Selbst oder unsere Harmonie mit dem Sinn des Lebens. Dies ist der Satz, den die Weisen im Innern entdeckt haben.

Ob die Seele Befriedigung darin findet, das hängt von ihrer Entwicklungsstufe ab. Vielleicht haftet sie an ihrer niedrigeren Ichform, ähnlich wie die Schnecke mit ihrem Haus verwachsen ist, und dann wird sie der Zumutung, aus sich herauszugehen, widerstreben. Mit dem absoluten Individualisten Stirner spricht sie vielleicht: “Mir geht nichts über mich.“ Eine Erkenntnis indessen, die den illusionären Charakter der Ichform durchschaut, führt über den egoistischen Standpunkt hinaus zum harmonistischen, und da heißt es: Mir geht meine höhere Lebensform über mein altes Ich, und sie bedeutet Hingabe an die Harmonie der Menschheit. Über diese enge Ichform hinaus geht mir eine Form meines Lebens, in der ich mich eins fühle mit der Allharmonie. Was zur höheren Form, zum All-Selbst, bekehrt, ist kein frommer Eifer, kein „Spuk und Sparren“, wie Stirner den Fanatismus jeder Art zutreffend getauft hat, ist vielmehr das wohl empfundene Interesse des Edelkeims in uns, der wachsen möchte, ist die Ichsucht nach echtem Lebensgehalt, nach der beseligenden Vollkommenheit des Unendlichen.

Hier erfüllt sich die faustische Sehnsucht, was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, im inneren Selbst zu erleben und so das eigene Ich zu ihrem Ich zu weiten, ja der Sonne gleich, mit ausstrahlender Teilnahme und wirkender Güte die Räume der Schöpfung zu durchdringen. Das Wesen solcher Bereicherung wird durch eine Unterscheidung beleuchtet, die zu den echten Weisheiten Schopenhauers gehört; er unterscheidet nämlich zwischen dem, „was einer hat“, und dem, „was einer ist“. Das beste und meiste muss jeder sich selbst sein und leisten, und je mehr einer an sich selbst hat, desto weniger bedarf er von außen, und desto erhabener steht er über den Wechselfällen des Schicksals. Während alle Habe einen zweifelhaften Reichtum, und jede Form der Habsucht, zu der ja auch die Genusssucht gehört, eine Selbsttäuschung des Ich-Menschen bedeutet, stellt die Fülle unseres Innenlebens, unserer liebreich tätigen Anteilnahme am Leben, das uns umgibt, die einzige unmittelbar empfundene, wahrhaft eigene Habe dar, oder richtiger, jenes gesteigerte und veredelte Selbstgefühl, das an Wert jedweden Besitz übertrifft. Seine Schätzung drückt sich in der Titanensehnsucht Fausts insofern aus, als es ihm nicht darauf ankommt, etwas zu wissen und zu haben – da er selbst geistige Habe gering schätzt -, sondern etwas zu sein, das im Unendlichen aufgeht. Am weisesten Gedicht, das deutsches Gemüt hervorgebracht, haben wir ein Evangelium von der idealen Harmonie des Kosmos. Ihr liebevoll hingegeben, findet Lynkeus der  Türmer,  d. h. der von  hoher Geisteswarte schauende Mensch, im Schauen der Ewigkeit sein höheres Bewusstsein, sein All-Selbst:

So seh’ ich in allen

Die ewige Zier;

Und wie mir´s gefallen,

Gefall ich auch mir.

Ihr glücklichen Augen,

Was ihr je gesehn –

Es sei wie es wolle –

Es war doch so schön.

Auf dieser Entwicklungshöhe des allgemeinen Lebens sind alle Gegensätze nur Ergänzungen und Erfrischungen, nicht mehr Feindschaften. Hier gibt es keine Selbstzerfleischung, keine wüste Unordnung, keine Schuld und Qual, nicht einmal einen eigentlichen Misston. Die Schönheit des Moments bedeutet zugleich eine Schönheit des Ganzen. Der herrisch-gierige Charakter der Seele, wie er im niedrigen Ich sorgenvoll und habsüchtig dem All entgegen tritt, ist aufgelöst, und das große Erlösungswerk ergibt sich aus der Bekehrung zum harmonistischen Standpunkt. Die neue Anschauungsweise sieht nicht mehr in dem engen, nichtigen Stückchen Welt, das wir unser Ich nennen, unser Wichtigstes, sondern in unserer Anteilnahme am idealen Berufe, am unvergänglichen Sinn des Weltalls.

 

3.         Die Hingabe des Helden

Dem Preislied auf den Sinn des Lebens gegenüber erscheint es mir ratsam, vor dem zu warnen, was Lessings Nathan „andächtig schwärmen“ nennt. Darum will ich gleich betonen, dass man in den Sinn des Lebens nicht wie in eine gnädig erschlossene Himmelstür eingeht. Für ein Geschöpf, das in den Trieben eines abgesonderten Körpers wurzelt, ist das Ichleben die ursprüngliche Naturform, und sich von ihr zu lösen bringt neben der Befriedigung des besseren Selbst manche Anstrengung, Enttäuschung, ja Marterqual mit sich. So erscheint es mir wohl verständlich, dass die Seele, noch an ihrer Ichform hängend, weil sie davon noch nicht genügend enttäuscht worden ist, zurückbebt vor der Zumutung, den egoistischen Standpunkt aufzugeben. Erst eine heroische Gesinnung entschließt sich zur Hingabe an das überegoistische Leben.

Auch diese Erkenntnis hat sinnbildliche Gestalt in alter Mythe: Herkules, der antike Arbeitsheros, stand am Scheideweg, schwankend, ob er rechts oder links gehen solle: von dem einen Pfad versprach ihm ein weiches holdes Weib alle Genüsse der Welt; doch eine streng erhabene Gestalt lud ihn ein, den anderen Pfad zu wählen, der rauh und voller Mühsal sei,  aber zum Heldentum,  zur Unsterblichkeit  führe.  Dafür entschied sich der hochsinnige Herkules, ein würdiger Abkömmling des Himmelsherrn; er unterzog sich demütig den schier übermenschlichen Anstrengungen, die ihm gestellt wurden, bestand die zwölf Proben unter viel Mühsal, starb auch noch einen qualvollen Tod, wurde aber dann in den Götterhimmel aufgenommen.  Kein Märchen, keine bloße Einbildung ist der Griechenheros, sondern eine Wahrheit, eine tatsächliche Macht, nämlich das bessere Selbst als Lebensrichtung und Entwicklungsmöglichkeit in jeder Seele. Paulus hat denselben Erlöser den „inneren Christus“ genannt. Der Seele heldenhaftes Ringen gegen den „Fürsten dieser Welt“, d. h. den Egoismus in jeder Form, wird in tiefsinniger, leider wenig verstandener Sinnbildlichkeit dargestellt durch das Evangelium-Mysterium vom „Menschensohn“, der sich aus Gott geboren fühlt, „die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit“ verachtet, hingegen das „Königreich der Himmel“ aufsucht; arm und gering, doch überall hilfreich, erleuchtend, erweckend, schreitet er durch die erlösungsbedürftige Menschheit, von Finsterlingen verraten, verkauft, misshandelt; am Kreuze stirbt er, – das aber ist ein uraltes Licht-, Heil- und Opferzeichen, das Hingabe an das Göttliche bedeutend.

Wie man sich praktisch stellt zur Mahnung dieser Symbole, ob man am Scheideweg des Herkules – oder (was sinnbildlich die gleiche Bedeutung hat) bei der Versuchung des Menschensohnes – egoistischen Genuss wählt, oder ob man, letzteren gering schätzend, Sehnsucht nach einer höheren Stufe seines Lebens und Wirkens empfindet, das ist Sache dieser Selbstbestimmung, und diese hängt ab von der Persönlichkeitsreife.

Der Baum des Lebens hat im Menschengemüt seine Entfaltungsstufen. Mit dem Keim hebt er an, der aber treibt in jedem Menschenkind. Dass sich der Keim zur Fruchtkrone entwickelt, ist der Beruf unseres Lebens. Erst wo der Trieb zu solcher Reife waltet, wird das Leben zu einer Selbstschöpfung, zur Gestaltung des Höheren. Was ich für die Quintessenz der Weisheit halte, bedarf nicht irgend eines Glaubens, der ja stets Zweifel erlaubt; er gründet sich auf keine Erwartung jenseitiger Vergeltung, auch nicht auf ein Dogma der Ethik oder der philosophischen Beweise; er ist durchaus Eigentat der Persönlichkeit. Wer jemals in der glühenden Pein des hadernden Egoismuswelt geschmachtet hat und dann durch einen Tautropfen vom Lebensbaum erquickt wurde, der hegt im Herzen, ob auch heimlich und schüchtern, Dankbarkeit, Liebe, Sehnsucht gegenüber dem vollkommeneren Leben. Vielleicht wird ihm nun das niedere Dasein  immer mehr zur minderwertigen Schale,  ja zum Überdruss, und erstarkt hebt sich sein besseres Selbst zu einem heldischen Schaffensdrang, der den Sinn des Weltalls im eigenen Leben zu gestalten sucht, auf dass jenes ideale Reich Boden gewinne, „wie im Himmel, also auch auf Erden“.


 

Nicht abschrecken lässt er sich von der Tragik, die zum heroischen Leben gehört; er ist Herkules und ist der missbrauchte Lichtbringer Prometheus; er gibt wie der Königssohn Buddha die Güter der Ichsucht auf; er nimmt in tätiger Menschenliebe Christi Kreuz auf sich; er trinkt den Giftbecher des Sokrates, der lieber Unrecht leiden als Unrecht tun wollte; und er lässt sich, wie Giordano Bruno, lieber zu Asche brennen bei lebendigem Leib, als dass er untreu würde seinem besseren Selbst.

Mag nach dem Tode kommen, was da wolle, wo das höhere Selbst oder „Daimonion“ auftritt, da fürchtet er nicht Not noch Tod. Angst und Vernichtung kann dieser ja nur über die endliche Form des Ichs verhängen; nicht aber reicht er an das All-Selbst heran, das mit seinen Interessen den Helden ganz erfüllt und zu einer überegoistischen Lebensform umgebildet hat.

Engel tragen „Fausts Unsterbliches“ empor zu höheren Rängen des Daseins; und wie aus der Raupenhülle ein neugeformtes flugbegabtes Wesen in leuchtende Lüfte sich erhebt, so waltet der faustische Tatenleib in den „höheren Sphären“ kosmischer Harmonie, von den Engeln „seliger Allverein“ genannt. Bezeichnend für den unendlichen Sinn des Menschenlebens und Weltalls, als dessen Hoheslied die Faustdichtung bezeichnet werden darf, ist auch die Versinnlichung der Allharmonie oder „ewigen Zier“ in der „Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin“, die als des Gottmenschen Mutter zur „Himmelskönigin“ erhöht wurde.. Der Tiefsinn urchristlicher Gnosis meinte damit die göttliche Weisheit (Sophia), die den Logos (das Wort und erleuchtende Heil) zur Welt bringt. Goethes Verständnis für solche mystische Symbolik leuchtet aus den Worten des Schlusschors hervor:

Alles Vergängliche

Ist nur ein Gleichnis.

Fausts Erdenwallen wird zum Gleichnis für die Menschenseele, die sich aus den Schranken der Endlichkeit zum Unendlichen sehnt, bis ihr die Umformung zum besseren Selbst gelingt. Gleich einem Schmetterling aus der Puppe geschlüpft, darf es sich dem Leuchten der Ewigkeit ergeben, dem „Ewig Weiblichen“, das den „Doktor Marianus“ hinanzieht; er bedeutet den zu höherer Lebensform gesteigerten Faust, der „jeden besseren Sinn“ ermahnt, sich „umzuarten“ zur Hingabe an das Ewige.

 

 

4.         Die Bedeutung des Vertrauens in der Weltanschauung

Doch angenommen, ein Idealistenherz glaubte, in seiner Hingabe an die Allharmonie den Sinn des Daseins gefunden zu haben, auf einmal aber erwacht der Zweifel: Bin ich auch nicht ein irrender Schwärmer, ein Phantast des Glaubens?


 

Gibt es denn einen ewigen Sinn des Weltalls?  Gibt es überhaupt ein Ewiges? Muss nicht alles Gewordene auch wieder vergehen? Und lehren nicht Vertreter der Wissenschaft, unsere Kultur, die Menschheit und alles geistige Leben gehöre zum Gewordenen und Vergänglichen?

Soll nicht unser Planet einmal erkalten, so dass kein Mensch, kein Tier, kein organisches Gebilde mehr leben kann? Wenn alsdann die Lebensfunktion der letzten Eiweißzelle aufhört, erlischt das letzte Fünkchen Empfindung und Erinnerung. Und vorbei ist es mit allem geistigen Leben, mit unserer gepriesenen Kultur, der Arbeitsfrucht ungezählter Geschlechter, vorbei mit den Lichtgedanken der Menschheit, mit dem Wahren, Schönen, Guten. Umsonst, letzen Endes sinnlos, war die ganze Entwicklung der Erde und triumphierend darf Mephistopheles am Grabe der Menschheit wie an Fausts Leiche [rufen]:

Vorbei und reines Nichts, vollkommenes Einerlei!

Was soll uns denn das ewige Schaffen?

Geschaffenes zu nichts hinwegzuraffen!

Da ist’s vorbei! Was ist daran zu lesen?

Es ist so gut, als wär es nicht gewesen!

Dieser Nihilismus eines „Geistes, der stets verneint“, ist ein so furchtbar niederdrückendes Bewusstsein, dass es für einen Charakter, der den Sinn des Lebens ersehnt, eine Art Hölle darstellt.

So hat bereits altgriechische Weisheit empfunden, indem sie zu den schlimmsten Strafen der Unterwelt die Qualen des Sisyphus und der Danaiden rechnet – jenes Mannes, der einen Marmorblock bergan wälzen muss, wobei der Stein, sobald er ihn beinahe oben hat, seinen Händen wieder entrollt – und jene Töchter des Danaus, die ein Sieb mit Wasser zu füllen haben, was sie natürlich nie fertig bringen.

Und wenn nun das All ein Sisyphus wäre? Wenn es mit all seinem mühseligen Streben und Ringen nicht den mindesten Dauerwert zustande brächte? Diese Aussicht kann manchen Idealisten entmutigen, indem sie ihm den Verdacht zuraunt, es sei töricht, für ein Ideal Opfer zu bringen, das früher oder später vom öden Nichts verschlungen werde. Solche Zweifel sind bisher noch von keiner Philosophie mit voller Endgültigkeit widerlegt worden, und es gilt vielen Denkern für ausgemacht, dass eine Lösung der letzten Lebensrätsel dem Menschengeist überhaupt unmöglich ist. Gleichwohl wird alles Fragen, das aus der Tiefe unserer Seele kommt, begleitet vom rastlosen Nachsinnen und ständiger Versuche, einleuchtende Antworten zu finden. Und mag der strenge Verstand geltend machen, dass Beweise von mathematischer Sicherheit fehlen, so wird dieser Mangel doch von einer Art Logik ersetzt, die dem religiösen Gemüt eigentümlich ist. Herzenslogik kann man sie nennen, wenn  auch  dieser  Ausdruck  insofern  bedenklich  erscheint,  als  Logik  Sache  des verständigen Denkens ist, während das Gefühl bekanntlich unser Urteilsvermögen verwirren kann. Indessen entspricht eine gesunde Herzenslogik unserer vernünftigen Natur. Ich verstehe darunter logische Schlüsse, gestützt auf solche Gründe, die zwar bei misstrauischer Verstandeskritik unzureichend erscheinen, für ein vertrauendes Gemüt aber zu Wahrscheinlichkeiten, fast zu Gewissheiten werden.

Vertrauen hat in unserem praktischen Leben viel Bedeutung und vernünftige Geltung; es greift sogar in das theoretische Forschen weit mehr ein, als strenge Vertreter der Wissenschaften bemerken oder einzugestehen wagen.

An unserer „Menschenkenntnis“ hat Herzenslogik einen wesentlichen Anteil. Wie manche Persönlichkeit haben wir nur flüchtig kennen gelernt, und recht günstig ist das Bild ausgefallen, das wir uns von ihr entworfen haben, obwohl der Verstand für wichtige Züge keine sicheren Beweise hat und andere Leute vielleicht gar Warnungen laut werden ließen. Was in unserer Anschauung den Ausschlag gab, ist unser Gefühl, ein Verhältnis der neuen Bekanntschaft zu unserem Gemüt; reagiert dieses vorwiegend mit Billigung und Zuneigung, und wird es vielleicht an ähnliche Ereignisse günstiger Art erinnert, so bringt es ein Zutrauen entgegen, das aus einem objektiv ungenügenden Anschauungsmaterial ein subjektiv sicheres und entsprechendes Bild zu formen weiß. Welchen Anteil solche Herzenslogik an wissenschaftlichen Werken hat, wird uns beispielsweise auf dem Gebiet der Geschichte deutlich, wenn wir etwa über die Reformation grundverschiedene Urteile hören, je nachdem der Historiker protestantisch oder katholisch gesinnt ist - , oder wenn wir an jene naturphilosophischen Probleme herantreten, die teils im Sinne eines Darwin und Haeckel, teils wieder im Anschluss an den Bibelglauben, teils auch mit dem Achselzucken des Agnostikers beantwortet werden.

Wer die Frage untersucht, ob das Weltall einen unverlierbaren Sinn habe, wird seine Entscheidung nicht lediglich nach dem Kalkül des Ver-standes richten können, sondern, sofern er überhaupt ein Weltbild zu ge-stalten wagt, auch nach dem Grad und der Art des Vertrauens, das er dem schöpferischen Urgrund, aus dem unser Leben wie die gesamte Schöpfung quillt, vermöge seiner Gemütsrichtung und Lebenserfahrung entgegenbringt, oder aber vielleicht verweigert.

Wie bei solchen Anschauungen unser Denken durch Stimmungen beeinflusst wird, zeigt der Begriff „Natur“, der doch in verschiedenen Köpfen einen recht verschiedenen Gehalt hat. So sieht z. B. ein Mönch in der Natur den Wurzelboden sündiger Triebe, ein Nationalökonom einen Gegenstand der Nutzung, ein weichlicher Städter hauptsächlich rohe Kulturlosigkeit, ein Pessimist den Tummelplatz wüster Elemente, das künstlerische Auge aber leuchtet in heller Freude über alles Natürliche, und

ein Naturfreund vom Schlage des amerikanischen Dichterphilosophen Thoreau findet in der Natur, in der Hütte am einsamen Urwaldsee, den Frieden und die Weisheit seines Lebens.

 

 

5.         Die Innerlichkeit des Weltalls

Die Frage, ob das Weltall einen unverlierbaren Sinn haben kann, wird bejaht von einem Gemüt, in dem Religiosität (nicht mit Konfession zu verwechseln) lebendig ist, nämlich Vertrauen zum Wesen oder Urgrund des Alls. Wie ein Erdbeben eine ganze Landschaft erzittern lässt, vielleicht Städte zerstört und Inseln verschlingt, so ist das religiöse Vertrauen erschüttert worden durch eine Weltanschauung, die sich zwar um die Ehrlichkeit und Unabhängigkeit der Forschung sehr verdient gemacht [hat], aber dem Misstrauen huldigt, das All sei wesentlich etwas Totes und Brutales, nämlich Materie [bzw.], mechanische Bewegung.

Während die philosophischen Griechen keinen brutalen Mechanismus kannten, sondern unter „Mechaneisthai“ ein sinnvolles Bewegen verstanden, stellt der materialistische Mechanismus die allgemeine Geist-igkeit des Alls in Abrede, indem er gefühls- und empfindungslose Bewegung oder Materie für das Grundwesen hält. Was wir Seele und Geist nennen, bedeutet ihm nur einen Ausnahmefall; gelegentlich oder vor-übergehend tritt er auf, wo nämlich der Hauptstoff des organischen Lebens, das Eiweiß, entsteht.

Diese Voraussetzung beruht auf einer Willkür. Wenn auch das Innenleben des Menschen wie der Tierwelt in einem Verhältnis der Abhängigkeit zu gewissen Eiweißfunktionen steht, so ist damit noch nicht gesagt, dass das Seelen- oder Geistesleben überhaupt an eine vereinzelte materielle Organisation gebunden sein muss. Vielmehr besteht die Möglichkeit, dass jene Naturphilosophen recht haben, die nicht bloß die sogenannten Organismen für psychische Geschöpfe halten, sondern Seele und Geist allenthalben sehen, auch in der „unorganischen“ Natur. Eine absolute Grenze zwischen dem „Organischen“ und dem „Unorganischen“ lässt sich überhaupt nicht ziehen, und vor allem darf nicht übersehen werden, dass die Annahme, seelisches Leben sei auf die Eiweißorganismen beschränkt, keineswegs auf strenger Logik beruht, sondern auf einer subjektiven Deutung, die nicht zuverlässiger ist als die Herzenslogik. Bei den Vertretern des Glaubens an brutale Materie liegt ein willkürliches Versagen jener Fantasietätigkeit vor, die ein Innenleben in die Naturgebilde hineindeutet.  Gegen solches Hineindeuten hat der Materialist nichts einzuwenden, wo es sich um höhere Organismen handelt, und nur den niederen Gebilden spricht er das Innenleben ab. Mit welchem Recht denn aber?


 

Wie gelangen wir denn überhaupt zur Annahme eines seelisch-geistigen Innenlebens? Verhehlen wir uns doch nicht, dass seelisches Leben in unmittelbarer Weise jedem von uns nur an einer einzigen Stelle des Weltalls vorliegt, nämlich in seiner eigenen Innerlichkeit.

Absolut sicher ist in der Tat nur der Satz des Cartesius: „Ich denke, also bin ich!“ Ob noch ein zweites unter den Körpergeschöpfen, die uns entgegentreten, seelische Innerlichkeit hat, wissen wir nicht mit strenger Gewissheit; und wenn auch bedeutende Wahrscheinlichkeitsgründe dafür sprechen, so gibt doch bei ihrer Geltung Herzenslogik den Ausschlag. Mag mir ein Mitmensch noch so nahe stehen, noch so traut und verständlich erscheinen, - von dem, was in seiner Seele vorgeht, weiß ich in unmittelbarer Weise nichts, erfahre davon vielmehr nur durch Anzeichen etliches, und die Anwendung ist Sache meiner Subjektivität, desgleichen auch der Grad von Gültigkeit, den ich den Anzeichen von Innerlichkeit zuschreibe. Was von dem Mitmenschen zu mir dringt, ist zunächst bloß als äußere Erscheinung gegeben: ich sehe seine Körpergestalt, beobachte seine Mienen, seine Gebärden und habe bestimmte Gehörsempfindungen, die seine Sprachwerkzeuge veranlassen. Was ich die innerliche Bedeutung dieser Mienen, Gebärden und Worte nenne, ist von meiner Fantasie in sie hinein gelegt worden. Ich deute den Mitmenschen nach meinem eigenen Muster, schaffe ihn geistig nach meinem Ebenbild. Weil ich an meinem „Ich“ ein gesetzmäßiges Beisammensein gewisser Körperäußerungen mit gewissen Seelen- und Geistesvorgängen beobachte, z. B. Heiterkeit beim Lachen, Schmerz beim Weinen, und weil ich beim Vernehmen der Worte bestimmte Wahrnehmungen gemacht habe, ist aus solcher Verknüpfung von Erfahrungen eine Sprache geworden, ein Mittel, Innerlichkeit auszudrücken; den sinnlichen Erscheinungen, besonders den Äußerungen eines Mitwesens schreibe ich gewisse seelisch-geistige Erscheinungen oder Vorgänge zu, deren Entsprechung ich an mir beobachtet habe.

Diese Art Wörterbuch hat, wie jedes Lexikon, zwei Reihen von Erscheinungen: eine Reihe fremder Äußerungen, und mit ihr in gesetzlichem Zusammenhang eine andere Reihe, die unmittelbar verständlich ist. Dieser „Sinn“ ist das Seelisch-Geistige oder Innerliche, jene zunächst befremdende Erscheinungsreihe oder aber das im Mitwesen auftretende Körperliche oder Äußerliche. Was mir ein Freund anvertraut, was der Blick der Liebe oder die Drohung lauernden Hasses verrät, alles ist meine Deutung, eine Vorstellung von Innerlichkeit nach dem Muster meines Selbst gestaltet. Natürlich will ich nicht sagen, es sei nur meine Deutung; ich habe ja gute Gründe zu der Annahme, dass die fremde Innerlichkeit keine bloßen Einbildungen meiner Fantasie sind, sondern unabhängig davon bestehen. Doch zu meiner Kenntnis gelangen sie durch meine Fantasie, indem ich mein eigenes Innenleben in sie hineindeute; ich könnte auch sagen: indem ich es in ihnen wiederfinde.


 

Wie weit nun solche Deutungen von mir erstreckt wird, ob ich lediglich Menschen und höheren Tieren oder auch „niedrigeren“ Organismen, z. B. Pflanzen und einzelligen Wesen, Empfindung, Gedächtnis, Gefühl, Trieb zuschreibe, das hängt von der besonderen Betätigung meiner Einbildungskraft ab. Wer etwas aus seiner eigenen Innerlichkeit hineinzubilden vermag in ein gestaltloses Eiweißkörperchen oder in die so genannten fließenden Kristalle – den wird dieselbe Deutung folgerichtig zur Beseelung das ganzen Weltalls führen.

Wenn ich solches Deuten eine Fantasietätigkeit nenne, so halte ich es doch nicht für phantastisch, sondern für eine Form des Erkennens. Es ist ein Schließen „per analogiam“, das aus der Ähnlichkeit im Äußeren eine entsprechende Ähnlichkeit im Innern folgert.

Bis zu welcher Grenze das Anerkennen äußerer Ähnlichkeit geht, ist Sache der einzelnen Persönlichkeit, ihrer Fantasie, ihres Gemüts, ihrer Herzenslogik. Während einige moderne Zoologen davor warnen, den Tieren, selbst Affen, Elefanten, Hunden und Pferden, ein Innenleben nach menschlichem Muster zuzuschreiben, und während Cartesius, wie die scholastische Philosophie, alle Tiere für maschinenähnliche Organismen ohne geistiges Leben hielt, weist Gustav Theodor Fechner nach, dass die Pflanzen in Bau und Benehmen den Menschen sehr ähnlich sind, also seelisch gedeutet werden sollten, und spricht auch ein Haeckel vom „Lieben und Hassen“ der Atome, wie ja sein Lehrmeister Goethe in den „Wahlverwandtschaften“ die chemischen Atome als soziale Wesen betrachtet, die aus Neigung einander suchen und wählen, aus seelischen Motiven einander meiden und fliehen.

Weit hinaus über die Tierwelt greift ein Analogieschluss, der aus menschenähnlichem Bau und Benehmen ein seelisch-geistiges Leben folgert. Die Pflanze, der man gewöhnlich die Fähigkeit, zu empfinden, zu fühlen, zu wollen, abspricht, zeigt bei näherer Betrachtung so erhebliche Ähnlichkeiten mit dem Körperbau und Verhalten des Menschen, dass man eine Innerlichkeit, der seinen ähnlich, in sie hinein denken darf, ja mit einer gewissen Dringlichkeit dazu aufgefordert wird. Schon die Tatsache, dass die Pflanze ein Organismus ist, dass sie aus zartem Keim durch Ernährung und Vermehrung ihrer Zellen erwächst, dass sie isst, trinkt und atmet, gesund oder krank sein kann, dass sie schöne Blüten entwickelt, die zur Befruchtung anlocken, oder auch Früchte, die in geschickter Weise der Fortpflanzung dienen, und dass sie nach den Perioden der ersten Jugend, der Liebeszeit und der Reife altert und schließlich stirbt – schon dieser allgemeine Entwicklungsgang ist dem Menschen so ähnlich, dass er uns auffordert, zu ihm eine seelische Parallele, eine entsprechende Innerlichkeit hinzuzudenken. Zu der allgemeinen Ähnlichkeit treten in Fülle noch andere Berührungen der Pflanze mit dem Menschen, die man in Spezialwerken findet, z. B. in Fechners Buch „Nanna“.

Freilich ist die Pflanze dem Menschen und höheren Tieren in mancher Hinsicht wiederum unähnlich; haben wir doch Augen und Ohren, Schmeck-, Riech- und Tastorgane, dazu Glieder, mit denen wir so genannte willkürlichen Bewegungen ausführen und unseren Aufenthaltsort verändern; und werden doch die eigentümlichen Verrichtungen unseres geistig-seelischen Lebens durch Nerven, Rückenmark und Gehirn bedingt, während das Seelenleben der Pflanze sich nicht durch derart ausgebildete Werkzeuge vollzieht.

Aber dieser Unterschied tritt eigentlich nur zwischen den höheren Pflanzen und den höheren Tieren zutage, verschwindet jedoch, wenn wir auf der Entwicklungsleiter der Organismen weit genug hinunter steigen. Es gibt Organismen, die keine besonderen Organe zur Empfindung, keine Nerven, kein Gehirn oder Rückenmark entwickelt haben, nicht einmal die Fähigkeit, sich willkürlich fortzubewegen. Sind es Pflanzen? Sind es Tiere? Jedenfalls sind es Lebewesen, denen man Empfindung, Gefühl, Trieb nicht absprechen kann; denn aus ihrem Benehmen lässt sich auf ein Innenleben schließen.

Wenn der einseitige Materialist geltend macht, die Empfindungen seien Reizungen der Nerven und des Gehirns, so sollte er zunächst bedenken, dass der Nerven- und Hirnstoff selber erfahrungsgemäß eine Gruppe von Gesichts- und Tastempfindungen ist, also nicht als Ursprungsgrund für das Empfinden hingestellt werden darf. Sonst macht man sich eines Zirkelschlusses schuldig, indem man auf die Frage: „Was ist das Hirn?“ erwidern müsste: „Eine durch das Hirn bedingte Empfindungsgruppe.“ Bevor der Mensch etwas von der Funktion des Gehirns und von der eiweißartigen Kohlenstoffverbindung „Plasma“ weiß – als Kind, als Ungelehrter -, deutet er in den Mitmenschen ein Bewusstsein hinein, nach dem Muster seines eigenen Innenlebens. Was ihn dazu veranlasst, ist die allgemeine Ähnlichkeit, die jener mit ihm im Bau und Benehmen hat; Nerven und Hirn des Mitmenschen spielen dabei nicht die entscheidende Rolle. Ist dieser Schluss, dem die Menschheit viele Jahrtausende hindurch huldigte, ehe es noch eine Physiologie gab, etwa unstatthaft? Doch wohl nicht!

Freilich hat unsere Physiologie nachgewiesen, dass die Geistäußerungen eines Tieres, eines Menschen abnehmen oder gar aufhören, sobald ihm Nerven und Gehirn beeinträchtigt oder zerstört werden. Aber hieraus geht lediglich hervor, dass zwischen diesen bestimmten Geistäußerungen einerseits, dem Hirn- und Nerveneiweiß andererseits ein Abhängigkeitsverhältnis besteht, das sich durch folgendes Bild veranschaulichen lässt. Wenn ich die Saiten eines Klaviers verletze oder das ganze Klavier zerstöre, so leidet oder verschwindet dieses Klaviers Musik. Aber folgt hieraus etwa, Musik überhaupt sei ohne Klavier unmöglich? Keineswegs; es gibt ja Musikinstrumente mannigfaltiger Art; neben den Saiteninstrumenten hat man zum Beispiel Blasinstrumente, und schließlich ist nur eine gleichmäßige Erschütterung der Luft nötig, damit der musikalische Ton entsteht. Der Materialist, der bloß einem Nerven- und Hirnwesen Bewusstsein zutraut, verfährt ebenso einseitig wie ein Naturvolk, das ausschließlich Hauchmusik kennt (durch die Kehle, Flöte oder Trompete hervorgebracht) und nun nicht glauben will, dass sich auch auf andere Weise Musik machen lässt. Würde solch ein Volk zum ersten Mal vernehmen, wie man mit schwingenden Saiten herrliche Töne hervorbringt, es würde zunächst meinen, die Saiten seien Röhren, durch die jemand Luft haucht. An seinen engen Erfahrungen geklammert, würde es der neuen Tatsache zunächst wie einem Wunder gegenüber stehen. Dieser Vergleich mag dem Materialisten dartun, wie verkehrt es ist, einen bestimmten Träger des Bewusstseins für den allein möglichen zu halten. Warum sollte dann gerade Eiweiß die privilegierte Bedingung seelisch-geistigen Lebens sein?

 

 

6.         Alles Dasein ist Erlebnis

Zur kritischen Überwindung des Materialismus und Mechanismus gelangt man auch, indem man mit strenger Folgerichtigkeit feststellt, was denn eigentlich mit den Worten „Materie“ und „Bewegung“ gemeint ist. Da stellt sich denn heraus, dass man darunter nur gewisse Empfindungen verstehen kann, deren Qualitäten durch die Natur des empfindenden Subjekts und seine Sinnesorgane bestimmt werden.

Wie ein Ton nach Auffassung des Physiologen objektiv in Luftschwingungen besteht, die lautlos, also etwa ganz anderes als Ton sind, während dieser erst durch die Natur unserer Gehörsnerven und unser Gehirn bedingt erscheint – so kommt auch die Wahrnehmung so genannter „Materie“, nämlich ausgedehnter, mit dem Auge empfundener oder ertasteter „Körper“ erst auf der subjektiven Seite zustande. Räumliche Unterschiede, Ausdehnung und Bewegung sind, wie Härte oder Weichheit und die so genannte Undurchdringlichkeit von Stoffen, ohne ein empfindendes Subjekt ebenso undenkbar wie Grün, Rot und Gelb ohne Auge und Nervensubstanz.

Auf dieser Grundanschauung beruht der erste Satz im Hauptwerk Schopenhauers: „Die Welt ist meine Vorstellung.“ Er will damit nicht etwa sagen, dass die Erlebnisse, die uns unsere Sinne vermitteln, Täuschungen seien. Vielmehr ist ihnen das zuzuschreiben, was wir „Wirklichkeit“ nennen, und in der Tat leuchtet die Sonne nicht bloß für mich, sondern auch für meine Mitmenschen. Aber diese sind keine höhere Instanz, sondern formell bloß Wiederholungen des Ich, ausgestattet mit denselben Sinnen. Mag also die Materie eine Gültigkeit über das einzelne Subjekt hinaus für alle gleich oder ähnlich empfindenden Wesen in gleicher Lage haben, so folgt hieraus doch nicht, dass sie unabhängig vom Empfinden überhaupt etwas bedeutet.

Was die idealistische Philosophie leugnet, ist lediglich eine solche Materie, der die subjektive Seite abgesprochen wird. „Materie nie ohne Geist“, hat der tiefschauende Goethe gesagt. Mit anderen Worten: wo man Materie oder Bewegung annimmt, muss man folgerichtig auch ein seelisch-geistiges Wesen voraussetzen, in dem sie zur Empfindung gelangt. Ein Dasein, das nicht erlebt wird, bedeutet einen Widerspruch in sich selbst, bedeutet eine Bestimmung ohne Bestimmtheit, ein Ding ohne Eigenschaft, eine Wasserwoge ohne Bewegung und ohne Wasser, ein Messer ohne Heft und ohne Klinge. Oder bleibt von der Materie, wenn wir ihre sinnlich empfundenen Eigenschaften hinweg denken, noch etwas übrig? Etwas Körperliches, Physisches, das keine seelisch-geistige Seite hat, das weder von sich selbst noch von anderen Wesen erlebt wird, wäre völlig unbeschreiblich, und statt zu glauben, es sei "etwas", sollten wir es lieber ein Unding nennen.

Alles, von dem wir sagen, es sei da, wird irgendwie erlebt. Die Richtigkeit dieses Satzes können wir in geistigem Anschauen erkennen, worauf ja alle Erkenntnis beruht, sei es nun eine unmittelbare Anschauung, sei es eine solche, die in Form des Beweises auftritt, das heißt: die mittels eingeschobener Logik auf schließliche Anschauung zurückführt.

Mag also der Leser versuchen, in unmittelbarer Anschauung einzusehen, dass Dasein Erlebnis bedeutet! Spreche ich von etwas, das vorhanden ist, so meine ich, dass im Gebiet des Bewusstseins (im allgemeinsten Sinne dieses Wortes), des innerlichen Lebens, irgendein Unterschied sich aus dem übrigen Bewusstseinsinhalt heraus sondert. Jedenfalls kann ich meine Erfahrung „da ist –“ nicht ohne mein Bewusstsein denken. Will ich aber sagen, etwas sei unabhängig von meinem Bewusstsein vorhanden, so ordne ich es einer anderen Bewusstseinsform ein, die den Träger dieses „etwas“ bildet, d. h. es in sich erlebt. Angenommen aber, es gebe in den Eingeweiden der Erde eine Tropfsteinhöhle, ohne dass je ein Mensch, ein Tier sie wahrgenommen hat, so kann ich nicht umhin, dieser Höhle lauter Empfindungsqualitäten zuzuschreiben; ich denke zu den Steinzapfen, von denen Wasser träufelt, eine heimliche Hand hinzu, die den kühl-nassen Stein betastet sowie ein Ohr, das dem Tropfenklingen lauscht. Und wenn ich auch nicht gerade Sinnesorgane hinzu zu denken brauche, so nehme ich doch jedenfalls ein Bewusstsein an, in dem das Höhlenerlebnis erfolgt.

Wer sich außerstande glaubt, in unmittelbarer Anschauung die allgemeine Geistigkeit des Daseins zu erkennen, mag Einzelerfahrungen zusammentragen und zum Gesetz verallgemeinern!  Mag er die Frage be-

antworten, ob ihm oder einem anderen Wesen jemals etwas Existierendes vorgekommen ist, das nicht Erlebnis gewesen wäre. Die Antwort muss lauten: Das allerdings nicht; das wäre ja auch unmöglich, weil nämlich alle Erfahrung ein Vorgang innerhalb des Bewusstseins ist. Kein Objekt ohne Subjekt!

Aber es bleibt noch der Einwand: „Außer dem Erlebnis, das in Wesen erfolgt, die es empfinden, ist ein Ding noch etwas anderes, ein an und für sich vorhandenes Objekt“. Dies zuzugeben, ist die Frage angebracht, was wir mit der Bezeichnung „an und für sich“ eigentlich meinen. Nun wohlan: etwas, das an und für sich ist, habe ich nur an einem einzigen Beispiel erlebt, nämlich an mir selbst; ich bin nicht bloß für andere Wesen vorhanden, sondern auch etwas für mich, unabhängig vom Empfinden anderer; ich bin nicht bloß etwas Äußerliches, Körperliches, sondern auch ein Innenleben, ein Selbsterlebnis. Und nach diesem Muster stelle ich mir das eigene Dasein alles dessen vor, das ich außerhalb meines Bewusstseins annehme.

„An und für sich sein“ heißt also nichts anderes, als Selbsterlebnis sein, und die Bezeichnung „Ding an sich“ ist entweder eine leere Worthülse oder bedeutet das Weltall, insofern es nicht bloß in seinen Geschöpfen zum Erlebnis gelangt, sondern zugleich in der allumfassenden Einheit: in der Weltseele.

Auf diese passt das Wort des Psalmisten: „Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es ... Wo soll ich hingehen vor deinem Geist? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich in die Unterwelt, siehe so bist du auch da.“ Ja, nicht Flügel der Morgenröte, ebensowenig Flügel überspannter Fantasie und Verrenkungen der Logik bringen es fertig, dem Allgeist zu entgehen, Materie oder Bewegung ohne Geist vorzustellen. Erst diese Selbheit von Dasein und Erlebnis entrückt uns der Zweifelsucht, der Ungewissheit, ob man den Sinnen trauen darf, ob sie das „Ding an sich“ nicht etwa in subjektiver Entstellung zeigen. Ich erkenne die Wirklichkeit, habe von ihr völlig angemessene Empfindungen, insofern ich vermöge der Einordnung meines Bewusstseins in das allumfassende Bewusstsein selber Wirklichkeit bin.

Die Welt ist, wie sie erlebt wird, weil ihr Erlebtwerden eben nichts anderes bedeutet, als was man unter dem Wort „Dasein“ versteht. Dass diese einfache Wahrheit so oft übersehen wird, und zwar von denen, die sich dem Erforschen objektiver Natur ergeben, ist wohl aus ihrer einseitigen Betrachtungsweise erklärlich: In ihrer Hingabe an das Objekt vergessen sie, dass sie selber oder ähnliche Subjekte stets dabei sind, wo Objekte sich darstellen.

Wie diese Überlegungen nachgewiesen haben dürften, braucht sich das Vertrauen  in einen  unvergänglichen Sinn des Weltalls nicht erschüttern


 

zu lassen durch den trübseligen Glauben, das Weltwesen sei etwas Brutales.

Wen philosophische Besonnenheit vielmehr zu der Anschauung führt, das Dasein sei geistiger Natur, dem ergibt sich hieraus die Möglichkeit, dass der große Geist, in dem wir leben, weben und sind, die höchsten Werte, die in uns herangereift sind, treu in seiner Erinnerung bewahrt und in seinem schöpferischen Leben unermesslich verwertet.

 

 

7.         Aus einem brutalen Weltwesen könnte

nichts Höheres entstehen

Zu den Verstandesgründen, die solches Vertrauen zum Allwesen stützen, gehört noch folgende Erwägung:           Denken wir gering vom Wesen
[ = Sosein] des Weltalls, so lassen sich die höchsten Leistungen des allgemeinen Daseins, die wir verehren und lieben, überhaupt nicht erklären. Wäre es nämlich etwas Brutales, so fänden wir keine Spur von einem zureichenden Grunde, aus dem das Auftreten geistigen Lebens, selbst wenn es nur gelegentlich und vorübergehend erfolgte, und besonders dessen edelste Blüte, das Wahre, Schöne und Gute, begreiflich wäre.

Wenn wir die Venus von Milo mit einem rohen Marmorblock vergleichen, so finden wir in dessen physischen Kräften keinen zureichenden Grund für die künstlerische Form, in der sich das Ideal weiblicher Schönheit ausdrückt, sondern wir fühlen uns logisch verbunden, den geistigen Gehalt dieses Marmors aus einer Geistesquelle abzuleiten, aus dem Künstler, der hier seine ideale Innenschau ausprägte. Und betrachten wir ein Gemälde, so sind wir außerstande, es aus einem zufälligen Zusammenfließen der Farben zu erklären, sondern die sinnvolle Farbzusammenstellung lässt sich nur aus dem schöpferischen Künstlergeist verstehen. Überhaupt ist es unmöglich, Hohes aus Niedrigem herzuleiten; wenigstens das Elementare des Hohen muss im Niedrigen vorhanden sein.

Eine Tatsache erklären heißt: sie zurückführen auf einen einfacheren, schon begriffenen Sachverhalt. Dass in einem Dreieck die Summe der Winkel zwei Rechte ausmacht, verstehe ich, sobald ich mit dem geistigen Auge die Natur des Dreiecks durchschaue und daran bemerke, dass die Verlängerung einer Seite über die Spitze hinaus und die Durchschneidung dieser Spitze durch eine Parallele (zur gegenüberliegenden Seite) drei Winkel ergibt, die einen gestreckten Winkel, d. h. zwei Rechte ausmachen und identisch sind mit den drei Winkeln des Dreiecks. Der mathematische Beweis ist nichts anderes als die Darlegung der Identität des zu Beweisenden mit etwas bereits Anerkanntem.


 

Wo aber das Verhältnis des zureichenden Grundes zu dem, was verstanden werden soll, in der Form zeitlicher Kausalität auftritt, d. h. wo wir verstehen wollen, wie eine Wirkung sich aus ihrer Ursache ergeben konnte, da besteht die gesuchte Identität in dem Nachweis, dass wir in der Ursache bereits die Anlage zur Wirkung sehen.

Wird solch eine Anlage nicht bemerkt oder gar geleugnet, so gilt uns die zu erklärende Wirkung für unverständlich. Wenn z. B. schwarze Finsternis auf einmal heller wird, so kann die Ursache nicht in der Finsternis liegen, weil es ja die Natur der letzteren ist, finster zu sein; vielmehr müssen wir das Hellerwerden aus einem Lichtquell erklären. Das gleiche nun gilt vom geistigen Licht: Finstere Brutalität, eine geistlos gedachte Materie oder Bewegung, lässt nie und nimmer verstehen, wie sich daraus seelisches, geistiges, vernünftiges, schönes, sittliches Leben zu entwickeln vermochte.

Das hat Du Bois-Reymond eingesehen, wenn er sagt, es werde für alle Zeiten dem Menschengeist unerklärlich bleiben („Ignorabimus“), wie aus der mechanischen Bewegung unserer Nerven- und Hirnatome Empfindung, Vorstellung, Gedanke werden könne. Der Irrtum dieses Naturphilosophen besteht freilich in der Annahme, dass Empfindung, Vorstellung und Gedanke tatsächlich aus brutaler Bewegung hervorgehe. Die Psychophysik bestreitet dies und sieht die für Du Bois-Reymond unüberwindliche Schwierigkeit schwinden, indem sie mit gutem Grund annimmt, dass des Weltalls Wesen eben keine brutale Materie oder Bewegung ist, sondern Erlebnis, Bewusstsein.

Eine exakte Weltanschauung möchte der materialistische Mechanismus zustande bringen, doch beschränken sich seine Erfolge auf das physische Gebiet, wo Größen gemessen werden, also Mathematik Anwendung findet. Völlig versagt er gegenüber der seelisch-geistigen Seite des Weltalls und stellt in dieser Hinsicht geradezu das Gegenteil einer Welterklärung dar, indem er nämlich etwas Sinnloses als den Urgrund betrachtet. Eine gewisse Logik allerdings schreibt er ihm zu, die Folgerichtigkeit der Naturgesetze, doch sie bedeutet ihm ein blindes, bewusstloses Wirken.

Die heutigen Materialisten werden an Besonnenheit hoch überragt durch Philosophen, die vor mehr als drei Jahrtausenden in Indien lehrten. Die Verfasser der Upanischaden sahen bereits, wie die ganze äußere Welt nur möglich ist, insofern sie von einem Subjekt getragen wird, wie die Dinge dieser Welt ihre Realität nur vom Allgeist (Atman) zu Lehen tragen und wie dieser in seinen Landsleuten erkannt wird und zum höchsten Selbstbewusstsein gelangen kann. "Tat twam asi" "Das bist Du" spricht eine Weiser zu seinem Sohn, indem er ihm ein Ding nach dem anderen zeigt und dabei das Gefühl in ihm zu erwecken sucht, dass all dieser Dinge Wesen sein eigenes Selbst sei. „Wer da alle Wesen im Ich erblickt und in allen Wesen das eigene Selbst, der wendet sich nie wieder von ihm ab.“ „Fürwahr, wer das Selbst gesehen, gehört, verstanden und erkannt hat, von dem wird diese ganze Welt gewusst.“ „Brahman, welches als Seele allem innerlich ist ..., es ist deine Seele, welche allem innerlich ist.“

Von den alten Indern reicht diese Weltanschauung bis in die heutige Zeit. In Plato und den Gnostikern fand sie großartige Vertreter, desgleichen in den Mystikern und monistischen Philosophien des Mittelalters, ferner in den idealistischen Philosophen der Neuzeit, in Berkeley, für den alles nur Bewusstsein ist, dann im Kritiker der reinen Vernunft [Kant], der den gewaltigen Ausspruch tat: „Wenn ich das denkende Subjekt wegnehme, muss die ganze Körperwelt wegfallen“, desgleichen, wie bereits erwähnt, in Schopenhauer. Naturwissenschaftlichen Realismus suchten der pantheistischen Grundansicht zu vermählen Giordano Bruno, Spinoza und Goethe, zuletzt der Psychophysiker Fechner, auch Lotze, Paulsen und Verworn sowie die „pantheistische“ Richtung unter den Monisten[1].

 

 

8.         Das Unbewusste und die Schwelle des Bewusstseins

Erst im idealistischen Monismus erfüllt sich mir das philosophische Suchen, sämtliche Hervorbringungen der Allnatur aus einem einheitlichen Grund abzuleiten.

Dem Pan-Psychismus nähert sich halbwegs der Monist Haeckel, indem er mit dem griechischen Naturphilosophen Empedokles vom "Lieben und Hassen der Elemente" spricht und auf die Zellpsychologie hinweist, darauf die Überzeugung gründend "schon dem Atom wohne die einfachste Form der Empfindung und des Willens inne, oder, besser gesagt, der Fühlung und der Strebung, also eine universale Seele primitivster Art“, und dasselbe gelte auch von den Massenteilchen, die aus Atomen sich zusammensetzen.

Eingeschränkt freilich hat Haeckel seine seelische Deutung der Gesamtphysis durch die Bemerkung, das Empfinden und Fühlen der Atome sei auf den untersten Stufen der Naturbildungen nur „unbewusst“.

Ja, was soll denn das heißen: unbewusste Empfindung, unbewusstes Gefühl? – Rot und Grün, Blumenduft und Harfenklang sind Empfindungen; wenn diese aber nicht innerhalb eines Bewusstseins auftreten, so sind sie eben unempfundene Empfindungen, d. h. ein Widerspruch in

sich selbst. Von „unbewusstem“ Seelen- oder Geistesleben lässt sich lediglich im Sinne einer Psychophysik sprechen, die sich auf das Gesetz von der „Schwelle des Bewusstseins“ bezieht. Denken wir uns den Menschen als ein Gebäude, das unten einen Keller, darüber ein Erdgeschoss und oben den Dachraum hat. Wird das Gebäude von einer Überschwemmung betroffen, so tritt das Wasser zunächst in den Keller. Ist es derart gestiegen, dass es den Keller hin bis zur Decke füllt, so kommt ein Moment, wo es über die Schwelle der Haustür ins Erdgeschoss tritt, und bei genügender Höhe erreicht es sogar den Dachraum.

Mit dem Wasser lässt sich das Bewusstsein vergleichen. Zuweilen bleibt es so genanntes Unterbewusstsein: während des tiefen Schlafes spielen sich in uns noch allerlei Vorstellungen ab, auch Empfindungen von Körpervorgängen, selbst von äußeren Geschehnissen, nur dass diese Erlebnisse sich nicht über die Schwelle des oberen Bewusstseins erheben, d. h. nicht deutlich in jene geistige Einheit hineinreichen, die unser waches Ichbewusstsein bildet.

Sie sind dann unterbewusst; erst wenn wir lebhaft träumen, oder wenn die körperlichen Empfindungen stark auftreten, gelangen sie zum gewöhnlichen Ichbewusstsein; wir erwachen dann und haben vom Geträumten etwas in der Erinnerung, während die unterbewusst gebliebenen Träume sich kaum dem Gedächtnis einprägen.

Der psychophysische Schwellenbegriff will sagen: das menschliche Bewusstsein und überhaupt das Weltbewusstsein gliedert sich zu verschiedenen Einheiten, einander über-, untergeordnet, und zwischen ihnen ziehen sich Grenzen derart, dass Erlebnisse, die in der einen Bewusstseinseinheit auftreten, nicht ohne weiteres der angrenzenden Einheit bemerkbar werden, sondern erst dann, wenn sie sich zu einer gewissen Auffälligkeit erhoben haben oder droben einem besonderen Interesse begegnet sind.

Um das Gesetz von der Bewusstseinsschwelle zu veranschaulichen, habe ich das Bild von einem Haus gebraucht, das aus Keller, Erdgeschoss und Dachraum besteht. Doch hier ist die Anmerkung am Platz, dass sich das Weltall nicht bloß in drei Stockwerken oder seelische Einheiten gliedert, sondern in ungezählte, dass es also nicht einem Fischerhäuschen gleicht, sondern einem gotischen Dom, der ins Unendliche emporwächst, und zwar indem mehrere Säulen sich zur Einheit zusammenfinden, indem ferner die so gebildete Einheit eine Säule höherer Ordnung darstellt und mit ihresgleichen einen abermaligen Zusammenschluss zur Einheit zustande bringt. Und indem diese Organisationsform immer weitere Fortsetzung findet, d. h. aus unteren Bewusstseinsstufen jedesmal eine Wölbung erwächst, eine übergeordnete Daseinsstufe oder „höhere“ Sphäre“, wie es im „Faust“ heißt.


 

Soweit unsere Sinne und Geistesaugen reichen, bemerken wir als untere Sphären folgende seelische Einheiten der unorganischen Welt:

Ganz unten das Atom – Haeckel schreibt ihm, wie gesagt, seelischen Charakter zu und nennt es die einfachste „Persönlichkeit“; Atome schließen sich zur Molekularsphäre zusammen – z. B. zwei Atome Wasserstoff mit einem dritten Atom Sauerstoff zu einem Molekül Wasser. Eine dritte Sphäre ist die Kristallisation, in der sich die Moleküle eines Stoffes zu einer Einheit organisieren, die etwas Höheres bedeutet, insofern sie Ähnlichkeit mit den einfachsten Formen des so genannten
organischen Naturreiches hat.

Nach Haeckel „trennt keine unübersteigliche Kluft die organische Welt vollständig von der unorganischen“. Eine Sphäre der organischen Welt ist die Zelle, doch bereits eine höhere. Tiefer noch als selbst das Plasmakügelchen der primitiven Monere, an dem das Mikroskop keine Gliederung entdeckt, steht das Plasmamolekül, von Haeckel „Plastidul“ genannt: Doch muss es, wie er aus der komplizierten Natur der Zelle folgert, in der ja eine ganze Welt von Anlagen, z. B. Vererbungsmöglichkeiten, enthalten ist, bereits eine Organisation darstellen.

In der Pflanze und in den höheren Tieren haben sich die Zellen mannigfaltig individualisiert und zur Arbeitsteilung für das Leben den Gesamtorganismus gegliedert, und zwar so, dass jedes besondere Glied, z. B. das Herz oder ein Nerv, als eigenartiger Zellverband, als sphärische Überwölbung sich darstellt. Auch das Glied nennt Haeckel eine Person. Wie nun unsere Glieder zum menschlichen Körper verbündet sind, so entspricht diesem körperlichen Überwölbungssystem und einem jeden anderen ein seelisch-geistiges. Auch die Weltseele gliedert sich ähnlich wie der gotische Riesendom.

Was eine höhere Sphäre gegen niedere abgrenzt, ist die Schwelle des Bewusstseins. Bei ihrer Aufnahme in die höhere Sphäre sinkt das Bewusstsein der untergeordneten Organe im allgemeinen unter die höhere Bewusstseinsschwelle und wird daher relativ unbewusst. Wie Fechner, der geniale Begründer der Psychophysik mit gutem Grund vermutet, sind alle mechanischen Naturvorgänge ursprünglich unter scharfem Aufmerken erlernt worden, um dann automatisch zu werden und als jener Mechanismus, den die Materialisten für seelenlos halten (unter der Schwelle des oberen Bewusstseins gesunken und also unterbewusst, nicht aber absolut unbewusst), als automatische Fertigkeit von Generation zu Generation vererbt zu werden. Wenigstens mehr oder minder wird das zur ersten Hervorbringung zweckmäßiger Einrichtungen nötige Spezialbewusstsein bei deren Wiederholung im Einzel- und Gesamtorganismus erspart.

Was diese Darlegung hauptsächlich zeigen möchte, ist ein Gesetz der organischen Entwicklung, demgemäß jeder Zusammenschluss von

Wesen zu einer Tätigkeit, die gemeinsamen Lebenszwecken dient, ein Oberbewusstsein zustande bringt, das sich durch eine Schwelle vom unteren Getriebe scheidet. Somit entspricht einer jeden Einheit, zu der sich das Leben auf der physischen Seite verbindet, zugleich eine seelische Einheit, und der Dom, den die kosmisch-organischen Gebilde, einander haltend und überwölbend, ins Unermessliche bauen, ist zugleich eine Gliederung der Rangordnung von geistigen Sphären.

 

 

9.         Die Menschheit als Organismus

Eine Spanne des Weltendoms haben wir flüchtig betrachtet: die Entwicklung vom Atom zum Menschen. Wer aber meint, hier sei nun der Gipfel erreicht – wer noch protzen kann mit dem vermessenen Wort, der Mensch sei die Krone der Schöpfung, der kennt nicht die schauende Andacht einer ehrlich-demütigen Seele, wenn sie sich sehnt nach dem, was höher ist als der Ichmensch.

Heil den unbekannten

Höhern Wesen,

Die wir ahnen!

Ihnen gleiche der Mensch;

Sein Beispiel lehr´ uns

Jene glauben. 

so lautet ein Bekenntnis des großen Idealbildners, der in seinem „Faust“ sowohl den Namen wie den echten Typus des Übermenschen geprägt hat und im Schlussakt seines Weltanschauungsgedichtes den Ausblick in höhere Sphären eröffnet. Wie Goethe überhaupt nur „Gottnatur“ kennt, so bedeuten auch die „höheren“ Wesen und Sphären für ihn nichts Übernatürliches, sondern obere Wertstufen, edlere Qualitäten, die aus der Naturentwicklung emporwachsen. Wollen wir ihre Art, ihre Physis und Psyche, wissenschaftlich erfassen, so unterscheiden sie sich von den Göttern des Übernatürlichkeitsglaubens bedeutsam dadurch, dass diese Götter den irdischen Geschöpfen wie äußere Gegenstände gegenüberstehen, während die monistische Auffassung alles Höhere mit dem Niederen durch eine gewisse Identität verbindet.

Ähnlich wie gotische Säulen sich oben zu einer Wölbung zusammenschließen, so gibt es auch etwas Höheres, das über den einzelnen Menschen waltet. Und ähnlich wie die Zellen unseres Körpers sich zu Gliedern verbünden und diese wiederum zum Gesamtkörper, so organisieren sich die Menschen zu Familien und Gemeinden, Wirtschaftsgruppen, Ständen, Klassen und Staaten, zu Dörfern, Städten, Fabriken, Schulen und Verkehrsanstalten, schließlich aber alles zum umfassenden Organismus Menschheit.

Einen treffenden Ausdruck dafür fand die soziologische Klugheit der Römer in der Fabel des Menenius Agrippa. Dieser Patrizier suchte die ständische Zerrissenheit seines Volkes zu heilen durch die Geschichte von den Gliedern des menschlichen Körpers, die einmal haderten: Die Hände waren es müde, für das Ganze zu schaffen, der Mund mochte nicht mehr kauen, der Magen nicht mehr verdauen, und indem so jedes Glied die Arbeit einstellte, befiel Schwäche den Gesamtkörper; die Hände zitterten, der Magen knurrte vor Hunger, und hätten sich die neidischen Geschwister nicht, durch Not belehrt, rasch wieder zum Gemeinschaftssinn bekehrt, der ganze Körper wäre zugrunde gegangen. Im Anschluss an diese Einsicht pflegt man längst den Staat, eine jede Nation, ja die Menschheit einen Organismus zu nennen. Und nicht bloß eine dichterische Vergleichung liegt hier vor, sondern im eigentlichen Sinne lässt sich die Menschheit als eine biologische Persönlichkeit ansehen.

Man wende nicht ein, die Einzelmenschen hätten eine zu große Selbständigkeit, als dass sie als Glieder eines höheren Organismus gelten dürften. Einige Selbständigkeit kommt ja auch den Gliedern unseres Körpers zu, und weit mehr den Gliedern gewisser niedriger Organismen. Zellen unseres Körpers, z. B. weiße Blutkörperchen, können, von ihm abgetrennt, eine Zeitlang lebendig bleiben und sogar gefüttert werden, und die Glieder jenes Quallenstaates, den der Zoologe Syphonophorenquallen nennt, sind zwar für gewöhnlich zu einem Organismus zusammengewachsen und haben sich in der Arbeitsteilung für die Lebenszwecke der Gesamtheit zu beruflicher Einteilung spezialisiert, vermögen aber auch abgetrennt vom Ganzen ihr Leben zu fristen.

Übrigens wird die Selbständigkeit des Einzelmenschen oft überschätzt. Sind wir denn nicht alle Sprosse am Baum der Menschheit? Gehörte nicht jeder Einzelne einmal zum Körper seiner Mutter, seines Vaters und eines jeden seiner Vorfahren? Dass Zwischenraum die Menschen voneinander trennt, ist kein durchschlagendes Bedenken gegen ihren Zusammenschluss zu einer Einheit. Auch die Blutkörperchen, die sich als rote und weiße Kügelchen durch unsere Adern schieben, haben Zwischenraum: in einer Flüssigkeit schwimmen sie, mit der sie dahin fließen. So bewegen auch wir Menschen uns in einem gemeinsamen Medium: in Luft und Licht. Nur weil man das durchsichtige Luft- und Lichtmeer nicht zu bemerken pflegt, ist man auf die Meinung verfallen, sie seien eine Art Nichts, das eine völlige Trennung zwischen den Menschen zustande bringt. Aber sehet doch: was hier zu trennen scheint, das eben verbindet uns miteinander.

Wallte nicht Luft zwischen uns, wir vermöchten nicht zueinander zu reden; erfolgt doch die Verständigung dadurch, dass unsere Sprachwerkzeuge die Luft erschüttern und die Luftwellen das Ohr und den Geist anregen, Worte zu vernehmen. Und flutete kein Licht zwischen den Körpern, wir ständen den Mitwesen blind gegenüber, während wir gerade durch das Licht, das von einem Menschen zum Auge des anderen dringt, innig verbunden werden. Luft und Licht können also, weit entfernt, die Menschen voneinander abzuhalten, ihr Umleib genannt werden, der alle verbindet. Zum gemeinsamen Umleib gehören auch noch die künstlichen Werkzeuge, deren wir uns zu Verkehrszwecken bedienen, z. B. die Eisenbahnen und elektrischen Drähte, die Straßen und Häuser, das Postwesen und die Presse, die Fabriken und Schulen, Büchereien und Museen, alles, was Kultur heißt.

Der Begriff „Kultur“ hat uns vom physischen Gebiet auf das geistige
übergeleitet, und hier zeigt sich besonders deutlich, wie sehr die Menschen bei all ihrer Selbständigkeit aufeinander angewiesen sind. Was wäre der Einzelne ohne die Sprache, die er von seinesgleichen lernt, und die doch ein Erzeugnis der Gemeinschaft ist? Ohne sie käme er in seiner geistigen Entwicklung nicht über den Idioten hinaus. Wird doch fast alles menschliche Verstehen, vor allem das höhere Geistesleben, der Schatz des Gemütes und der sittlichen Weisheit, die Wissenschaft und Kunst, den Einzelnen durch die Sprache übermittelt.

Wie zutreffend es demnach ist, den inneren Reichtum einer Persönlichkeit nicht lediglich als ihr Verdienst  aufzufassen, vielmehr als eine Kollektivleistung ihres Volkes und der Menschheit, das hat ein Goethe erkannt, dessen Genialität ihn nicht zum eitlen Egoisten machte, sondern den eigenen Lorbeer dem Genius der Menschheit zu Füßen legen ließ. „Was habe ich getan?“ spricht er bescheiden zu Eckermann, „ich habe alles, was ich gesehen, gehört und beobachtet habe, gesammelt und verwandt; ich habe die Werke der Natur und der Menschen in Anspruch genommen. Jede meiner Schriften ist mir von Tausenden verschiedener Personen zugeführt worden: der Gelehrte und der Unwissende, der Weise und der Tor, Kindheit und Alter haben dazu beigetragen. Größtenteils ohne es zu ahnen, brachten sie mir ihre Gedanken, ihre Fähigkeiten, ihre Erfahrungen. Oft haben sie das Korn gesät, und ich habe geerntet. Mein Werk ist die gemeinsame Leistung aller Menschen.“

Die edelste Form, in der sich die Glieder der Menschheit zu einem Gesamtorganismus zusammenschließen, liegt auf sittlichem Gebiet und wird Gemeinschaftsgeist genannt. Er entwickelt sich in einer Reihe von Stufen, so als Familiensinn, der die Liebe der Gatten, der Eltern zu den Kindern und umgekehrt, der Geschwister und Verwandten zueinander umfasst, ferner als Parteigeist und als Vaterlandsliebe, um schließlich in jener allgemeinen Menschenliebe aufzugehen, zu der schon die antiken Meister  der  Weisheit gemahnt haben.  So in  großartiger  Symbolik die Geistesführer des Urchristentums: Christus ist die Personifikation einer geeinten  Menschheit, ist  der Hirt, der die Herde treulich zusammenhält,


 

ist der Weinstock, um den sich die Reben ranken, und ist das Reich Gottes, dessen einende Kraft im Abendmahl die Jünger zusammenhält, wie sich unsere Zellen zum Gesamtkörper organisieren. Dies alte Ideal ist durch das Sinnen der folgenden zwei Jahrtausende nicht überholt worden.

Unter den neuzeitlichen Verherrlichungen der Menschheitsidee hebe ich ein paar Proben heraus. Zunächst des mystischen Dichters Angelus Silesius:

Die Menschheit ist’s, die man im Menschen lieben soll ...

Der Mensch hat eher nicht vollkommener Seligkeit,

Als bis die Einheit hat verschluckt die Anderheit ...

Ach, dass wir Menschen nicht, wie die Waldvögelein,

Ein jeder seinen Ton, mit Lust zusammenschrein.

Der Künstlerphilosoph Richard Wagner lehrt im Anschluss an Jung-Hegelsche Gedanken eine All-Einheit des Menschengeschlechts, deren Umrisse folgendermaßen laufen:

„Gleichwie der Mensch viele und mannigfaltige Glieder hat, von denen jedes sein Geschäft und Nutzen und besondere Art hat, die alle zusammen aber doch nur den einen Leib ausmachen, so sind alle Menschen die Glieder des einen Gottes...Gottes teilhaftig in der Unsterblichkeit sind alle, die ihn erkennen: Gott erkennen heißt ihm dienen: das ist, seinen Nächsten lieben wie sich selbst.“

Gott ist also für Richard Wagner die geheimnisvolle Einheit des Menschengeschlechts, die in der Liebe zutage tritt, und die „erkennen“ Liebe üben heißt; er ist mit der Menschheit von Anfang an eins.

„Aber die so geeinte Menschheit bedeutet doch zunächst nicht mehr als ein Ideal, in leuchtenden Farben auf die sonst so graue Wand der Zukunft gemalt.“ Dieser Einwand ist berechtigt. Es liegt ja auf der Hand, dass der Zusammenschluss der egoistischen Einzelmenschen, der hadernden Parteien und mordenden Völker zu einem höheren Organismus gegenwärtig noch sehr mangelhaft verwirklicht ist. Eine ähnliche Mangelhaftigkeit freilich müssen wir auch dem Körper des Einzelmenschen zuschreiben, der doch oft von Krankheiten heimgesucht wird und durch sein Sterben beweist, dass an der Maschinerie noch lange nicht alles in Ordnung [ist]. Überhaupt sind die zweckmäßigen Gebilde, die wir im Naturreich vorfinden, nur Etappen auf der Suche nach Organismen, die in sich selbst sowie im Verhältnis zur Umwelt, vollkommene Harmonie haben. Wenn also die Weltgeschichte ein Suchen nach Vollkommenheit darstellt, so macht die sittliche Mangelhaftigkeit der Menschheit keine Ausnahme von der Regel.  Noch  lange  nicht haben  wir Sterblichen die höhere Sphäre, den Übermenschen verwirklicht. Immerhin ringen wir in unseren  edelsten Vertretern  nach dieser  Richtung, und wenn  der Sinn des Lebens keine Täuschung bedeutet, so sind die Ideale des Wahren, Schönen und Guten eine sich ausbildende Naturgesetzlichkeit; und gegenseitiges Verständnis, Mitgefühl und Liebe oder wenigstens Rücksichtnahme und Duldsamkeit, gegenseitige Achtung und Menschlichkeit werden einmal das sittliche Leben derart harmonisiert haben, wie die naturalistische Seite des Kosmos in Form der Naturgesetze bereits vorliegt.

 

 

10.       Das geniale Bewusstsein

Gegen die Annahme dass wir Menschen zu einem höheren Wesen zusammenwachsen, ließe sich die Frage vorbringen, wie es denn komme, dass der Einzelmensch vom Bewusstsein des übergeordneten Organismus nichts unmittelbar erlebt und erst durch eine Schlussfolgerung zu ihm geführt wird.

Zur Antwort verweise ich auf das Schwellengesetz, nach dem die untere Sphäre nur spärlichen Anteil am Oberbewusstsein hat – nämlich nur da, wo untere Erlebnisse zu einer Bedeutung wachsen, die in der höheren Interessenssphäre Geltung findet. So bleiben im Allgemeinen die seelischen Inhalte unserer Zellen unterhalb der Schwelle unseres gewöhnlichen Bewusstseins und treten daselbst als Empfindung und Gefühl nur soweit auf, als sich aus der Masse des Gewöhnlichen etwas Besonderes hervorhebt – etwa das schmerzliche Anzeichen einer Krankheit oder Hunger und Durst.

Gleichfalls nur zum Teil macht sich das Oberbewusstsein nach unten für die Psyche eingeordneter Organe bemerkbar. Während z. B. die Zellen des Herzmuskels oder des Nervus sympathicus gewöhnlich keinen Anteil nehmen an dem, was unser Oberbewusstsein beschäftigt, wirken einzelne Erlebnisse daselbst – Schreck, Zorn, Scham, Sehnsucht – erregend oder lähmend auf den Schlag des Herzens, auf die Funktionen der Blutgefäße und andere sonst „unbewusste“ Zellentätigkeiten ein.

Ein ähnliches Verhältnis nun zeigt der Organismus Menschheit in Form des so genannten genialen Bewusstseins. In der Tat stammt es von einem Genius her, aus der höheren Sphäre des Menschheitsgeistes. In der Genialität überwindet der Einzelne seine gewöhnliche Ichform und lebt fühlend in der "Überseele“, wie Emmerson sagt.

Genial ist ein Forscher, insofern er sich dem Genius der Erkenntnis ergibt, d. h. sein Ich, frei von Vorteilssucht, frei von Ehrgeiz und Rechthaberei, ebenso demütig wie tapfer in den Dienst der Wahrheit stellt. Solcher Edelsinn macht ihm das Geistesauge klar und sicher, so dass es tief und großartig die Zusammenhänge erschaut und die Materialien, die treuer Fleiß gesammelt, derart ordnet und deutet, dass sie dem Erkenntnistrieb Klarheit und Reichtum geben.

Indem wir bedenken, dass es sich hier um ein System von Begriffen, Gesetzen und Erklärungen, also um das Erfassen von Identitäten handelt, bemerken wir, worin die allerhöchste, die kosmische Bedeutung der Wissenschaft besteht: Indem sie in die sonst verwirrende, fremd und feindlich zerrissene Welt Ordnung, Einheit bringt, trägt sie dazu bei, dass der Ichmensch die Einheit der Dinge und seine Identität mit den anderen Wesen durchschaut und sich wenigstens theoretisch vom egoistischen Standpunkt zum harmonischen bekehrt.

In gleicher Weise genial, in die höhere Sphäre erhebend, wirkt das Schauen und Schaffen des Künstlers oder, allgemeiner gesagt, des künstlerisch erlebenden Gemütes. Wie besonders Schopenhauer nachgewiesen hat, beruht alles ästhetische Empfinden auf einer Überwindung oder doch Beruhigung des Egoismus. Wer die Idee des Schönen schaut, wird „aus sich selbst entrückt“ wie Faust; d. h. er hat sein niederes Ich vergessen. Erst wo der „Wille zum Leben“, wie Schopenhauer sagt, oder, mit anderen Worten, der engherzige Sinn für Vorteil und Nachteil, gleich einem drückenden Sklavenjoch überwunden ist, erst da kann das bessere Selbst erwachen: unsere innige Teilnahme an der Mitwelt, jene Liebe, von der ein Kunstwerk, um echt zu sein, beseelt sein muss.

Im Zusammenstimmen der Gefühle, im poetischen, einzig neuen, daher magisch verklärten Schauen, sowie in einem Reichtum von Beziehungen, den nur die Unendlichkeit haben kann, geht uns die Weisheit des Brahmanenwortes auf "Das bist du!" Ja, die Welt mit ihren zahllosen Geschöpfen, das Himmelszelt in seiner Erhabenheit, das wilde Meer wie der heilige Wald und die keusche Blume, das Raubtier wie der Schmetterling, der Mitmensch, die unerschöpfliche Fülle von Gefühlen und Anschauungen, die das Menschentum enthält, allerlei leidende und fröhliche Kreatur, Geburt und Tod – all das, o Mensch, bist du selbst!

Aus dem Spiegel der Umwelt blickt dich dein tiefstes Wesen an, und so verklärst du dich zum besseren Selbst. Mindestens in der holden Träumerei fühlst du dich erlöst aus dem Kerker der Ichsucht. Wohlan denn, umfasse mit deiner Teilnahme, was da lebt und webt. Einen Mittler, der diesen Seelenzustand fördert, hast du am Künstler. Er, dem das Herz aufgeht beim Anblick eines schlichten Baches, eines Gebüsches, einer Blume, eines Menschenkindes, dieser Entdecker feinster Zusammenhänge und Erlauscher zusammenstimmender Gefühle, dieser Deuter des Herzens, der den Bösen wie den Edlen, den Eigenartigen wie den Alltagsmenschen mit Sympathie durchleuchtet, dies „klare Weltenauge“ kann uns zu der Seelenruhe leiten, die Spinoza „geistige Liebe zu Gott“ nennt.


 

Dem Menschenkenner bleibt freilich unverholen, dass der Künstler und der Forscher durch ihre Genialität nicht immer vor der Einseitigkeit, dieser Schlacke des Endlichen, bewahrt werden. Ein Schopenhauer war nur als Theoretiker groß und nicht imstande, als Charakter in der Lebenspraxis seine höchste Erkenntnis zu betätigen. Wie häufig künstlerische Begabung blasses Ästhetentum ohne sittliche Weihe bedeutet, das zeigen die Atelierlöwen von heute; und Tolstoi hat, von Übertreibungen im Einzelnen abgesehen, ganz Recht, wenn er den üblichen Kotau vor dem, was Kunst und Wissenschaft heißt, verweigert. Erst Güte gibt dem Wahren und Schönen seinen vollen Wert und vervollständigt die Leistungen wissenschaftlicher und künstlerischer Genies. In der Hingabe an das Dreigestirn des Idealismus, das aus der höheren Sphäre des Menschentums strahlt, verwirklichen seine eingeordneten Glieder den Sinn des Lebens.

Auf welchem Wege auch immer der Mensch dazu gelangt, in einem Mitwesen sein eigenes Selbst wiederzuerkennen, er wird – sofern dies Erlebnis die Tiefe seines Charakters ergreift – zu einer höheren Lebenspraxis bekehrt. Schon das Kind, das unbedachtsam einem Tier weh getan, fühlt sich zu einem edleren Benehmen verpflichtet, sobald ihm klar wird: es fühlt wie du den Schmerz! Und so beruht auf dem mitfühlenden Verständnis für die Umwelt alle Moral, die mehr ist als Familien-, Standes- und Klassenegoismus, mehr als Knechtseligkeit und Werkgerechtigkeit.

„Liebe deinen Nächsten als dein Selbst – widerstrebe nicht dem Übel mit Gewalt – liebet eure Feinde!“ mit dieser Mahnung spricht Christus die echt humanistische Erkenntnis aus, dass das Böse nur in unpersönlicher Weise überwunden werden kann, so dass nicht sein zufälliger Träger, ein Beet, auf dem das Unkraut gerade wächst, vernichtet, sondern das Unkraut ausgerodet wird, nämlich jener Wahn der Ichsucht, der den Einzelnen rücksichtslos macht.

Obwohl solcher Verfinsterung unterworfen gehört jeder Einzelmensch doch auch zur Herde des heiligen Hirten; und eben aus diesem Grund, weil er Beruf und Anlage zum höheren Leben hat, soll er nicht noch niedriger gedrückt, nicht misshandelt, nicht getötet, vielmehr zum Besseren erhoben werden; das aber kann nur eine Menschlichkeit, die nicht verdammt und umbringt, sondern noch im bösartigen Verbrecher den Keim zum besseren Selbst anerkennt.

 

 


 

11.       Die Bedeutung des Bösen

Bosheit und Güte, diese Gegensätze vor Augen, stehen wir einer rätselhaften Tatsache des kosmischen Lebens gegenüber: seiner Zwiespältigkeit, die doch ebenso zweifellos vorliegt wie seine Einheit. Ein „Monismus“, der an ein absolutes Monon, an pure Einheit ohne Widerspruch glaubt, ist ebenso verfehlt wie ein Dualismus, der die Gegensätze im Dasein für unermittelt und unüberwindlich hält. Philosophisch haltbar ist nur eine Weltanschauung, die Monismus und Dualismus in der Weise verschmilzt, dass sie beide relativ gelten und einander ergänzen lässt. Um die Bedeutung des Dualismus zu erleben, muss man die naturalis-
tische Einseitigkeit, die fast nur auf die äußere, physische Seite des Daseins hinblickt, verlassen und sich im geistig-sittlichen Bereich umsehen.

Eine Weltanschauung soll eben nicht bloß auf sinnlicher Erfahrung und verständiger Zurechtlegung fußen, sondern zugleich Gemüt und Charakter, die gesamte geistige Persönlichkeit befriedigen. Indem wir nun als fühlende und wollende Wesen im Weltall stehen, erleben wir dessen Werte in einer unendlichen Skala abgestuft.

Aus dem finsteren Abgrund der Nichtigkeit ragt eine Stufenleiter zu den lichten Höhen des Vollkommenen empor, und wir, wie alle Wesen, klimmen auf dieser Himmelsleiter. Höher möchten wir empor, dorthin, wo es uns besser deucht. Den Aufwärtsstrebenden aber umfassen neben Boten des Lichts auch Dämonen des Wahns. Gierig haschen wir nach Lust und Gütern, verlieren dabei oft den Halt und stürzen zur Tiefe. Entsetzt umhergreifend klammern wir uns dann wieder an einer Sprosse fest, und aufs neue geht’s empor. Massenhaft tobt Kampf unter den Wesen, die einander die besseren Plätze streitig machen. Heil dem, der während seiner Lebensspanne auch nur ein wenig höher kam! Sein Leben entspricht dem Sinn des Ganzen.

Wohin denn aber gilt es zu gelangen? Den Bescheid versuchen bildliche Ausdrücke. Die Tiefe ist das Minderwertige, ist geistige und sittliche Finsternis, lähmende Kälte, Niflheim, Hölle, das Nichtige und Trügende, Vergängliche und Zerstörende, der Irrtum und die Lüge, das Hässliche, die Gemeinheit und rohe Selbstsucht. Hingegen bezeichnet die andere Richtung das „Höchste Wesen“, das „Licht der Welt“, den „Logos“, das „Königreich der Himmel“, das „ewige Leben“, das Vollkommene, Schöpferische und Erhaltende, den Inbegriff aller Ideale, den Sinn des Daseins.

Im „Faust“ werden die beiden polaren Gegensätze so außergewöhnlich tief erfasst, dass auch in dieser Hinsicht Goethes weise Dichtung eine Offenbarung ist. Dem „Herrn“ stellt der Prolog im Himmel Mephistopheles gegenüber. Als „Geist, der stets verneint“, als ungefügiger „Sohn des Chaos“ bedeutet dieser die Macht der Unordnung, die des Lebens Harmonieformen zu vernichten, die Emportriebe ins Niedere zu lenken sucht.

Mephistopheles ist nichts Geringeres als die eine Seite des Daseins. Tagtäglich haben wir mit ihr zu tun, und darin eben wurzelt unsere Sehnsucht nach einem höheren Sinn des Lebens, dass wir unter einem Wust von Nichtigkeiten schmachten und seufzen. In seinem Selbstporträt erinnert Mephisto an Sisyphus, ahnend, dass all sein Mühen schließlich unfruchtbar bleibt. Im Schicksal Fausts betätigt sich Mephistopheles als das minderwertige Ich, als genusssüchtiger und herrischer Egoismus. Auch als die Zersetzung, die das Vertrauen zur idealen Welt, den Glauben an den Logos zerstört. Wenn Mephisto eine Macht über Faust erlangt, so ist der Grund dafür in dessen Desperation zu suchen. Es ist bezeichnend, dass der Dämon der Nichtigkeit in dem Moment sich Faust nähert, wo dieser am Sinne seines Lebens derart verzweifelt, dass er zum Selbstmord greift und Hoffnung, Glauben und Geduld verflucht.

Andererseits bedeutet das Erwachen höherer Gefühle in Faust jedesmal ein Verdrängen des finsteren Geistes. Alle Reden und Betätigungen Mephistos kann man als eine dialektische Darstellung des niedrigen Lebenspols und als Vorgänge menschlichen Innenlebens betrachten.

Somit bestärkt der philosophische Gehalt der Faustdichtung durchaus nicht jenen Dualismus, der etwas Übernatürliches der Natur gegenüberstellt. Gott und Teufel, Himmel und Hölle, Sinn und Unsinn sind vielmehr immanente Verhältnisse der Allnatur; und in ihrer mittelalterlichen scholastischen Gewandung verkündet die Faustdichtung entschieden den Monismus als eine Untrennbarkeit von Gott und Welt, wie sie Giordano Bruno meinte, der den Zusammenbruch des scholastischen Dualismus vollendete.

An diesen philosophischen Lehrmeister schließt sich Goethe an, zugleich an die Zwei-Einheits-Idee der persischen Religion. Zwei Gottheiten lässt diese gelten, Licht und Finsternis, Wahrheit und Lüge, Sinn und Unsinn; aber Ormuzd und Ahriman sind Zwillingsbrüder, und mag ihr Streit um den Besitz der Welt und Menschheit schier unversöhnlich toben, am Jüngsten Tag wird Frieden geschlossen. Dann bekehrt sich der finstere Geist zum Lichte, auch die Hölle findet Erlösung, und es wird offenbar, dass auch das Böse dem Guten dient und die Finsternis nur dazu da war, des Lichtes Fülle in seiner prangenden Schönheit, Wahrheit, Güte triumphieren zu lassen.

Wir haben es hier mit einer bedeutsamen Wahrheit in der Entwicklungsgeschichte des Lebens zu tun. Der Schmerz gehört nicht minder wie die Freude zu dem Impulsen lebendiger Betätigung; nicht zu entbehren vermag ihn die Menschheit. Schmerz macht vorsichtig und klug; die Not ist die Mutter aller Erfindungen. Kälte und Finsternis mussten die Horden der Eiszeit erleiden, um das Feuer bereiten zu lernen; und wenn wir bedenken, dass auf der Anwendung des Feuers so ziemlich die gesamte Technik beruht, müssen wir jenes physische Missgeschick preisen, das den Prometheusfunken bescherte. Das Drohen des Hungers war es ohne Zweifel, was den vorgeschichtlichen Menschen zur Viehzucht und zum Ackerbau brachte.

Wassernöte mussten erlitten werden, bevor man darauf verfiel, einen schwimmenden Baumstamm zum Kahn auszuhöhlen und als Transportmittel mit Ruder oder Segel durch die Flut zu bewegen.

Aber nicht bloß materielle Not bildete einen Antrieb zur Vervollkommnung, sondern auch die geistig-sittliche. Ein Dürsten nach Klarheit treibt den Forscher, seine Probleme zu lösen, der Zweifel spornt den ringenden Geist an, den quälenden Zustand der Ungewissheit zu beseitigen. Jene sittliche Not, die wir Schuldbewusstsein, Gewissensqual nennen, ist für viele aufwärtsstrebende Charaktere ein unentbehrlicher Antrieb. Auch hängt die Vervollkommnung des sozialen Körpers ebensosehr von sozialen Schmerzen wie von Befriedigungen der Verheißungen ab. Unzufriedenheit hat sich in der Geschichte der Völker als Kulturhebel erwiesen, während soziale Gemeinschaften, die sich einer bornierte Zufriedenheit ergaben, der Versumpfung anheimfielen.

Durch Leiden wird das Mitgefühl ausgebildet, die Liebe verfeinert, der Heroismus gestählt. Findet sich denn nicht gerade unter Armen und Kranken besonders viel Mitleid mit ihresgleichen? Und was den Heroismus betrifft, so wird Giordano Brunos Entschluss, seine Überzeugung nicht zu widerrufen, vielmehr als Märtyrer zu ihrem Triumph den Scheiterhaufen zu besteigen, psychologisch verständlicher, wenn man bedenkt, dass ihn jahrelanger Kerker nebst Folter nicht mürbe, sondern stahlhart gemacht hatte, und dass er seine Leiden nicht umsonst erlitten haben wollte, sondern zugunsten seines höheren Selbst, das ihm desto lebendiger wurde, je mehr er als arme Kreatur zu leiden hatte.

So dient manches , das man zunächst schmerzlich als Übel empfindet, zur Vertiefung und Veredlung des Gemütes.

Sogar das Verbrechen erweist sich, obwohl verabscheuenswert, in gewisser Hinsicht als Fortschrittsmoment; denn wie die Schmerzen des Patienten, ihr Sitz und ihre Art, dem Arzt Aufklärung über die Natur der Krankheit verschafft, das er sie zu heilen imstande ist, so zeigt jedes Verbrechen dem sozialen Arzt, wo etwas morsch und faul am Gesellschaftskörper ist, und gibt wenigstens einen Fingerzeig über den Weg zur Heilung.

Solche Betrachtungen enthüllen uns die bedeutsame Wahrheit, dass das  Übel im Weltall, weit entfernt, den Sinn des Daseins vereiteln zu können,


 

ihn vielmehr befördern muss, wie Mephistopheles, von dem „der Herr“ sagt, er müsse „als Teufel – schaffen“.

Welch ein erhebender Trost über unser Gemüt! Verscheucht ist ihm auf einmal jene abergläubische Furcht vor dem Teuflischen, die das Mittelalter so unheimlich macht.“ Harmlos, humorvoll mit einem stillseligen Augenblick lernen wir die niedrige Seite des Lebens betrachten. Alles Leid und Übel bedeutet ja keimende Freude und Erhebung: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten.“ Das Böse ist das unreife Gute, aus Irrtum und Wahn sprießt heimlich die Wahrheit empor, das Hässliche ist ein bloßer Mangel an Schönheit, und alles Minderwertige trägt insofern Heilkraft in sich, als gerade der Mangel zur Vervollkommnung treibt. Was wir den Unsinn des Lebens nennen, hat zwar innerhalb des Zeitlichen, in der geschichtlichen Entwicklung Wirklichkeit, aber keine absolute Gültigkeit; es bildet eine Vorstufe des höheren, und in der Schau des Ewigen, das ja die unendliche Reihe der Entwicklungsstufen umfasst, bildet die Geschichte des Weltalls eine Symphonie, das Böse darin die aufgelöste Dissonanz.

 

 

12.       Tod und Unsterblichkeit

Das gilt auch vom Tode, der gewöhnlich von den Menschen als ein Übel betrachtet wird, wie sie denn die Hinrichtung für die schwerste Strafe halten. „Und eh man noch den halben Weg erreicht, muss schon ein armer Teufel sterben“ – dieser trübselige Gedanke, den nicht allein die Philister, sondern selbst ein Titanengeist Gefolgschaft leistet, kann sich erweitern zur Verzweiflung am Sinn des Daseins. Zumal in unserem materialistischen Zeitalter stehen Millionen von Menschen an den Gräbern, in die sie ihre Lieben hinuntersenken, in einer Stimmung, die an Mephistos Meditation bei Fausts Leichnam erinnert.

Vorbei und reines Nichts, vollkomm´nes Einerlei ...

Da ist’s vorbei – was ist daran zu lesen?

Es ist so gut, als wär´ es nicht gewesen.

Aber ist das wirklich wahr? Ist es mit einem toten Menschen gänzlich vorbei? Dürftig lautet der Trost des Materialisten, dass der Leichnam nach dem Gesetz von der Erhaltung des Stoffes und der Kraft im Haushalt der Natur zu neuen Gebilden verwendet werde und sich in Gras und Blumen, Tiere und neue Menschen verwandele; was uns den Verstorbenen teuer macht, ist ja nicht sein Erdenstaub, sondern seine Individualität, wie sie sich in Charakter, Innenleben und Betätigung ausprägt. Wer also das Wort Unsterblichkeit nicht als gehaltlose Redensart anwenden will,  muss darunter das Fortleben der geistigen Individualität verstehen.


 

Die Psychophysische Anschauung betrachtet alle menschliche Wirklichkeit als eine Zweiheit von Reihen: der körperlichen Reihe entspricht auf allen ihren Punkten eine seelisch-geistige, und wenn es eine physische Unsterblichkeit gibt, so muss ihr eine psychische entsprechen.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie gilt also nicht bloß in der äußeren Natur, sondern auch im Bereich der Innerlichkeit. Suchen wir aber nach einer Beschreibung dieses Reiches, soweit es über den einzelnen Menschen hinausgeht, so finden wir als nächstes Gebiet den Menschengeist, in dem die einzelnen Individualitäten gleich Wellen im Strom enthalten sind. Da nun der Menschengeist wiederum einem Höheren eingeordnet ist – dem Geist aller Geister, jenem Meer, „das flutend strömt gesteigerte Gestalten“ – so bedeutet jede Individualität nichts Geringeres als eine bestimmte Tendenz des Allgeistes und hat folglich ein unendliches Feld zu ihrer Existenz und Betätigung.

Die Art ihres Fortlebens über das Grab hinaus lässt sich an einem physischen Bild veranschaulichen: Ist ein Stein ins Wasser gefallen, so können wir noch des weiteren, mag er auch schon auf dem Grunde liegen, seine Wirksamkeit ringsum beobachten. Die von ihm angeregte Lufterschütterung vernehmen wir vielleicht noch als Echo, und der Spiegel des Wassers zeigt Wellen, die den Ort des Einfalls umzingeln, und zwar in der Weite immer unmerklicher werden, niemals jedoch ihre Energie in Nichts verschwinden lassen.

Ähnlich nun die geistigen Wellen, die ein Mensch um sich herum verbreitet. Es sind die eigentümlichen Wirkungen seines Lebens, in denen sich seine Eigenart ausprägt. Aufgenommen werden sie von Mitmenschen, die sie verarbeiten und der Nachwelt vermachen. Wenn sich bei diesem Weiterwirken neue Formen bilden, so haben wir hier nur ein Seitenstück zum physischen Gesetz von der Erhaltung der Energie und des Stoffes. Wo auch immer eine Arbeit verrichtet, ein Gefühl, ein Gedanke angeregt, ein Beispiel gegeben wird, fällt ein Samenkorn in den Schoß der Menschheit, um sich heimlich zu entwickeln, österlich aufzuerstehen und fortzuwirken ohne Ende. Und kein Moment unseres Lebens bleibt bedeutungslos, jede Winzigkeit wird unverlierbar im All aufbewahrt. Die großen Menschen machen sich unsterblich in ruhmreichen Werken, die ihrer Individualität eine neue Körperlichkeit verleihen, sogar einen getreueren Ausdruck dafür als es Fleisch und Bein zu sein vermag.

Hat nicht der Kunstfreund Recht, in einem Bild von Dürer, einem Musikstück von Beethoven den Schöpfer selbst zu sehen, so dass man die bezeichnende Redensart gebraucht: „Da haben wir einen Dürer, einen Beethoven“? – Und bedeutet nicht in gleicher Weise jegliche Tat, durch die ein Mensch schafft und der Menschheit spendet, eine edle Selbstverkörperung? Auch die Namenlosen leben fort.


 

In einem Dorf ein armes Mütterchen, das Jahrzehnte hindurch Haus- und Feldarbeit getan, dem geliebten Manne Kinder geschenkt und sie rechtschaffen erzogen, den Nachbarn stets Güte und Beistand erwiesen hat, - in solcher schlichten Weise macht es sich unsterblich; und wer weiß, ob das gute Beispiel, das es den Kindern vorlebte, die edlen Anregungen, die sein Charakter ausstreute, nicht später einmal sich verdichten zu einem sittlichen Wohltäter der Menschheit. Wohl oder übel leben überhaupt die Eltern in ihren Kindern fort; im allgemeinen Sinne aber hat jeder Mensch Kinder – seine Werke sind es.

Was mit ihrer rein kausalen Unsterblichkeit eine endlos moralische Bedeutung verknüpft, ist der Umstand, dass sich aus aller Tüchtigkeit neue Tüchtigkeit entwickelt, während Wahn und Laster ebenfalls ihresgleichen erzeugen:

Das aber ist der Fluch der bösen Tat,

Dass sie fortwährend Böses muss gebären.

Mit diesem Bewusstsein wächst unser Verantwortungsgefühl, und nicht etwa bloß Menschen sind wir verantwortlich für unser Wirken, auch einem ewigen Richter: dem Sinn des Daseins. Seine Bestrafungen sind keine künstlichen Qualen, von einer Autorität verhängt, sondern die natürlichen Folgen einer Tat, die in ähnlicher Weise auf den Täter fallen, wie im Volksmärchen auf das fleißige Mädchen Gold, auf das faule Pech regnete.

Das Böse bestraft und mordet sich selbst, wie Judas sich erdrosselte. Denn weil Leben und Freude nur in harmonischen Verhältnissen bestehen kann, das Böse aber stets Disharmonie bedeutet, so ist Zerfall seine Tendenz. Eine sittlich verfallene Nation zerrüttet sich selbst und wird von tüchtigen Völkern verdrängt. Und in der Kunst, Wissenschaft, Ethik behaupten sich lediglich Werke, die zur Harmonie der Menschheit beitragen. Während die Wahngebilde eines Irrsinnigen der Vergessenheit anheimfallen, lebt unsterblich die mathematische Entdeckung des Pythagoras oder etwa die Verherrlichung der Liebe im Korintherbrief.

Das unendliche Fortleben der geistigen Persönlichkeit in ihrem Tatenleib ist etwas ganz anderes als der Unsterblichkeitsglaube von Egoisten, die sich an himmlischer Freudentafel gütlich tun und den Frevler mit der höllischen Folterkammer einschüchtern möchten. Doch das Vornehme wird nicht leicht populär. Der gewöhnliche Mensch macht sich nicht viel aus seinem Tatenleib, weil er darin etwas ziemlich Fremdes und jedenfalls erst Zukünftiges sieht. Weist man ihn darauf hin, dass seine Handlungsweise Folgen über sein Grab hinaus hat, so entgegnet er wohl oder denkt es heimlich: „Nach uns die Sintflut! Vom System meiner Wirkungen, das nach meinem Tode ein schattenhaftes Dasein führt, habe ich keinen Vorteil, keinen Nachteil; denn sobald ich ins Gras gebissen habe, weiß ich nichts mehr.“

Selbst wenn der letzte Satz Widerlegung fände, wenn philosophische Spekulation, etwa im Sinne Fechners, den Nachweis erbrächte, dass der Tatenleib mit individuellem Bewusstsein lebt, so bleibt der gewöhnliche Mensch noch geneigt, das, was ihm später einmal geschieht, gering zu schätzen. Blass und winzig erscheint ihm die Zukunft im Verhältnis zur Gegenwart, ähnlich wie ein fernes Gebirge am Horizont nur ein Dunststreifchen ist, während uns die nahen Gegenstände groß und grell umringen. Ist man der Ichsucht ergeben, so wird man von ihrem Grundwahn eben verblendet, und jede Erkenntnis, die das Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen betrifft, erleidet eine gewisse Verzerrung.

Zu den schief geratenen Ansichten gehört auch der Glaube, dass zeitliche Trennung absolute Gültigkeit habe, und dass die Zukunft ein Nichts sei, ebenso wie die Vergangenheit keine Existenz mehr habe.

Hiergegen wendet nicht bloß der Theoretiker von Königsberg ein, die Zeit sei eine Anschauungsform des Subjekts; auch die Weisheit des Herzens fühlt es tief, dass, von einer höheren Sphäre aus betrachtet, Zukunft und Vergangenheit volle Realität besitzen, nämlich dem unvergänglichen Jetzt der Ewigkeit angehören.

Nicht mehr vom Ichwahn befangen, erwacht man zur Einsicht, dass die Individualität identisch ist mit ihren Wirkungen, mögen diese auch in fernsten Zeiten und entlegensten Himmelsräumen erfolgen. Dem so Erwachten braucht nicht bewiesen zu werden, dass sein Tatenleib bewusst leben wird, schon im Jetzt hat er das Bewusstsein der Verewigung. So ist denn sein Wachsen in die höhere Sphäre keine zeitliche Entwicklung, sondern ein unmittelbares Erfassen des Höheren ohne zeitliche und räumliche Umstände. Auf einmal wird das Ganze erlebt, wie es Goethe in dem großartigen Wort meint: „Der Augenblick ist Ewigkeit.“.

 

 

13.       Das bessere Selbst oder All-Selbst

Die echte Weisheit hebt also mit einem neuen Fühlen an, sie ist ein Entschluss, eine Charaktertat. Weil es dabei das alte Leben zu verlieren und eine ungewohnte Welt zu erobern gilt, so ist die antike Mahnung zutreffend: Sapere aude – wag es, ein Weiser zu sein! Diesem Wagnis hingegeben erhebt sich das Selbst zur wahren Freiheit. Solange wir nur in der Ichform leben, fühlen wir uns innerlich wie äußerlich von Verhältnissen der räumlich-zeitlichen Welt bestimmt.

Unabhängig und ursprünglich verhalten wir uns erst, wo die höhere Sphäre uns ergreift. Bedeutet sie doch in ihrer wesentlichen Richtung den Allgeist selbst, und der allein ist frei, weil es neben ihm nichts gibt, das ihn bestimmen könnte.


 

In dem also, was wir als unser besseres Selbst erleben, tritt erst eigentlich der Schöpfer auf, während die naturgesetzliche Ordnung bloß den Erhalter offenbart. Wie der Blitz ist diese schöpferische Ordnung aus der Höhe; im Nu beleuchtet sie den bedeutsamsten aller Zusammenhänge, der zuvor im Dunkeln lag; eins fühlt sich das Geschöpf mit seinem Urgrund und zu einem neuen Leben erweckt.

Solche Umwandlung des Sinnes und überhaupt das Erleben der höheren Sphäre können wir ziemlich deutlich an den großen Mystikern be-obachten, beispielsweise an Plotin, Franziskus von Assisi, Meister Eckhart, Suso, Sebastian Franck und dem Verfasser der Deutschen Theologie, ferner an Jakob Böhme und Angelus Silesius.

Doch nicht bloß in großartigen Bekehrungen zeigt sich die Sinneswandlung, sondern innerhalb des täglichen Lebens als eine Fülle und Ausweitungen des Ich in der Richtung zum All.

Der unreife Mensch, zunächst also das Kind ist ein naiver Egoist, dessen Lebensinteressen vorwiegend auf Wachstum und Erhaltung seines Körpers, auf Genuss und Schmerzvermeidung gerichtet sind.

Was nun diesen gewöhnlichen Menschen der höheren Sphäre näher bringt, sind Freundlichkeit und Liebe zur Umwelt. Indem das Kind Mutter und Vater, Geschwister und Gespielen gern hat, versetzt es sich immer inniger in sie hinein und erweitert so die Form seines Erlebens. Und wenn das Gemüt in einer Landschaft aufgeht, vom Frieden einsamer Felder, von der Erhabenheit des Sternenhimmels geweiht, oder wenn es sich in Stimmungen eines dichterischen, malerischen, musikalischen Kunstwerkes verloren hat, so fühlt sich der Mensch von seiner gewöhnlichen Lebensform wie aus einem Kerker erlöst.

Wie Sympathie zu den Sternen erheben kann, zeigt beispielsweise Schillers Lied an die Freude: der gemütliche Jubel beim Klang des Bechers wird dem genialen Dichterphilosophen zu einer Symphonie, die das Gewimmel der Sonnenbälle und Planeten im unermesslichen Raum anstimmt nebst den prangenden Blumen und Geschöpfen der Erde, besonders auch den vom Ideal erfüllten Sterblichen.

Die überwältigende Macht und geheimnisvolle Schönheit der höheren Sphäre kommt sogar Menschen, die nicht zur Begeisterung neigen, während einer Periode ihres Lebens zum Bewusstsein, wenn sie nämlich die Liebe zum anderen Geschlecht hinreißt. Obwohl diese oft nur in der minderwertigen Form der Genusssucht auftritt, waltet doch etwas Großes darin, und eben das Große bedingt ihre überwältigende Macht: es ist der „Genius der Gattung“, das Interesse, das der Menschheitsorganismus an dem Wiederersatz seiner sterblichen Glieder nimmt. Die Zeugung ist das unentbehrliche Korrelat des Todes. Was der emporringende Geist der Menschheit in den bisherigen Einzelgestaltungen noch nicht erreicht hat, sucht er durch neue zu ermöglichen, und von dieser Vervollkommnungspolitik erfüllt, leiht er der Fortpflanzung mehr oder minder eine himmlische Verklärung. Mit besonderer Genialität tritt solche Erotik in gefeierten Liebespaaren auf, wie sie in Geschichte, Sage und Dichtung aller Völker heroengleich leben; ich nenne Hero und Leander sowie Romeo und Julia, die ihr zeitliches Leben ohne Bedenken opferten, um den tiefen Sinn ihrer Liebe zu erfüllen. Genial ist auch Gretchens Hingabe an Faust, und treffend gelangt die Ewigkeitsbedeutung ihrer Glut in den Worten zum Ausdruck: „Ewig, ewig! Ihr Ende würde Verzweiflung sein.“

Schon die Tierwelt zeigt dem Beobachter, dass sie ihrer Gattungsliebe die höchste Wichtigkeit beimisst, indem manche Tiere daran sterben, und indem die Erzeuger oft einen Heldensinn walten lassen, der bis zur Aufopferung für die Nachkommenschaft geht.

Reiner oft als in der Gattenliebe, nicht mit sinnlicher Lust verschmolzen, tritt die Liebe in der Elternschaft auf; nichts Ungewöhnliches sind ja jene Mütter und Väter, die ohne Eigennützigkeit, unter Einsatz ihrer Hauptkraft und Arbeit, das Wohl der Kinder zu fördern suchen.

Haben solche idealen Triebe innerhalb des Familienlebens den Menschen mit Interessen erfüllt, die bereits über die gewöhnliche Ichform hinaus, in die höhere Sphäre greifen, so bietet das große Kulturleben weitere Anregung zur Entfaltung des besseren Selbst aus der Ichknospe. In den öffentlichen Interessen, in der Begeisterung religiöser, politischer, sozialer Parteien, in der Vaterlandsliebe und in der Humanität waltet mehr oder minder ehrlich, oft unklar oder gar auf Irrwegen, jener Vervollkommnungstrieb, durch den sich das Weltall als werdender Gott kennzeichnet.

Den uns bekannten Gipfel des Idealismus bildet die Gesinnung jener Weisen und wahrhaft Heiligen, deren Ichleben völlig im Dienste der höheren Sphäre steht, so dass sie verkörperte Organe des Menschengeistes, des Allgeistes sind. Ihre Gemütsverfassung lässt sich vergleichen einer seliggroßen Harmonie von Tönen, auch dem grenzenlosen Frieden einer glatten Meeresfläche, die des wolkenlosen Himmels ewige Sterne spiegelt. Kein „Glück“ im gewöhnlichen Sinne ist dieser innere Zustand, sondern jenes Selbstgefühl des Rechtseins, von dem Goethe sagt:

Alle Tag´ und alle Nächte

Rühm ich so des Menschen Los:

Denkt er ewig sich ins Rechte,

Ist er ewig schön und groß.

An Hoheit reicht dies Selbstgefühl unermesslich hinaus über alles Genießen, schon deshalb, weil Fausts Bemerkung zutrifft: „Genießen macht gemein.“

Wer in diesem Leben die Gier nicht missen kann, dem bleibt es versagt, Jünger der Weisheit zu sein. Erst wenn er durch Enttäuschung aufgerüttelt ist und einsieht, wie töricht er war, sich für die egoistische Lebensform zu begeistern, die gleich einer Seifenblase jeden Moment zerstäuben kann, erst dann trachtet er nach einem Ausweg, der aus Illusion, Unrast und Enge zum Frieden, zur Klarheit und Freiheit führt. Dann berührt ihn ein Wehen vom Baum des Lebens und er spürt, dass in dieser Richtung der verlorene Garten Eden wiedergefunden wird. Keine Lust gibt es dort, aber auch keine Schuld und keinen Tod. „Stark wie der Tod ist die Liebe“; deutlicher noch wird diese Wahrheit in der Formel: Überwunden wird alle Todesfurcht durch die Liebe, d. h. durch Hingabe an die seelischen Überwölbungen des Ichlebens; an das bessere Selbst im Menschen reicht kein Sterben hinan.

Dass Todesfurcht nichts als eine egoistische Sorge ist, dass sie schwinden muss, sobald wir uns freimachen von diesem finsteren Despoten „Ich“, mag folgende Betrachtung dartun.

Das Ichbewusstsein beruht auf der Meinung, der Mensch sei lediglich ein Stück Welt, sonst weiter nichts. Man identifiziert sich mit seinem Körper und seinem Eigentum. Sobald man aber vor die Aufgabe gestellt ist, dieses Ich genauer zu bestimmen, sieht man, dass seine Grenzen verschwimmen. Mit welchem Zeitpunkt begann denn mein Ich zu existieren? Etwa mit dem Tag meiner Geburt? Hat der Körper des Säuglings nicht in völliger Ausbildung kurz zuvor im Mutterleib gelebt? Und gehört er als Keim, als Blut und Triebkraft nicht seit uralten Zeiten seinen Vorfahren an? Dass der Mensch die Spitze der Pyramide bildet, deren Basis breit und immer breiter in die Vergangenheit reicht, sehen wir bei einer schlichten Überlegung: Wir haben zwei Eltern, vier Großeltern, bereits acht Urgroßeltern, und je weiter wir die Generationsreihe verfolgen, desto mehr gehen die einzelnen Schichten ins Breite; vor Jahrtausenden umfasste mein Leben, die Wurzel meiner jetzigen Lebensform, ein ganzes Volk, schließlich sogar die Erde, ja das Weltall.

Insofern wir Nahrung aufnehmen, leiblich und geistig wachsen, andererseits wieder Teile, die unserem Körper angehörten, der Außenwelt überliefern, zeigt sich, wie das Ich mit dem ganzen All in einer Weise verwoben ist, die keine scharfe Abgrenzung gestattet. Indem wir atmen, Speise und Trank genießen, flutet das Ganze in den Teil hinein, der Makrokosmos in den Mikrokosmos. Was zuvor Sonnenstrahl, Regen und Wind, Erde und Keim gewesen, wird Pflanze oder Tier, Brot oder Fleisch, dann von unserem Organismus aufgenommen und zu seinen Zellen umgebildet: der Kohlenstoff aber, der soeben noch unserem Ich gedient hat, entflieht der ausatmenden Lunge und geht in den Kreislauf des äußeren Naturlebens über.

Die Natur lässt keine Grenzen gelten, alles fließt. Auch die Empfindungen und Vorstellungen, die unser Bewusstsein erfüllen, sind nicht im genauen Sinn des Wortes unser Eigen. Sehen denn nicht Milliarden von Menschen und Tieren die eine Sonne, die allen gemeinsam strahlt? Oder gibt es wohl ein Ich, in dem völlig einzige Gefühle und Triebe leben? Bedeutet nicht der Hunger – um dies Beispiel herauszugreifen – etwas, das alle Geschöpfe tagtäglich bewegt, einen gemeinsamen kosmischen Trieb? Und hat nicht

Goethe eine große Wahrheit ausgesprochen, als er jenes Geständnis ablegte, sein Geisteswerk sei eine gemeinsame Schöpfung aller Menschen? Ja, unser Volk lebt in seiner Muttersprache, und die ganze Menschheit, ja der allumfassende Weltgeist erfüllt jeden Einzelnen. So flutet wieder vom Ich ins All jener Strom von Wirksamkeit, den ich Tatenleib genannt habe.

An solchem All-Ich-Bewusstsein haben wir nun eine befreiende Erkenntnis, während die Meinung, das Ich sei absolut vom All unterschieden, sei davon ein abgetrenntes Stückchen, unseligen Wahn bedeutet.

Eben diese Meinung bildet den Grund des Egoismus. Hält man sich für das Fragment einer brutalen Natur, hineingeschleudert in das Gewühl der Kreaturen, die alle eifersüchtig ihr Leben verteidigen und ihren Genuss erhaschen möchten, so glaubt man, auf rücksichtslosen Kampf ums Dasein, auf die Gier nach Lebens- und Genussmitteln angewiesen zu sein, und so zittert man natürlich vor einem Sterben, das des endlichen Wesens Ende bedeutet. Erwachen wir aus dieser Täuschung! Es gilt, das Bewusstsein des All-Ich aus dem engen Ich zu entfalten. „Leb´ im Ganzen! Wenn du lange dahin bist, es bleibt!“

 

 

14.       Das Recht des Natürlichen im Höherstreben

In Umrissen habe ich geschildert, wie der Mensch im reifenden Gemeinschaftsgefühl, in der fortschreitenden Erkenntnis seines wahren Wesens das zunächst enge Ich immer mehr ausweitet, so dass es sich zum höheren Selbst entwickelt. Verschiedene Stationen dieses Werdeganges entsprechen nun die Monumente der Weisheit, die im folgenden Teil unseres Buches zusammengestellt sind [Diese finden sich in Willes Buch, die hier nicht wiedergegeben sind.]. Im Großen und Ganzen um die Idee vom höheren Selbst versammelt, geben sie doch auch der Lebenslust und Kämpferkraft, dem Sehnen nach Glück und der Weltklugheit des Ich-Menschen manch charakteristischen Ausdruck. Deshalb braucht unser Buch nicht widerspruchsvoll zu sein. In gewissen Gegensätzen der Lebensanschauung soll eben nur etwas von jener Vielseitigkeit des Erlebens und jener Abstufung zum Ausdruck gelangen, ohne die kein selbständiges Ringen nach höherem Menschentum erfolgen kann. Auch die sittlich reife, geistig abgeklärte Persönlichkeit wird sich selbst gestehen: Ich bin ein Mensch, nichts Menschliches ist mir fremd.

Bevor wir nun zu den Monumenten der Lebensweisheit übergehen, ist es wohl angebracht, eine Missdeutung abzulehnen, der meine Verherrlichung des höheren Selbst ausgesetzt ist. Indem ich die Körperlichkeit des Menschen, sein daraus hervorgehendes Bewusstsein der Vereinzelung und Endlichkeit für den Wurzelgrund egoistischer Sorge, Gier und Rücksichtslosigkeit erkläre, gerate ich vielleicht in den Verdacht, jener Büßermoral zu huldigen, die in der Sinneslust eitel Sünde wittert, sowie jenem überspannten Altruismus, der vom Menschen verlangt, der Welt zu entsagen und alle Rechte der Individualität preiszugeben.

Solchem Missverständnis ist eigentlich schon vorgebeugt, indem ich betonte, dass es nirgendwo im All starre Grenzen gibt, dass vielmehr alle Gegensätze nur Stufen einer Lebenseinheit sind. Das gilt auch von den Gegensätzen Sinnlichkeit und Vergeistigung, Egoismus und Hingabe an die höheren Sphären. Sinnlicher Genuss und Ichsucht, Todesfurcht und Kampf ums Dasein dürfen für etwas Niederes angesehen werden, ohne dass man ihnen deshalb jegliches Recht abzusprechen hat. Gerade wer im sittlichen Leben einen Aufstieg sieht, wird das relative Recht einer jeden Stufe gelten lassen, sofern er der Entwicklungsidee Rechnung trägt. Alles Niedere bedeutet ja die Vorbereitung des Höheren, ist in der Naturordnung begründet und logisch unerlässlich. Bevor die Traube ihr süßes Feuer hat, muss sie sauer schmecken, und man darf nicht auf ihre Unreife schelten. Worauf es ankommt, ist eben nur, dass sich das Gewächs – so auch der Mensch – den Bedingungen des Reifens hingibt. Unsinnig wär’s, wollte der Gärtner dies Verhältnis für ein Weltübel halten und seinen Groll in der Vernichtung unreifer Früchte auslassen.

Weiß doch der Gärtner: wenn das Bäumchen grünt,

Dass Blüt´und Frucht die künftigen Jahre zieren.

Nicht minder töricht wie das Vernichten unreifen Gewächses, ja weit unheilvoller ist der Versuch der Büßermoral, den Leib zu kasteien und die Regungen der Sinne zu ersticken. Nirgendwo sollte abgetötet, überall nur entwickelt, nur veredelt werden. In gesundem Wirken hat jedes Organ unseres Körpers, jeder ihm innewohnende Trieb seinen Beruf, dem höheren Ganzen zu dienen, also schließlich hat all unser natürliches Leben ein gewisses Recht und gehört zur All-Harmonie, zum Sinn des Daseins. Es kommt nicht darauf an, dass wir widernatürlich und gewaltsam nach plötzlicher Loslösung vom Irdischen ringen, sondern darauf, dass wir, Kinder des Staubs, ähnlich wie Sonnenblumen, immerdar zum heiligen Lichtquell das Antlitz kehren. In finsteren Winkeln, bei feiger Abkehr des Gemütes, in dumpfem Schuldwahn entartet das Körperleben, und moralische Erbärmlichkeiten sprießen daraus hervor.

Drum hinweg aus aller Dumpfigkeit und Enge, hinaus mit deinem Körper. Menschenkind, ins Luft- und Lichtmeer, in die Woge gesunden Gefühls und freien Geistes! Unbefangenheit und Gesundheit haben stets etwas von Unschuld, und wie innig das Leben der Sinne mit echtem Idealismus verschmolzen werden kann, erleben wir in der Kunst der alten Griechen, in Platons Weltanschauung, in der Renaissance und bei Goethe. Wiedergeburt, ja noch höhere Entfaltung des Hellenismus gehört zu den Zielen aller echten Kultur. Vergeistigen wir die Sinnlichkeit anstatt sie zu ersticken. Der Gehalt solcher Vergeistigung wird uns von den großen, starken Persönlichkeiten dargeboten, und auch in dieser Richtung ist der Künstler berufen, den Ethiker zu ergänzen.

Ein Erlebnis zu vergeistigen bedeutet nun nichts anderes, als es befreien aus Enge und Einseitigkeit, seine Zusammenhänge mit dem Unendlichen zu finden. Dem „Brutalen“, Pflanzlichen, Tierischen gehört das Sinnliche eben nur dadurch an, dass es nicht bewusst zu höheren Sphären greift. Auch hier gilt die Losung: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“, nämlich die leuchtende Schönheit des Kosmos, die Liebe zum Ewigkeitsgehalt des Daseins.

Ganz das Gleiche gilt vom Egoismus. Mag er darauf bedacht sein, das Ich zu behaupten und selbst kämpfend zu verteidigen, es mit Lebensfreude zu erquicken und durch Macht zu erweitern – wenn nur stets etwas von „Gott“ in solchem Streben ist, d. h. wenn dabei niemals die Richtung zum höheren Leben verloren wird, und die Sehnsucht nach dem Sinn des Lebens immerdar lebendig bleibt. Wie nächtlicher Dunst sich verdichtet und am Halm als ein Tröpflein hängt, darin sich die heilige Sonne in der Fülle ihrer Farben spiegelt, so kann jedes Erlebnis, auch wenn es der Sinnlichkeit und zunächst der Ich-Region angehört, eine Sammlung und Konzentration des Weltalls enthalten und uns zum Unendlichen erheben.

Wo das Ich als Charakter zu wirken hat, da sollte es sich als Vertreter der emporstrebenden Menschheit fühlen und, von diesem höheren Selbstbewusstsein durchdrungen, im Ringen nach dem Wahren, Schönen, Guten das Recht der eigenen Individualität, der freien Überzeugung tapfer behaupten. Nur von innen heraus, in Selbstbestimmung, vermag sich die bessere Natur zu entwickeln. Autorität ist ein verfehltes Mittel, zur Höhe emporzuschrauben, weil Autorität eben eine Form der Unterdrückung bedeutet und die Seele in der Ichverengung bestärkt, also gerade das Übel reizt, auf dessen Überwindung es ankommt. Durch den Hinweis auf den höheren Zweck vermag sich die Autorität nicht zu rechtfertigen; der Zweck heiligt eben keineswegs die Mittel, vielmehr kann ein unreines Mittel das an sich gute Wollen fruchtlos machen.

Mit diesem Schlusswort glaube ich hinreichend angedeutet zu haben, dass die Lebensweisheit, deren Gestaltung ich hier vertrete, gewisse Einseitigkeiten zu meiden sucht, denen der hin und her schwankende Zeitgeist Huldigungen darbringt. Da sehen wir rechts das Gemeinschaftsideal in Form der Autorität – als staatliche und kirchliche Gewalt, Zwangserziehung, Bestrafung und äußere Belohnung, als Dogmatismus in Religion und Wissenschaft, in Kunst und Moral, als Militarismus und Kapitalismus, überhaupt als Sozialordnung, die den Einzelnen zur Unterwerfung unter das so genannte Gemeinwohl zu zwingen sucht.


 

Links indessen empört sich gegen die Autorität ein Subjektivismus, Individualismus, der das Ich entfesseln möchte, die Freiheit in schrankenlosem Wettbewerb zu verwirklichen sucht und die Willkür zum Gesetz der Gemeinschaft erhebt. Ganz ähnlich stehen einander die Gegensätze von Materialismus und mönchischer Schwärmerei gegenüber, sowie von religiöser Ungläubigkeit und veralteter Religion.

Einen harmonischen Ausgleich sehe ich in einer Weltanschauung, die ebenso in der physischen Natur wie in unserem Gemüt den Werdegang des höchsten Wesens erkennt und verehrt, die in der Materie den Geist spürt und auf diesem Wege das Mittel findet, die materielle Natur immer mehr in den Dienst der besten Geistwerte zu stellen, die im Einzelwesen die Interessen des Ganzen zur höchsten Geltung zu bringen sucht, die des Menschen Selbstbestimmung auf die allgemeine Ordnung hinlenkt, aber den Sinn für Ordnung nur aus der freien Überzeugung entwickelt.

Dr. Bruno Wille

 



[1] Ausführlicheres über meine Weltanschauung siehe in meinem Buche „Offenbarungen des Wacholderbaumes“. Auch mein Roman „Die Abendburg, Chronika eines Goldsuchers“ geht auf Weltanschauung und Lebensdeutung im idealistischen Sinne aus.