Freireligiöses Quellenbuch 1.

1886

 

Grundsätze der Freiprotestanten in Rheinhessen zum Zeitpunkt ihres Eintritts in den Bund Freireligiöser Gemeinden Deutschlands (1886)

 

 

I.               Zweck der Gemeinschaft

Der Zweck unserer Gemeinschaft ist die Förderung wahren religiösen Lebens im Einklang mit der fortschreitenden wissenschaftlichen Forschung sowie der gesamten Kulturentwicklung der Gegenwart.

II.             Was ist Religion?

Religion ist das Leben der Seele in Gott oder Geistesgemeinschaft des Menschen mit Gott. Im religiösen Verhältnis wird die Empfindung des Menschen zu klarer Überzeugung und zu einer inneren Gewissheit, dass eine ewige Vernunft, welche unser Verstand nur als Geist zu denken vermag, das Weltganze geordnet hat und nach unverbrüchlichen Gesetzen regiert. Auf dieses Bewusstsein gründen wir die Lehren über Menschenpflichten, Sittlichkeit und Nächstenliebe, deren gewissenhafte Befolgung allein uns als die Betätigung wahren religiösen Lebens gilt.

III.           Was verstehen wir unter Gott?

Wir erkennen Gott als den ewigen und allgegenwärtigen Geist im Weltall. Zugleich ist uns Gott das Ideal, Urbild und Quelle alles Guten, Wahren, Vollkommenen. Gott ist die Liebe. Jede andere Vorstellung von Gott wünschen wir dem persönlichen Bedürfnis, dem Empfinden und Denken des Einzelnen anheimgestellt.

IV.           Unsere Stellung zu Jesus und seiner Lehre

Jesus von Nazareth gilt uns als der größte Reformer auf religiös-sittlichem Gebiet. Die Sittenlehren, die uns als von ihm gegeben in den Evangelien des Neuen Testaments überliefert sind, werden in ihrem geistigen Gehalt und religiös-sittlichen Grundgedanken von uns als die Grundlage des menschlichen Gesellschaftslebens angesehen. Zur Erfüllung dieser Sittenlehren die Kinder zu erziehen und anzuhalten, erachten wir als die wesentliche Aufgabe unseres Religionsunterrichts, dessen Hauptbestreben es sein muss, durch Weckung und Stärkung aller im Menschen vorhandenen Kräfte zum Guten auf das Gemüt des Kindes einzuwirken.


 

Hand in Hand mit dieser vornehmen Aufgabe der religiösen Erziehung geht die Befreiung des Geistes von jeglichem religiösen Vorurteil, von Wahn-, Wunder- und Aberglauben sowie von dogmatischen Festsetzungen irgend einer der bestehenden Kirchen. Daher sind Aufklärung des Verstandes und Erleuchtung der Vernunft gerade auch in der Frage unserer Stellung zu Jesus Forderungen, die zu erfüllen schon dem religiösen Jugendunterricht zufällt.

Wir verwerfen, als dem echt religiösen Fühlen wie dem vernünftigen Denken in gleicher Weise widersprechend, die in den Kirchenversammlungen der ersten christlichen Jahrhunderte festgestellte und in den Kirchen des katholischen und evangelischen Bekenntnisses heute noch geltende Lehre von der Gottheit Christi in jeder Gestalt, in welcher Umdeutung oder Auslegung sie auch erscheinen mag. Ebenso verwerfen wir die Lehre von der Dreieinigkeit, die als altkirchliche Festsetzung heute noch in den meis-ten evangelischen Landeskirchen in Geltung steht, wie auch das so genannte apostolische Glaubensbekenntnis, dessen Formeln wir weder bei religiösen Handlungen noch bei unseren Gottesdiensten zur Anwendung bringen.

Sonach gestaltet sich unsere Stellung zu Jesus und seiner Lehre zu einer entschieden freien: Jesus ist nicht Gott, sondern er erscheint uns in voller Klarheit als Mensch, wahrer Mensch, darum wie kein Sterblicher irrtumsfrei, doch ein religiöser Genius, ein Befreier von religiösem Zwang und pharisäischer Werkgerechtigkeit, ein Mensch, wahrhaft fromm und wahrhaft frei, ein Held unter den religiösen Helden der Menschheit.

V.             Die Stellung des Menschen in der Welt

Der Mensch erscheint uns in seinem äußeren Werden nach als Schöpfung der Natur, daher unterworfen denselben Gesetzen, welche die fortschreitende Wissenschaft in ihren gesicherten Ergebnissen als für alles Geschaffene maßgebend erkannt hat und immer mehr erkennen wird. Der Mensch hat sich seit Jahrtausenden oder noch größeren Zeiträumen aus niederem Dasein heraus entwickelt und gelangt zu immer größerer Vollkommenheit.

VI.           Der Zweck des Menschenleben in der Natur

Den Zweck des Menschenlebens finden wir in dem Streben nach Gottes- und Selbsterkenntnis und immer größerer Vollkommenheit auf allen Gebieten des Lebens.

In diesem Streben wird die Menschheit durch den in ihr waltenden Trieb nach Vollkommenheit unterstützt und immerfort bestärkt.


 

Hierin, in diesem Streben, liegt für uns zugleich die Möglichkeit zur Erlösung der Menschheit aus aller geistigen und zugleich religiösen Umnachtung.

VII.         Mittel zur Fortentwicklung der Menschheit auf dem Gebiet der Religion und Sittlichkeit

 

Die Hebung des religiösen und sittlichen Lebens allein von der Verstandesaufklärung zu erwarten, halten wir für verfehlt. Wir sind vielmehr der Überzeugung, dass die geistige Fähigkeit der Menschen nur zu erreichen ist durch die Erziehung jedes Einzelnen zu jener Herzensbildung, die darin wurzelt, den natürlichen menschlichen Charakter, dessen Grundlage die Selbstsucht ist, umzuwandeln und an seine Stelle die Liebe zu den Mitmenschen und das Bewusstsein von der Menschenwürde als Beweggründe für die menschlichen Handlungen zu setzen. Denn nur derjenige kann wahrhaft frei genannt werden, der in allen seinen Gedanken und Handlungen sich von den beiden genannten Beweggründen leiten und bestimmen lässt.

VIII.       Welterklärungsversuche

Eine dogmatische Erklärung über Entstehung und Bestand des Weltalls zu geben, kann in keiner Weise weder unsere Absicht noch Aufgabe sein. Diese Fragen als rein wissenschaftliche und daher auch lediglich mit den Mitteln der Wissenschaft zu beantwortende sind der unbeschränkten Freiheit des Einzelnen und seinem Streben nach wissenschaftlicher Wahrheitserkenntnis zu überlassen.

 

 

 

 


 

1888

Grundsätze der humanistischen Gemeinde Berlin

Aus:

„Menschenthum“

Sonntagsblatt für Freidenker

- Organ des Deutschen Freidenker-Bundes -

Nr. 37, 17. Jahrgang, Gotha, 9. Sept. 1888,

Herausgeber August Specht

 

Vorwort

Wir sind weit entfernt, eine Art Glaubensbekenntnis aufstellen zu wollen, und zu meinen, dass ein solches die Zustimmung weiter Kreise finden würde und finden könnte. Wir verweisen vielmehr einen Jeden auf das Recht seiner persönlichen Überzeugung, freilich aber auch auf die Pflicht, dieselbe an dem wissenschaftlichen Bewusstsein der Zeit überhaupt zu prüfen und zu läutern. So ergibt sich naturgemäß auch für mehrere und viele eine durchaus freie Übereinstimmung und Gesinnungsgenossenschaft selbst in den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens. Eine solche Gemeinsamkeit findet auch in den nachstehenden Grundsätzen unserer Welt- und Lebensanschauung ihren Ausdruck, in der wir uns mit recht vielen Gesinnungsgenossen zusammenzufinden zu hoffen.

Grundsätze

1.              Wir nennen unsere Gemeinde eine humanistische, im Gegensatz zu den religionistischen Gemeinden. Wir verstehen unter dem Religionismus* die alte gefühlsmäßige Weltvorstellung mit ihren Fantasiegebilden und der darauf beruhenden Sittlichkeit und Religiosität. Der Humanismus ist uns dagegen die fortschreitende Vernunft- und wissenschaftsgemäße Welterkenntnis und die darauf sich bauende Sittlichkeit oder Humanität.

2.              Während die Religionisten zumeist ihren Blick auf ein vermeintliches Jenseits mit seinen Freuden und Leiden richten und dort erst ihre eigentliche Bestimmung zu erreichen hoffen, anerkennen wir nur das irdische Leben für den Menschen und diesen selbst als dasjenige von allen Wesen der Erde, welches schon auf ihr zur höchsten menschlichen Würde und Seligkeit berufen und befähigt ist.

3.              Das denkbar höchste und vollkommenste Wesen überhaupt - von


 

den meisten Religionen als Weltschöpfer der Welt gedacht und Gott genannt – ist für uns die unendliche, ewige Welt selbst mit ihren mannigfaltigen Kräften und unveränderlichen Gesetzen in uns und außer uns. Dieses Allwesen ist in seiner Unbedingtheit nicht völlig zu begreifen, aber auch nicht völlig unbegreiflich, sondern mehr und mehr zu begreifen!

4.              Die Welt oder Allnatur, der Urgrund allen Seins und auch unseres Lebens ist für uns die einzige Quelle, aus der wir unsere Erkenntnis schöpfen. So tritt für uns an die Stelle der so genannten Gotteskunde (Theologie) die Weltkunde (Kosmologie) und an Stelle der Gebote Gottes die Gesetze der Natur, von deren Erkenntnis und Befolgung unser Glück und Geschick abhängt.

5.              Das höchste Naturgesetz im Menschen, durch das wir uns zur Selbsterlösung und Versöhnung zu erheben vermögen, ist das Denkgesetz oder der Verstand, in seinen höheren Entwicklungsstufen Gewissen und Vernunft genannt. Diese geistige Macht steht in Abhängigkeit und Wechselwirkung mit dem Gefühl und der Sinnlichkeit des Menschen, weshalb deren vernunft- und naturgemäße Pflege auch von geistig-sittlicher Wirkung ist.

6.              Das Denkgesetz, auch Bewusstsein genannt, sagt uns – und zwar je höher entwickelt desto klarer und eindringlicher – was wahr, recht und schön ist. Eine übervernünftige Wahrheit und eine übernatürliche Offenbarung derselben erkennen wir nicht an. Die Aufstellung unbedingter (absoluter) Sittengesetze halten wir für unzuträglich, weil sittlich gefährlich. Das Schönste, was der Einzelne darzustellen vermag, ist eine freie, harmonische Persönlichkeit und ihre harmonische Eingliederung in das Gesamtleben.

7.              Als höchstes kultürliches d. h. geistig-sittliches Erzeugnis des Erdenlebens überhaupt erachten wir den wohlgeordneten menschlichen Verband, an dessen zeitgemäßer Vervollkommnung das Menschengeschlecht naturnotwendig sich unaufhörlich abmüht. Von der Ordnung (Organisation) der menschlichen Gemeinschaft hängt das Wohl und Wehe der Einzelnen ab; andererseits ist aber auch von den Gliedern der Gesellschaft diese selbst mit ihren Einrichtungen abhängig.

8.              Auf dem Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen beruhen seine gesellschaftlichen Pflichten und Rechte, deren richtige Erkenntnis und Ausübung die Gesellschaftsmoral (Sozial-Ethik) ausmachen. Das höchste Gesetz und Ziel derselben ist das Gemeinwohl. In seinen Dienst erklären und verklären sich alle Gegensätze des Lebens, wie Gebundenheit und Freiheit, Verzicht, Genuss, Leid und Lust, Furcht und Hoffnung usw.


 

9.              Als eine bedeutsame natürliche und kultürliche Macht zur Pflege und Ausbreitung der Humanität erachten wir nächst dem Staat ein wohlgeordnetes Gemeindeleben. In ihm ist unser Bemühen zunächst darauf gerichtet, die Gesetze der Vernunft und Natur immer mehr zu begreifen und auch anderen begreiflich zu machen. Als einen überaus wichtigen Zweig dieser Bildungsarbeit erkennen und pflegen wir den humanitären Jugendunterricht zur Unterstützung der Familienerziehung in unserem Geiste (Was wir in dieser Richtung an Rechten und Erfolgen gegenüber der theologischen Erziehung erringen, das gewinnen wir für die gesamte Volksbildung als feste Grundlage des Gemeinwohls.).

10.          Wir sind uns zwar bewusst, dass der Religionismus mit seinem Konfessionalismus eine natürliche Entwicklungsstufe der menschlichen Geisteskultur ist; wir erblicken aber auch in ihm nur noch eine zersetzende Macht des Volkslebens und ein mächtiges Hindernis für die fortschreitende Humanisierung aller Lebensverhältnisse in der gegenwärtigen Weltwende, die wesentlich sittlicher Natur ist. In diesem Bewusstsein gemeinnützigen Wirkens und gesetzlichen Mitteln beanspruchen wir als Humanisten einen gleichberechtigten Platz neben den Religionisten in Staat und Gesellschaft.

 

Nachwort

Nachdem schon im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert der Humanismus sich gegen den Religionismus zielbewusst erhoben, und im achtzehnten Jahrhundert unter den Gebildeten weitere Bahnen gebrochen hat, fasste er in neuerer Zeit auch in breiteren Schichten des Volkes Wurzeln, nämlich in den freien Gemeinden Deutschlands. Dieselben wollten zwar und wollen meistens noch „religiös“ – wenn auch freireligiös – sein, aber der Schritt von freireligiös zu religionsfrei ist wohl nur eine Frage der Zeit und von dem „Deutschen Freidenker-Bund“ auch bereits vollzogen worden.*

Auch unsere Gemeinde gedenkt so wenig um das Wort religiös wie konfessionell zu streiten und nennt sich daher humanistisch.

Bei unserem mit diesem Wort bezeichneten Bemühen um edles Menschentum und um Mitarbeiter dafür setzen wir unsere Hoffnung zunächst auf die zunehmende Einsicht und Tatkraft jener, die gleich uns innerlich mit der Kirche und Synagoge zerfallenen Gesinnungsgenossen, welche zwar politisch liberal  und  sogar radikal sich nennen,  aber für eine tiefergehende, für eine humanistisch-sittliche Reform, als Grundlage und Triebkraft jeder anderen Reform des Volkslebens noch kein Herz und kein  Verständnis haben.

Sie erklären die religiösen Handlungen für nichtssagende Formen, die sie aber ohne weiteres „mitmachen“. Sie zahlen, wenn auch mit saurer Miene, ihre Kirchensteuern und – was schlimmer ist – sie überlassen ihre Kinder und Frauen dem Einfluss der Geistlichkeit, wiewohl sie ihn oft bitter empfinden.

Solchen zwiespältigen Charakteren wird aber das Volk nicht lange mehr weder auf dem politischen noch religiösen Gebiet Gefolgschaft leisten. Es fordert, und mit Recht, bereits zu Führern Männer aus einem Guss und einem Geist, um das ganze Leben in einheitliche, humane Pflege zu nehmen.

Der Vorstand

 


 

1889

Aus:

„Menschentum“

Sonntagsblatt für Freidenker

 - Organ des „Deutschen Freidenker-Bundes“ -

Nr. 8, 18. Jahrgang, Gotha, 24. Februar 1889

Herausgeber Dr. August Specht

 

Freie Religions-Gemeinde München (anerkannter Verein)

 

 

Grundsätze

 

1.       Unser leitender Grundsatz ist: Freie Selbstbestimmung gemäß der fortschreitenden Vernunft und Wissenschaft auf allen Gebieten des Lebens.

2.       Diese Freiheit behaupten wir in der persönlichen Gedanken- und Gewissensfreiheit. Die Voraussetzung dieser Freiheit erblicken und erstreben wir in der unbedingten Lehr- und Lernfreiheit.

3.       Wir fordern diese Freiheit nicht nur für uns, sondern als gleiches Recht für alle. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung für den Einzelnen, der nur so weit frei sein kann, als er nicht die gleichberechtigte Freiheit seiner Mitmenschen beeinträchtigt. Die Überwindung des Konfessionalismus ist nur durch die gleiche Freiheit möglich.

4.       Unsere Gemeinde ist eine religiöse. Unter Religion verstehen wir das mehr oder weniger bewusste, ewig menschliche Streben nach einem harmonischen Verhältnis zu der uns umgebenden Welt aufgrund unserer eigenen inneren Harmonie, d. h. unserer Wahrhaftigkeit und Gewissenhaftigkeit.

5.       Die Quellen der Religion sind uns Natur und Vernunft, welche wie alles unter dem Gesetz der Bewegung und Entwicklung stehen und die uns nach ihrer theoretischen Seite das Streben nach allseitiger tiefer Erkenntnis ist.

6.       Nach ihrer praktischen Seite ist uns Religion wesentlich Sittlichkeit und werktätige Liebe.

7.       Wir sind zu einer Gemeinde zusammengetreten, denn nur aufgrund einer einheitlichen gesunden Organisation ermöglicht sich ein kräftiges, gemeinnütziges Wirken und eine praktische Lösung unserer Aufgabe der religiösen Reform. Es handelt sich dabei wesentlich um Volksbildung und somit um die höchsten Güter unseres Lebens, die wir eben nur gemeinsam erringen wie besitzen können.


 

8.       Unsere Gemeinschaft hat zunächst den Zweck durch praktische Einrichtungen und Maßnahmen den Mitgliedern Gelegenheit zur allseitigen geistigen Ausbildung zu geben, insbesondere die Belehrung und Erziehung unserer Kinder in unserem Geiste zu bewerkstelligen.

 

 

 

 


Das All, das ist Er selbst

Sag an, mein Herz, wo suchst du deinen Gott?

Im Tempel nur, wo sich die Knie biegen?

Am Altar nur, wo Weihrauchwolken fliegen?

Über den Wolken, wo die Sterne glänzen?

Hinter den Sternen, wo des Denkens Grenzen?

O nein, o nein, mein „Gott“ ist überall:

Wo der Strom blaut, wo der Himmel taut,

Wo die Wolken sich jagen, wo die Nachtigallen schlagen,

Wo die Erde schweigend in Schnee sich hüllt,

Wo der Lenz aus Millionen Knospen quillt –

Ist er mit nah!

Im freien Geist ist er am herrlichsten da,

Wo die Liebe blüht, wo Gedanken wundervoll entstehen,

Wo die Seelen miteinander gehen,

Wo Begeisterung flammt und Wahrheitsmut,

Wo die Herzen ringen ums höchste Gut:

Da ist das Ewige nah, da ist „Gott“ selber da.

Hallelujah!

 

Altes freireligiöses Gedicht


 

1891

Grundsätze der humanistischen Gemeinde Berlin

mit Erläuterungen von G.S Schäfer

Lehrer und Sprecher der Gemeinde

 

Sonderdruck

Berlin 1891

 

Die im Jahr 1877 veröffentlichten Grundsätze der Freireligiösen Gemeinde zu Berlin (später Humanistische Gemeinde) erfuhren anlässlich des 25-jährigen Dienstjubiläums des dortigen Predigers, G. S. Schäfer eine Ausarbeitung in Form von Erläuterungen. Sie wurden als Sonderdruck veröffentlicht.

 

I.        Der Humanismus im Gegensatz zum Religionismus im allgemeinen

 

1.              Wir nennen unsere Gemeinde eine humanistische, im Gegensatz zu den religionistischen Gemeinden.

a)              Wir verstehen unter dem Religionismus die alte gefühlsmäßige Weltvorstellung mit ihren Fantasiegebilden und der darauf beruhenden Sittlichkeit oder Religiosität,

b)                       Der Humanismus ist uns dagegen die fortschreitende vernunft- und wissenschaftsgemäße Welterkenntnis und die darauf sich erbauende Sittlichkeit oder Humanität. c).

a)                                          Trotzdem hier der Humanismus in einen Gegensatz zum Religionismus gestellt ist, und trotzdem gerade dieser Gegensatz die prinzipielle und kulturgeschichtliche Bedeutung unserer Gemeinde ausmacht, kann und soll es doch keinem Mitglied derselben verwehrt werden, diese Grundsätze als seine religiösen zu bezeichnen, da dieselben auch die Grundlage unserer Sittenlehre (Ethik) ausmachen, Religion und Sittlichkeit aber noch vielfach als gleichbedeutend angenommen werden.

Wenn wir aber bedenken, dass fast alle Religionen bis heutigen Tages den Glauben an etwas Übernatürliches einschließen, während der Humanismus ihn von vorne herein ausschließt, so können wir füglich von Religion wenigstens im geschichtlichen Sinne nicht mehr sprechen. Die Klugheit, welche früher zur Erreichung gesetzlicher Duldung notwendig war: solche und ähnliche Anschauungen  Religion  zu  nennen, benötigt sich heute nicht mehr,


 

nachdem im deutschen Reich Religionsfreiheit erlangt und gesetzlich verbürgt ist.[1] Auf ein zahlreiches Gefolge muss gleichwohl eine neue Bahnen brechende Partei lange verzichten können, ohne an ihrem Erfolg in Zukunft zu verzweifeln.

b)                                          Der Gegensatz der beiden Weltanschauungen und Kulturprinzipien ist also zunächst ein seelischer (psychologischer), nämlich der von Gefühl und Verstand, von Glauben und Wissen, von Fantasie und Wirklichkeit – relative Gegensätze, welche eigentlich nur Entwicklungsstufen des menschlichen Geistes im Einzelnen und im Ganzen der Menschheit bezeichnen. Das auf dem Gebiet der Religion vorherrschende Gefühl, welches wieder unvermittelte Gegensätze wie Glauben und Zweifel, Liebe und Hass, Hoffnung und Furcht einschließt, erzeugte, zumal von einem naturrohen Egoismus getragen, als fromme Gläubigkeit häufig widersinnige Vorstellungen und Dogmen und als Religiosität im sittlichen Sinne selbst Schandtaten und Verbrechen, so dass schon der römische Dichter Lucrez ausrief: „So viel Böses hat die Religion verüben können!“ Und neuere Denker, wie der französische Pfarrer Méllier und der deutsche Philosoph Feuerbach erklärten die Frömmigkeit oder Religiosität geradezu als eine Gewohnheits- bzw. Kinderkrankheit des menschlichen Geistes.

c)                                          Wenn auch die Vernunft nicht alle Rätsel des Lebens zu lösen vermag, so ist sie es doch allein, welche mehr und mehr den geheimnisvollen Schleier des Daseins lüftet, und indem sie etwa begangene Irrtümer aus eigener wachsender Kraft verbessert, verbürgt auch nur sie allein den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft. Wir sind indessen weit entfernt davon, das Gefühl in seiner himmelstürmenden, beseligenden Macht zu unterschätzen oder gar zu unterdrücken; wir wollen es vielmehr nur unter die veredelnde Leitung der höheren Kraft der Vernunft stellen, zu seiner eigenen Läuterung und Harmonie, wie zur Harmonisierung der äußeren Dissonanzen und Gegensätze, und somit zum Heil des gesamten Lebens. Wenn z. B. die christliche Religion als ihr höchstes Gebot eine Liebe fordert, die alles glaubt, duldet und hofft, so kann wahre Humanität eine solche Liebe allerdings weder verlangen noch gewähren. Sie ist eben nicht mehr vernünftig, nicht menschenwürdig. Unsere Losung sei und bleibe vielmehr:

Denke, fühle, handle, aber mit Verständnis! Misslingt´s – wage es wieder, nur mit mehr Erkenntnis!

2.              Die  Religionisten  richten zumeist  ihren  Blick  auf  ein vermeintliches Jenseits mit seinen Freuden und Leiden, indem sie dort ihre eigentliche Bestimmung zu erreichen hoffen.

a)              Wir anerkennen nur das irdische Leben für den Menschen und diesen selbst als dasjenige Wesen der Erde, welches schon auf ihr zur höchsten menschlichen Würde und Seligkeit berufen und befähigt ist. b).

a)              Auf Grund der fantastischen Vorstellung von der Trennung der Seele und des Leibes im Tod und auf Grund der natürlichen Unzufriedenheit mit dem Leben und seinen unbegriffenen Gegensätzen wie Recht und Unrecht, Glück und Unglück, Tod und Leben konnte leicht der kulturfeindliche Aberglaube an ein Jenseits zum Ausgleich an die diesseitigen Gegensätze entstehen und im Interesse geistlicher wie weltlicher Machthaber ausgenutzt werden. Dieser unklare Seligkeitstrieb, welcher dem Jammertal (Pessimismus) den himmlischen Freudensaal (Optimismus) entgegensetzte, führte folgerichtig zu unheilvoller Weltverachtung, Weltentfremdung und Weltflucht.

Im tieferen Grund beruht diese Erscheinung wieder auf der Selbstverachtung, zufolge einer falschen Sünden- oder Moraltheorie. Die wunderlichste und widerlichste Entartung des Wohlseinstriebes zeigte sich auf dieser Entwicklungsstufe jedoch darin, dass derselbe noch das Sündenbewusstsein, den „Sündenpfuhl“ mit einer gewissen Wonne ausstattete und die Selbsterniedrigung noch als Knechtseligkeit empfand, wie es mittelalterliche und religiöse Lieder zur Genüge dartun. So nahe vermögen sich auch im Bereich des Gefühls die äußersten Gegensätze zu berühren, aber es geschieht krankhaft und krampfhaft, nicht in der natürlichen, befreienden Weise vernünftiger Erkenntnis.

b)              Dem religionistischen Zwiespalt (Dualismus) der Weltanschauung gegenüber sucht der Humanismus zur Einheit (Monismus) derselben und zur Harmonie des universellen wie individuellen (persönlichen) Lebens zu gelangen. Die zunehmende Einsicht in den Werde- und Weltprozess, nach seiner Gesetzmäßigkeit und Heiligkeit, ergibt uns jenes Würdegefühl und Wertbewusstsein, von dem Lessing erfüllt war, als er ausrief: In unserer Erleuchtung besteht im Grunde unsere ganze Seligkeit! – Also zurück vom Himmel zur Erde mit unserem Hoffen und Sorgen! Arbeiten wir für ein menschenwürdiges Dasein, nicht für ein engelhaftes Dortsein! 

„Tor, wer dorthin sein Auge blinzelnd richtet - ,

Sich über Wolken seinesgleichen dichtet!

Er stehe fest und schaue hier sich um!

Dem Tüchtigen ist diese Welt nicht stumm,

Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!“     Goethe


 

II.       Der Humanismus als Naturalismus

3.              Das denkbar höchste und vollkommenste Wesen überhaupt – von den meisten Religionen als Schöpfer der Welt gedacht und Gott genannt – ist für uns die schrankenlose (absolute) Welt selbst, mit ihren mannigfaltigen Kräften und unveränderlichen Gesetzen in uns und außer uns.

a)              Dieses All-Wesen ist in seiner Unbedingtheit nicht völlig zu begreifen, aber auch nicht völlig unbegreiflich, sondern mehr und mehr zu begreifen. b).

a)                                 Die religionistische Vorstellung von einem absoluten und doch persönlichen Gott ist die dunkle Ahnung der heute klarer erkannten logischen Notwendigkeit von der Absolutheit d. h. Schrankenlosigkeit und Unbedingtheit des Weltalls (Kosmos, Universum). Dieselbe besteht wesentlich in der Raum- und Zeitlosigkeit, welche eigentlich schon die Ursache- und Wirkungslosigkeit des Alls als solches einschließt. Um den Glauben an einen persönlichen Gott-Schöpfer glaubhafter zu machen, bedienen sich die Religionsdiener noch immer des offenbaren – eigentlich polizeiwidrigen – Trugschlusses, dass wie alles Einzelne auch das Ganze einen Urheber haben müsse. Diese Irreleitung geschieht auch immer noch mit dem Erfolg, dass selbst halbwegs gebildete Leute dieselbe zum Schaden für Hirn und Herz lebenslang nicht überwinden. Goethe begründet unsere Anschauung mit den einfachen Worten: „Wer das Höchste will, muss das Ganze wollen.“

Wer dieses Weltganze oder All-Eins-Sein Gott nennen will, mag es tun, aber ein Gottgläubiger (Theist oder Deist), der zu seinem Gott beten kann, ist er im geschichtlichen Sinne so wenig wie der Religionist. (S. 1a).

b)                                 Während der Supranaturalist seinen übernatürlichen Gott nach seinem Wesen und Willen für absolut unbegreiflich erklären muss, gereicht es dem Naturalisten zu erhebendem Bewusstsein, dass er seinen Gott, nämlich die Natur mit ihren Gesetzen mehr und mehr begreifen und, in dem Maße als dies geschieht, sich auch sogar dienstbar zu machen vermag. So wird aus dem einseitigen Gottesdiener auch ein Gottesbeherrscher.

Obgleich nun der Naturalist ebenso wie sein Gegner bei dem jeder Spekulation sich aufdrängenden Absoluten (Ewigen und Unendlichen) am Ende aller Begriffe und Vorstellungen angekommen ist, so wird er sich doch wohl hüten an diesem gefährlichen Wendepunkt des Bewusstseins, bei dem der religiöse Glaube am erfolgreichsten einsetzt, nun der Fantasie freien Lauf und von ihr seinen Verstand so missbrauchen zu lassen, dass er ohne hinreichenden Grund etwas für wahr und gut hält und demgemäß sein ganzes Leben einrichtet.

Er wird vielmehr den großen Verzicht auf die Allwissenheit ohne Gemütsbedrückung mit dem Bewusstsein leisten, dass er das zum Heil wirklich notwendige auch wissen kann, und dass auch der fundamentale aber verschiebbare Gegensatz von Wissen und Nichtwissen in unserem Bewusstsein seine tiefe sittliche Bedeutung hat, den Lessing andeutete, indem er „den erarbeiteten Zweifel der mühelos geoffenbarten Wahrheit vorzog.“

4.              Die Welt oder Allnatur, der Urgrund alles Seins und Lebens, ist für uns auch die einzige Quelle, aus der wir unsere Erkenntnis schöpfen.

a)              So tritt für uns an die Stelle der so genannten Gotteskunde (Theologie) die Weltkunde (Kosmologie) und an Stelle der Gebote Gottes die Gesetze der Natur, von deren Erkenntnis und Befolgung unser Glück und Geschick abhängt. b).

a)              Gegenüber den verschiedenen „zum Teil sich widersprechenden“ übernatürlichen Offenbarungen und Religionen anerkennen wir nur die eine unversiegliche und untrügliche Quelle der Wahrheit: die Allwirklichkeit. Die Vernunft ist im Grunde nur das Mittel aus dieser Quelle die Wahrheit zu schöpfen. Diese selbst ist wieder nichts anderes als unsere Vorstellung von der Wirklichkeit, soweit sie mit derselben, d. h. mit den Dingen nach ihren Ursachen und Wirkungen übereinstimmt.

- Kann der Offenbarungsglaube dem Menschen nur in Gnaden von Gott geschenkt werden, so wird die Naturerkenntnis nur durch Arbeit und Studium erworben und gewonnen. Ist aber schon „der Glaube nicht jedermanns Ding“, wie der Apostel sagt, so ist es das Wissen allerdings erst recht nicht. Dem Humanisten kann es allerdings nicht schwer werden, sich zu entscheiden, wenn an ihn die Aufforderung ergeht: Wähle! Glauben oder Denken soll dir Glück auf Erden bringen. Dort wird dir´s ein Herrgott schenken; hier musst du es selbst erringen.

b)              Wie verkehrt die Religion theoretisch und praktisch den Menschen erziehen musste, geht daraus hervor, dass sie ihm gewöhnlich den Himmel und nicht die Erde zur Heimat machte und folglich auch die Himmelskunde als die eigentliche Heimatkunde betrieb. Indem wir die Weltkunde als die fundamentale und universale Wissenschaft, d. h. als die Wissenschaft und Sache der Menschheit überhaupt erklären, wird sie uns zugleich in ihrer tieferen  Betrachtung  zur  Philosophie ,  welche sich eine Weltanschauung auferbaut, die den Menschen und sein Geschlecht zum Höchsten erhebt und zum Schönsten gestaltet, die ihn zu seinem eigenen Versöhner und Erlöser, mit einem Wort, zu seinem eigenen Gott macht. Bisher haben die Schulen sich die Naturerkenntnis überhaupt beeinträchtigen lassen müssen, anstatt sie zum Fundament eines wahrhaft befreienden Unterrichts zu machen. Noch immer haben die Völker ihre schwersten und heiligsten Kämpfe um das Recht der Welt- und Wahrheitserkenntnis zu führen, das eigentlich ihr Ur- und Naturrecht ist, wie es Alexander von Humboldt den geistlichen wie den weltlichen Völkerhirten zum Bewusstsein zu bringen sucht, indem er in seinem Kosmos schreibt: „Wissen und Erkenntnis sind die Freude und die Berechtigung der Menschen. Sie sind Teile des Nationalreichtums und der Nationalmacht.“

 

III.      Der Humanismus als Rationalismus

5.              Das höchste Naturgesetz im Menschen, durch das wir uns zur Selbstversöhnung und Selbsterlösung zu erheben vermögen, ist das Denkgesetz oder der Verstand, in seinen höheren Entwicklungsstufen Gewissen und Vernunft genannt.

a)              Diese geistige Macht steht in Abhängigkeit und Wechselwirkung mit dem Gefühl und der Sinnlichkeit des Menschen, weshalb deren vernunftgemäße Leitung und naturgemäße Pflege auch von geistig-seelischer Wirkung ist. b).

a)              Wie die Natur die reale, so ist die Vernunft die ideale Macht und die Leiterin auf unserem Lebensweg. Sie ist nur die Fortsetzung der unbewussten, natürlichen Entwicklung zur bewussten, als Kultur mit ihren humanisierenden Einrichtungen und Bestrebungen. Aber nur auf Grund der elementaren Naturgesetze kann sich die wahre Kultur erheben. Was jenen im Grunde widerstreitet ist krankhafte Verbildung und wird gegenüber dem natürlichen Vorbild zum Zerrbild. Während die Verstandesbildung wesentlich auf sachlicher Erkenntnis beruht, die sich bis zu exakter (ausgemachter) Wissenschaftlichkeit erheben kann, ist das Gewissen und die Gewissenhaftigkeit vielfach nur persönliche oft nur gefühlsmäßige Überzeugung, ohne sachlich zureichende Begründung, weshalb sie auch umso eher und mehr der Gefahr des Irrtums und des Fanatismus ausgesetzt ist. Zur Versöhnung mit sich und selbst mit der Welt reicht allerdings schon die persönliche Gewissenhaftigkeit, wie jeder ehrliche Glaube und gute Wille aus; die Erlösung, d. h. die wirkliche Befreiung von einem Übel, erheischt jedoch dessen sachliche Erkenntnis nach Ursache und Wirkung.


 

- Was endlich auch die Vernunft nicht vermag, das bewirkt und besorgt schließlich die natürliche Logik, d. h. die Folgerichtigkeit oder Gesetzmäßigkeit der Tatsachen, insbesondere die des Irrtums, nämlich das Unglück und Leiden, als Zuchtmeister zur Einsicht und Vernunft. -

b)              Die natürlichen innerlichen Hemmnisse zur Entwicklung der Vernunft sind zunächst die sinnlichen Triebe und sodann die seelischen Gefühle, mit denen die Vernunft lange, und nur zu oft vergeblich um die Oberherrschaft kämpft. Der Sinnenmensch kennt eben nichts Besseres als den Sinnengenuss, der Gefühlsmensch nichts Schöneres als die Gefühlsergötzung und der Verstandesmensch mit Goethe nichts Höheres als Vernunft und Wissenschaft. – Die Religion, als Gefühl, wendet sich darum energisch gegen die sinnliche oder leibliche Seite des Lebens überhaupt und kämpft noch rücksichtsloser gegen die Vernunft, als ihre gefährlichste Gegnerin; der Humanismus dagegen gewährt der Sinnlichkeit wie dem Gefühl ihr Recht und ihre natur- und vernunftgemäße Pflege. Das ganze Leben muss eben gepflegt werden, wenn es höchste Entwicklung erlangen und voll beseligenden Genuss gewähren soll. – Maß und Art dieses Genusses hat freilich die Vernunft zu bestimmen; dabei ist aber wohl zu beachten, dass sich dieselbe nur zu leicht von den niedrigeren Mächten der Sinne und Gefühle bestechen und bestimmen lässt, weshalb auch derjenige, der sich als vollkräftiger Rationalist dünkt, über die Mahnung nachdenken mag:

Werde nicht der Sklave deiner Sinne!

Werde nicht der Narr deines Herzens!

Werde aber auch nicht der Betrogene deines Verstandes! –

 

6.              Das Denkgesetz, auch Bewusstsein genannt, sagt uns – und zwar je höher entwickelt desto klarer und eindringlicher – was wahr, recht und schön ist. Eine übervernünftige Wahrheit und eine übernatürliche Offenbarung derselben erkennen wir nicht an.

a)              Die Aufstellung unverbrüchlicher, unbedingter (absoluter) Sittengesetze halten wir für unzuträglich, denn die sittliche Entwicklung vollzieht sich nur im Kampf innerer Gegensätze und unter der Macht äußerer Umstände, deren Beherrschung nicht immer in unserer Gewalt steht.

b)              Das Höchste und Schönste, was der Einzelne darzustellen vermag, ist eine sittlich-freie, harmonische Persönlichkeit.c).

a)              Wenn auch das Denkgesetz in seinem tiefsten Grund ebenso bestimmt und  unveränderlich  ist,  wie das  „Prinzip an dem Erd  und Himmel hängen“, so vervollkommnet es sich doch im Verlauf seiner Entwicklung an Umfang und Tiefe. Natürlich sind damit auch die Vorstellungen und Begriffe von wahr, recht und schön, gemäß den verschiedenen Entwicklungsstufen des Geistes einer steten Änderung bzw. Vervollkommnung unterworfen. Wenn hingegen die Theologie sich gebärdet als ob sie eine Wahrheit und Weisheit dem Menschen offenbaren könnte, die außer aller Entwicklung stände, die schon absolut vollkommen, also auch „höher als alle menschliche Vernunft“ sei, so erscheint uns vielmehr alles so genannte Übervernünftige und Übernatürliche als widervernünftig und widernatürlich, mit einem Wort als Phantasterei. Was wahr sein soll, muss in unser Bewusstsein eintreten können, und was wirklich sein soll, kann seinen Bestand nur in der Natur und ihren Gesetzen haben.

b)              Mit den Vernunftgesetzen sind auch die auf ihnen beruhenden Sittengesetze der Entwicklung und Veränderung unterworfen, so dass die Sittlichkeit eigentlich als ein fortlaufender Weltprozess erscheint, dessen Ziel im Einzelnen und in der Gesellschaft der Menschen die zunehmende Lebensharmonie ist, welche Gegensätze und Dissonanzen jedoch nicht ausschließt, sondern gerade zur Förderung und Verschönerung des Lebens (auf-)fordert.

Bei dieser Notwendigkeit der Unterschiede und Gegensätze des Lebens als seinen stets wechselnden Schatten- und Lichtsätzen, und bei der Verschiedenheit der menschlichen Naturen und Bildungsstufen kann es für alle Menschen und Verhältnisse eine sittlich maßgebende und bindende genaue Bestimmung (absolute ethische Norm) nicht geben, sondern es muss vielmehr dem persönlichen Gewissen zur Entscheidung überlassen bleiben, was von zwei Übeln als das kleinere und von zwei Gütern als das größere anzusehen sei.

c)       Wenn Herder ausruft: „Nichts Größ´res konnte dir aus ihrem Herzen die reiche Gottheit geben als dich selbst“, so wollte er damit wohl nur auf die Anlage des Menschen hinweisen, welche aber entwickelt sein will und die in der Harmonie seiner Persönlichkeit besteht, aus der heraus er auch sein äußeres Leben harmonisch gestaltet. Gibt es ja überhaupt kein höheres Streben (Motiv) als das des humanisierten Egoismus!

Die innere Lebens-Harmonie zwischen Leib, Seele und Geist oder zwischen Sinnlichkeit, Gefühl und Vernunft ist jedoch nicht anders zu erreichen als dadurch, dass die letztere die eigentliche Lebensführung übernimmt und behält. Freilich kann auch der Weiseste zuweilen von der Höhe seiner Kraft uns seines Bewusstseins zurücksinken, woraus alsdann auch für ihn Dissonanzen (Störungen) geistiger und leiblicher Art sich ergeben.

 

Subjektive Sündlosigkeit d. h. Gewissenhaftigkeit liegt jedoch in der Möglichkeit, nicht nur in der Bestimmung des Menschen; da aber das sittliche Bewusstsein so leicht auf übermächtige Eigenliebe oder Ichsucht und ererbte Wahnvorstellungen sich gründet, so ist es besonders Pflicht des Humanisten, der das höchste Gesetz und den obersten Richter seines Lebens in seiner Vernunft besitzt und erblickt diese frei und unbestochen von Selbstsucht und Vorurteilen sich zu erhalten oder zu gestalten.

 

III.          Der Humanismus als Sozialismus

7.              Als höchstes kultürliches d. h. geistig-sittliches Erzeugnis des Erdenlebens überhaupt erachten wir den wohlgeordneten menschheitlichen Verband, an dessen zeitgemäßer Vervollkommnung das Menschengeschlecht naturnotwendig sich unaufhörlich abmüht.

a)              Von der Ordnung (Organisation) der menschlichen Gemeinschaft hängt das Wohl und Wehe der Einzelnen ab; andererseits ist aber auch von den Gliedern der Gesellschaft diese selbst mit ihren Einrichtungen abhängig. b).

a)              Im Reich des unbewussten Lebens ist die Organisation der Einzelwesen wie ihrer Gemeinwesen eine nahezu feststehende.

Das Menschengeschlecht zeigt dagegen in seiner individuellen wie generellen Organisation, als Persönlichkeit, Familie, Gemeinde, Staat etc. eine geschichtlich nachweisliche Vervollkommnung. Dieselbe hat zum Ziel die zunehmende Harmonie d. h. Einheit in der natürlichen Verschiedenheit des geistig-leiblichen persönlichen und sozial-politischen Lebens. Diese Lebensharmonie der Gesellschaft wird in dem Maße zunehmen, als das sittliche Rechts- und Machtbewusstsein derselben wächst, der Glaube und die Hoffnung an göttliche d. h. übernatürliche Hilfe dagegen schwindet.

Unter anderen Religionen setzte sich auch das Ur-Christentum in seinen Zwecken und Zielen wesentlich soziale Reformen, aber diese waren einseitige und die Mittel dazu jenseitige, mithin ohne Erfolg. So sagt die Bibel, Röm. 14, 17: Das Reich Gottes ist nicht essen und trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude etc.. Wir aber sagen: Das Reich Gottes ist nicht nur essen und trinken, sondern auch etc. in das Moderne übersetzt. Die soziale Reform ist nicht nur eine Magenfrage, sondern auch und zwar überwiegend, eine Frage oder Sache allgemeiner geistig-sittlicher Ertüchtigung, d. h. der Kultur überhaupt. Jesus bezeichnete auch treffend  das  geistige  Fundament  seines auf  Erden  zu gründenden Himmelreichs mit der Erklärung Math. 20, 26: „So jemand unter euch gewaltig sein will, der sei euer Diener, und wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht.“

Wenn sich nun der Papst „Knecht der Knechte Christi“ nennt, auf Grund dieses Demuts-Titels sich die absolute Herrschaft über seine Gläubigen anmaßt und auf Grund des geforderten freiwillig (!) dargebrachten Opfers des Verstandes sie auch ausübt, so ist das ein Hohn auf die soziale Organisation und Freiheit, und ein Tor ist der, der von der ganzen Hierarchie noch etwas für ihre eigene Gesundung und für die des sozialen Lebens hofft.

b)                                 Da das Gefühl oder Bewusstsein einer freien Entwicklung wesentlich das Wohl eines Menschen ausmacht, so muss zum Zweck einer solchen jede wohl organisierte Gesellschaft ihren Gliedern einen freien Verkehr untereinander und eine stete Wechselwirkung derselben mit dem Ganzen in den verschiedensten Formen ermöglichen und fördern. Bei einer solchen Ordnung und deren erziehenden Wirkung wird folgerichtig die Selbstliebe zur Nächstenliebe (der Egoismus zum Sozialismus), die Selbsthilfe zur Staatshilfe, das Staatsbürgertum zum Weltbürgertum, das Arbeitsinteresse zum Kapitalinteresse, die Frauenfrage auch zur Männerfrage etc., mit einem Wort jede individuelle Vervollkommnung zur generellen Wohlfahrt.

Hat sich erst die naturrohe Selbstsucht, wenigstens des Kerns einer  Nation,  in  der angedeuteten  Weise  zum  humanisierten  Egoismus veredelt, so braucht sie für ihre Freiheit weder von außen noch von innen, weder von oben noch von unten etwas zu befürchten. Es gibt eben kein festeres Bollwerk und Fundament für die Freiheit und Wohlfahrt eines Volkes als seine Tugend und Tüchtigkeit, eine Wahrheit, die Benjamin Franklin in die schlichten Worte fasst: „Nur ein tugendhaftes Volk ist seiner Freiheit gewachsen. Je verderbter und lasterhafter aber die Nationen werden, desto mehr bedürfen sie eines Herren und Meisters“ (auch Zuchtmeisters).

8.              Auf dem Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen beruhen seine gesellschaftlichen Pflichten und Rechte, deren richtigen Erkenntnisse und Ausübung die Gesellschaftsmoral (Sozial-Ethik) ausmachen. Das höchste Gesetz und Ziel derselben ist das Gemeinwohl.

a)              In seinem Dienst erklären und verklären sich alle Gegensätze des Lebens, wie Zuneigung und Abneigung, Gebundenheit und Freiheit, Verzicht und Genuss, Leid und Lust, Furcht und Hoffnung. b).


 

a)                                 Wie aus den persönlichen und gesellschaftlichen Trieben des Menschen seine Rechte sich ergeben, so leiten sich aus diesen wieder seine Pflichten ab, d. h. das, was zu tun ist, um zu seinem wohlverstandenen Recht zu kommen. Da der Mensch als „Gesellschaftstier“ seine höhere Bestimmung nur in Verbindung mit seinesgleichen erreichen kann, so ergibt sich als höchste Pflicht wahren Menschentums „das Streben zum Ganzen“, wie Schiller sagt, d. h. die Arbeit für das Gemeinwohl in Wechselwirkung mit dem Eigenwohl.

Dieser Gesinnung eines freien Menschen gegenüber steht der niedrige rohe Egoismus, die Selbstsucht des Sklaven, der zu allen Opfern und Leistungen, deren Nutzen über seinen beschränkten Gesichtskreis hinaus liegen, gezwungen werden muss. Wenn auch die Moral überhaupt für einen solchen von geringer Bedeutung sein mag, so ist und bleibt sie doch als Theorie die Krone aller Wissenschaft, als Praxis aber die einzige Erlöserin des Menschengeschlechts. Auch diejenigen, welche bei ihrem an sich gemeinnützigen Streben nach materiellen oder ökonomischen Verbesserungen auf die geistig-sittlichen Bildungsbestrebungen geringschätzig herab blicken, täuschen sich zu ihrem eigenen Schaden in dieser Geringschätzung, weil zu jedem tatkräftigen Verband eine gewisse Charaktertüchtigkeit seiner Mitglieder gehört. Eine Kette ist eben nicht stärker als ihr schwächstes Glied! – Ein einziger Schwächling oder Verräter oder sonstwie Niederträchtiger kann die beste Sache zu Grunde richten. Darum bezeichnet auch ein Mann und Praktiker wie Karl Heinzen als wirksamstes Mittel für alle reformatorischen Kämpfe: „das Schwert des Geistes in der Hand sittlicher Kraft“.

b)                                 Die die Welt und das Leben erfüllenden natürlichen und kultürlichen, formellen und substantiellen, absoluten und relativen Gegensätze dienen unbedingt dem unbedingten Ganzen zum Heil, seine Einzelwesen dagegen nur bedingt, d. h. im gewissen, dem so genannten rechten, Verhältnis zu einander und zum Ganzen; so dient der Tod dem Leben, das Leiden der Erlösung, alles Vergängliche dem Unvergänglichen oder Ewigen. Nur wer durchschaut durch das Wirrsal der Gegensätze bis auf ihre Tiefe, in der ihre Einheit ruht, empfindet auch ihre Harmonie, im gestirnten Himmel über uns, die Sphärenmusik Platos wie im Denk- und Sittengesetz in uns. Verstoßen kann wohl der Erdenbürger gegen ein solches Gesetz, umstoßen kann er es nicht. Es dient vielmehr alles dem Einen, was die Religionisten mystisch die Ehre Gottes, wir aber verständlicher das Heil der Welt oder der Menschheit nennen.


 

V.      Der Humanismus als Kommunalismus

9.              Als die bedeutsamste natürliche und kultürliche Macht zur Reform der Gesellschaft und zur Förderung der Humanität erachten wir nächst dem Staat ein freies, wohl geordnetes Gemeinde- und Vereinsleben.

a)              In ihm ist unser Bemühen zunächst darauf gerichtet, die Gesetze der Vernunft, Natur und Geschichte immer mehr zu begreifen und auch anderen begreiflich zu machen.

b)              Als einen überaus wichtigen Zweig dieser Bildungsarbeit erkennen und pflegen wir den humanitären Jugend-Unterricht zur Unterstützung der Familien-Erziehung in unserem Geist. c).

a)              Während der Sozialismus die ganze menschliche Gesellschaft umfasst, begreift der Kommunalismus insbesondere die weitere Gliederung und Organisation derselben innerhalb der politischen Gemeinden (Kommunen). Es handelt sich dabei um die rechte Ausgestaltung und Pflege eines freien Vereins- und Gemeinschaftslebens auf Grund der Freiwilligkeit der Bürger, dem noch eine große Entwicklung und Macht vorbehalten ist. In kleinen Verbänden (Assoziationen), im frischen friedlichen Ringen und fröhlichem Wetteifer für eigennützige wie gemeinnützige Zwecke entwickeln und veredeln sich am besten, die einzelnen (individuellen) Kräfte zum Gemeinnutzen.

b)              Es gibt eben kein höheres, beglückenderes Streben für den leiblich und geistig gesunden Menschen als die Welterkenntnis in sich zu vertiefen und weiter zu verbreiten. Es erwächst daraus auch der größte praktische Nutzen für den Einzelnen wie für die Gesamtheit. Die Kenntnis und Erkenntnis der allgemeinen Natur- und Vernunftgesetze schützen die Einzelnen  wie die Parteien bei ihren an sich gut gemeinten und ernst gewollten Bestrebungen auf dem sozial-politischen wie geistig-sittlichem Gebiet vor so vielen Missverständnissen und Missgriffen, welche allerdings zu Misserfolgen, Täuschungen und zur Erschlaffung im Vereinsleben führen.

Nur Weltverständnis führt zur Weltverständigung

Und Rechtserkenntnis nur zur Unrechtsbändigung!

c)              Solange im öffentlichen Jugendunterricht mit den religionistischen Prinzipien nicht entschieden gebrochen wird, ist und bleibt es Sache der freieren Geister dies bei der Erziehung ihrer Kinder in Rücksicht auf den Gemeinnutzen wie eigenen Nutzen zu tun. Es gilt nämlich der Mitwelt durch Beispiele und Erfahrungen zu beweisen, dass man auch ohne Furcht vor Gott und Teufel und ohne Hoffnung auf jenseitige Belohnung gute Menschen und Bürger erziehen kann, ja ohne diese Hilfsmittel niedrig-egoistischer Vorstellungen sicherer zum Gemeinsinn erziehen wird.

Auf Grund der errungenen staatlichen Freiheit in und von der Religion überhaupt, steht es eigentlich schon in der Macht unseres Volkes religionslose Schulen sich zu verschaffen, wie es bereits benachbarte Völker getan haben. Der Religionismus liegt jedoch dem Volk noch so schwer und lähmend in allen Gliedern, dass die Vorarbeit für das humanistische Zeitalter noch lange den wenigen „Menschen mit dem vollen Herzen und erlösenden Willen“ zufallen dürfte. Sie können es allerdings in dem erhebenden Bewusstsein tun:

Ein Mensch, ein Stand, ein Staat hat so viel Wert und Würde nur, wieviel er tut für die menschliche Erziehung und Kultur.

 

VI.     Der Humanismus als Evolutionismus

10.   Wir sind uns bewusst, dass der Religionismus mit seinen konfessionellen Parteiungen und inhumanen Bedrückungen eine natürliche Entwicklungsstufe der menschlichen Kultur ist.

a)              Wir erblicken aber in ihm nur noch eine zersetzende Macht des Volkslebens und ein mächtiges Hindernis für die fortschreitende Humanisierung aller Lebensverhältnisse in der gegenwärtigen Weltwende, die wesentlich eine sittliche Reform zur Voraussetzung wie zum Ziel hat. b).

a)                                 Das Prinzip des Evolutionismus oder der Entwicklung besteht in der Anschauung, dass alles was da ist und geschieht ein notwendiges Glied in der Kette von natürlichen Ursachen und Wirkungen (des Kausal-Nexus) ist. So ging dem Humanismus der Religionismus und diesem der Naturalismus voraus, wie die Pflanzenblüte aus dem Stängel und dieser aus der Wurzel sich entwickelt. Diese Einsicht schützt logischerweise den Humanisten vor allem Fanatismus und Zelotismus, welcher dem Religionisten in dem Maße seiner Rückständigkeit natürlicherweise eigen ist, wie es z. B. die päpstliche Verurteilung der religiösen Duldung (Toleranz) überhaupt ausdrücklich bezeugt.

Neben Religionsfreien wird es wohl Religionisten verschiedener Arten gemäß der Verschiedenheit ihrer Geisteskräfte und deren Entwicklung noch lange und mit dem Recht privaten Beliebens vielleicht immer geben. Indem sie der Krücken des Glaubens, der Furcht und Hoffnung für ihren Lebenshalt und Lebensgang nicht entbehren können, wollen sie auch davon nicht lassen. Auch wird kein  verständiger  Mensch sie ihnen  entreißen  wollen, zumal im freien Staat das Recht des Einen, gläubig und selbst übergläubig zu sein, die Voraussetzung für das Recht des Anderen ist, nur seiner Vernunft zu folgen. Aus diesem gleichen Recht der verschiedenen Religionsparteien ergibt sich aber die notwendige staatsrechtliche Regelung ihrer gegenseitigen Duldung.

Die hieraus sich allmählich weiter entwickelnde religiöse Gleichgültigkeit bildet den natürlichen, friedlichen Übergang zum religionslosen (areligiösen) Zeitalter. So geht alle Entwicklung zunächst durch die Entzweiung.

b)                                 Trotzdem alle Religionen und Konfessionen mit allen Mächten und Mitteln die Einigkeit ihrer Gemeinschaft auf dem Grund eines gleichen, allein wahren und allein seligmachenden Glaubens zu wahren suchen, und dadurch die Köpfe und Herzen ihrer Bekenner verengen und oft auch verwüsten, gelingt dies ihnen glücklicher- und natürlicherweise doch nicht für alle Zeit. Ist ihre Zeit abgelaufen, so finden sich schon Geister, welche alle Schranken durchbrechen, ihr Ur- und Naturrecht – Glaubens- und Gewissensfreiheit – zurückfordern und damit Stifter einer neuen Zeit werden, die sich natürlich ohne lange und tiefgehende Kämpfe nicht durchsetzen lässt, dadurch aber sittlich auch vorbereitet wird.

In einer solchen Weltwende, wie auch die gegenwärtige ist, kommen alle Interessenten und Mächte, auch die höchsten und tiefsten, nämlich die sittlichen, ins Spiel, da alle Reformen und Mühen im tiefsten Grund doch nur die geistig-sittliche Ertüchtigung des Menschengeschlechts zum Ziel haben. Andererseits müssen aber auch alle tiefer gehenden Reformbestrebungen von einem gewissen sittlichen Geist insbesondere vom Gerechtigkeitssinn ausgehen. Da dieser bei den Erwachsenen durch die heutige Erziehung meist schon verzogen [und] durch die so genannte Wiedergeburt schwerer heranzubilden sein dürfte als bei Kindern von Geburt an, so wollen wir weniger Nachdruck legen auf die Mahnung Jesu: „Werdet wieder Kinder“, sondern auf die Forderung: „Fangt bei den Kindern an, wollt ihr das Himmelreich der Gerechtigkeit und Freiheit auf dieser Welt gründen.“

Der Charakter und zugleich die Gefahr unserer Übergangszeit ist der sittliche Indifferentismus als natürliche Folge der wankend und unhaltbar gewordenen alten religiös-sittlichen Grundlagen, welche  uns die mosaisch-christliche Theologie und Weltanschauung darbot. Diese verliert täglich mehr bis in die tiefsten Schichten des Volkes Glauben und Achtung und somit die sittlich-leitende Kraft. Das Eine, was darum Not tut und zum Fundament jeder anderen Reform gemacht werden muss ist, wie schon angedeutet, eine mit dem Religionismus entschieden brechende, auf dem Grund des Humanismus aufbauende Ethik, und das andere, was noch mehr Not tut, ist eben die areligiöse Erziehung des Volkes zur Humanität von Kindesbeinen an.

Diejenigen nationalen und internationalen Reformparteien, welche diese fundamentalen Forderungen, diese allerdings gefährlichen Klippen, für die Gunst der Massen, umgehen wollen und sich etwa nur auf leibliche so genannte wirtschaftliche Verbesserungen beschränken möchten, verrichten nur halbe und oberflächliche Arbeit, die auch nur als taktischer Notbehelf vorübergehend eine gewisse Berechtigung hat.

 

Schlusssatz

Im Bewusstsein unseres gemeinnützigen Wirkens mit gesetzlichen Mitteln beanspruchen wir als Humanisten einen gleichberechtigten Platz neben den Religionisten in Staat und Gesellschaft.

Die Religionisten aller Schattierungen behaupten natürlich, dass ihr Wollen und Wirken allein ein gemeinnütziges und heilvolles sei. Wir können ihnen dagegen in gewisser Hinsicht ein solches auch zugestehen. Trotzdem sie nämlich wesentlich aus religiösen Gründen und somit nur durch fremde Autoritäten – Papst und Gott - bedingt, die weltlichen Gesetze befolgen, so wird dies in der Gesellschaft im religionistischen Zeitalter immer ersprießlicher sein, als wenn ihre rückständigen Mitglieder jene Gesetze und Einrichtungen gar nicht beachten. Wahrhaft freie, gemeinsinnige, humane Förderung hat ein Staat jedoch nur von Bürgern zu erwarten, die von der Heilsamkeit seiner Anordnungen an sich durchdrungen sind und diese nicht von Glaubenssatzungen und jenseitigen Zwecken abhängig machen, welche in den Bereich der Fantasie gehören.

Im Streit der Meinungen darüber, ob der beste zukünftige Himmelsbürger auch der beste Mensch und Staatsbürger sei sowie überhaupt darüber, wie lange noch der Religionismus nur „ein Vehikel“ (Beförderungsmittel) der Staatenleitung sein und bleiben soll, hat allerdings das nationale Bewusstsein und Gesetz zu entscheiden, und das spricht noch gegen uns. Wir können uns demselben wohl umso eher fügen und unseren Kampf in gesetzlichen Grenzen umso zäher führen, als uns auch die Hauptbedingungen für die nationale Entwicklungsfreiheit gesetzlich verbürgt sind.

Das deutsche Volk wird aber auf Grund derselben derjenigen humanen Einrichtungen sich immer erfreuen können, deren es wert und würdig ist.

- Ende -


 

1885 - 1910

 

Gedanken aus Predigten und Vorträgen

von Georg Schneider

(Prediger der Freireligiösen Gemeinde Mannheim)

 

aus:

 Dr. Karl Weiß

„125 Jahre Kampf um Freie Religion“

bearbeitet von Dr. Lilo Schlötermann

Mannheim 1970.

 

 

Unbedingte Toleranz und Freiheit

Wir wollen die Andersgläubigen nicht belächeln oder gar bespötteln; mag ein jeder glauben, was er will, wenn er dadurch selig zu werden hofft. Das ist sein Recht, und das habe ich zu ehren. Wir sind nicht Herzenskünder und wissen nicht, ob der Glaube, zu dem der Einzelne sich bekennt, nicht auch seine innerste Überzeugung sei.

Überzeugung aber verlangt Achtung. Es ist nicht freireligiös, sich über die religiöse Überzeugung seines Mitmenschen lustig zu machen oder ihn deswegen zu verfolgen, zu hindern oder ihm zu schaden. Wer in Glaubenssachen die unbedingte Freiheit für sich in Anspruch nimmt – und das ist oberster Grundsatz der freireligiösen Gemeinden – muss dieselbe Freiheit auch den anderen ungeschmälert zukommen lassen. „Wie ich mein Recht geehrt sehen möchte, ehr´ ich auch des anderen Recht“. Das ist die rechte Sprache des Freireligiösen; das entspricht dem Grundsatz der unbedingten Toleranz.

Persönliche Verantwortlichkeit

„Gestattet die ewige Vorsehung, die alles zuvor bestimmt, die Hände in den Schoß zu legen und der Dinge zu harren, die da kommen sollen, dabei denkend, was Gott tut, das ist wohl getan“, so fordert unsere Ansicht die ganze Tatkraft heraus, feuert uns an, nicht des Geschickes Sklave zu sein, sondern sein Gebieter zu werden, soweit unsere Kraft es irgendwie zulässt.. Spricht der Gläubige: „Auf Gott und nicht auf meinen Rat will stets mein Glück ich bauen“, so sagt der Freireligiöse: „Selbst ist der Mann! Nutz treu das Heut´, so bringt dir es heute, morgen Glück. Gewissenhafte Arbeit und treue Pflichterfüllung sind unsere Sakramente“. – „Wer hat die wahre Religion? – immer nur der, welcher auf Grund einer wie auch immer gearteten Welt- und Lebensanschauung, wenn sie nur seiner Überzeugung entspricht, sich von ganzem Herzen getrieben fühlt,  in  treuer  Pflichterfüllung  seine  eigene  wie  seiner  Mitmenschen


 

Glückseligkeit zu schaffen. Nur wer mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all seinen Kräften will, nur der ist der Gute, nur der hat die rechte Religion“.

Von der ewigen Kraft

Wir haben auch in dem ewig wahren Buch der Natur gelesen und manches Kapitel desselben mit staunender Bewunderung betrachtet. O, wie sind deine Werke so groß und so viel; du hast sie alle weislich geordnet und die Erde ist voll mit deiner Güte! Aber was wir nicht gefunden haben, ist – der persönliche Gott; statt dessen aber eine Kraft, die das Leben schafft und erhält; eine Kraft, die da wirkt und nach ewigen Gesetzen und bestimmten Zwecken, eine Kraft, die uns alle durch ihre Gesetze erfreut; und wir haben sie gefunden, nicht gesondert und getrennt von der Welten Unendlichkeit, sondern eins mit ihr, ewig eins, wie Körper und Geist in der kleinen Welt, Mensch genannt.

Unsterblichkeit

Wir wirken nicht nur für dieses kurze Erdenleben, sondern wir arbeiten an unserer Unsterblichkeit, wissend, dass keine unserer Taten verloren ist, sondern weiter wirkt von Geschlecht zu Geschlecht, auch wenn der Name ihres Urhebers längst der Vergessenheit anheim gefallen ist. Lasst uns Gutes tun und darin nicht müde werden, das ist Grundsatz unserer freireligiösen Gemeinden.

 


 

1892

 

Grundsätze der Deutschkatholischen (freireligiösen)
Gemeinde Offenbach

 

Beschlossen in der Vorstandssitzung

am 10. März 1892

 

1.              Der Zweck unserer Gemeinde ist die Förderung religiösen Lebens und religiöser Erkenntnis, frei von Glaubens- und Gewissenszwang, gemäß der fortschreitenden Wissenschaft.

Ihre Mittel dazu sind: Belehrung und Erbauung durch Vorträge und religiösen Unterricht der Jugend zur Gemütserhebung und sittlichen Vervollkommnung.

2.              Religion ist uns das Bewusstsein und die Betätigung des Gottesbegriffs. – Die erhabene, unerklärbare schöpferische Kraft im Weltall, die in unwandelbaren Naturgesetzen sich bekundet, nennen wir Gott.

3.              Die von Jesus von Nazareth aufgestellten Sittenlehren erscheinen uns als die Forderungen des eigenen menschlichen Herzens.

4.              Der Mensch erscheint uns als edelstes Geschöpf der Natur. Es bedurfte Jahrtausende zu seiner Entwicklung aus dem niederen Zustand zu seiner heutigen Daseinsstufe.

5.              Den Zweck des Menschenlebens suchen wir im Erdenleben. Hier sollen wir unsere Pflichten erkennen und üben, indem wir die edlen Keime in uns zu geistiger Schönheit und sittlicher Vollkommenheit entwickeln. Der Tod ist uns nicht Vernichtung, sondern nur Übergang in andere Form. Vergänglich ist nur die Erscheinung der Dinge, ewig das Wesen (Wesenheit) derselben.

6.              Mittel zur Fortentwicklung der Menschheit sind Belehrung und Erziehung:

-   zur sittlichen und geistigen Veredlung;

-   zum Üben des Guten aus Liebe zum Guten;

-   zum Fernhalten des Schlechten aus Hass gegen denselben;

-   zur Bekämpfung der Leidenschaften;

-   zur Befolgung der Stimme des Gewissens, des Verstandes und der Vernunft.

7.              Unsere Weltanschauung beruht auf den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung und Erkenntnis. Das Weltall, die Summe alles dessen, was vorhanden ist, ist grenzenlos, unendlich, ewig. Des Weltalls Stoff nehmen wir in der Form von Körpern wahr, die


 

fortdauernder Veränderung unterliegen auf Grund unabänderlicher Naturgesetze.

8.              Der Kultus unserer Gemeinde ist durchaus frei. Einen besonderen Priesterstand kennen wir nicht. Einen Unterschied zwischen Geistlichen und Nicht-Geistlichen gibt es bei uns nicht. Wir haben Prediger und Religionslehrer, welche die Jugend in unseren Grundsätzen erziehen und zur Betätigung derselben im Leben anregen, sowie der ganzen Gemeinde Führer zu höherer Erkenntnis sein sollen.

 

 

 

 

 

 


Ich glaube, mit „toten“ Gemeinde-Gliedern ist keiner Kirche und deren Geistlichen gedient, mit Leuten, welche ihnen zwar bei den in ihrer Familie vorkommenden Trauungen, Taufen, Konfirmationen und Beerdigungen eine Verbeugung machen, außerdem aber sich dem Gemeindeleben gänzlich fernhalten, ja als „freigesinnte Männer“ wohl abends beim Schoppen auf die „Pfaffen“ schimpfen, im übrigen aber, wie man so sagt, „Gott einen guten Mann sein lassen!"

 

 

1895

Emil Pirazzi,

Sohn des Gründers der

Frei-religiösen Gemeinde Offenbach

 

 


 

1895

 

Aus den Grundsätzen der Deutschkatholischen (freien religiösen) Gemeinde zu Frankfurt a. M.

 

aus: „Unitarische Freie Religion“

Quellensammlung zur Geschichte

ihrer Entfaltung in Frankfurt/M.

1970

 

 

Der Zweck unserer Gemeinde ist die Förderung wahren religiösen Lebens gemäß den Grundsätzen der fortschreitenden Vernunft und Wissenschaft.

Religion ist uns die Empfindung und das Bewusstsein der Welteinheit und der Zusammengehörigkeit des Menschen mit der Welt.

Auf dieses Bewusstsein gründen wir die Lehren über Menschenpflichten, Sittlichkeit und Nächstenliebe, deren gewissenhafte Erfüllung uns als die Bestätigung wahren religiösen Lebens gilt.

Gott ist uns das Ideal alles Guten, Rechten, Wahren und Vollkommenen in der Welt. Jede weitere Vorstellung bleibt jedem einzelnen überlassen.

Jesus von Nazareth gilt uns als der größte Reformator auf dem religiös-sittlichen Gebiete.

Die Sittenlehren, die uns als von ihm gegeben in den Evangelien des Neuen Testaments überliefert worden, werden auch heute noch von uns als die Grundlage des menschlichen Gesellschaftslebens angesehen.


 

1895

 

Carl Scholl

über das gemeinsame Ziel

des Bundes Freireligiöser Gemeinden

aus: „Der Freireligiöse“,

Juni 1959

 

Wir freien Gemeinden haben uns die Mitarbeit an den religiösen Reformbestrebungen als unsere besondere Aufgabe gewählt; - durch sie wollen wir mithelfen am Aufbau des Reiches, das seit Jahrtausenden der Menschheit als ihr zu verwirklichendes Ideal vorschwebte; - die Mitwirkung zur Herstellung dieses Reiches mittelst der religiösen Reformarbeit ist darum das letzte und höchste Ziel, die letzte und höchste Aufgabe, die wir uns gesteckt, - und in dieser unserer Aufgabe haben wir uns auch nicht beirren lassen durch den Einwand, dass wir Mühe und Zeit an etwas verschwenden, das sich längst überlebt, - mit dem deswegen kein halbwegs aufgeklärter Mensch sich in unseren Tagen mehr abgebe.

Dieser Einwand ist erhoben worden und wird heute noch von einer Seite, von der man es nicht für möglich halten sollte, von Seiten solcher, die sich zu den Freiesten und Aufgeklärtesten rechnen, weil sie nicht nur allem tatsächlichem Aberglauben entsagt, sondern auch alles, was Religion heißt, über Bord geworfen haben. Es sind die, welchen die Religion überhaupt – gleichviel wie sie sich nenne -, weil sie mit übernatürlichen, bloß eingebildeten Dingen sich beschäftige und dadurch den Menschen von der Beschäftigung mit den notwendigsten, nächstliegenden abziehe, Aberglaube, Schwindel, Lug und Trug ist.

Als gäbe es nicht auch eine Religion, die sich nicht mit übernatürlichen Dingen, sondern ganz ausschließlich und ausdrücklich sogar mit der handgreiflichen Wirklichkeit beschäftigt, mit der wirklichen Welt, ihrer Erkenntnis, der Erkenntnis ihrer Gesetze, der Erkenntnis der zumal dem Menschen innewohnenden Gesetze, und mit der Mahnung und Aufforderung, diesen Gesetzen als den ewig-göttlichen Weltgesetzen, sich in Freiheit zu unterwerfen, im Einklang mit ihnen das Leben einzurichten.

Es ist nicht wahr, wenn man uns nachsagt, wir hätten die Religion über Bord geworfen, wir hätten keine und wollten keine! Wir wollen Religion, aber wir wollen vor allem, dass sie wahr sei; wir wollen, dass sie nicht bloß als ein Erbstück der Vergangenheit uns aufgenötigt werde, sondern sie unsere innerste, eigenste Überzeugung sei; wir wollen, dass der Missbrauch  aufhört,  der mit ihr getrieben wird, - wir  bekämpfen die
Lüge, und ganz besonders die offizielle Heuchelei ...


 

Wir wollen Religion, wir wollen Sittlichkeit, aber wir wollen sie nicht länger gegründet auf unhaltbare, von der Wissenschaft und unserer ganzen Bildung überwundene, unwahre Voraussetzungen, unwahre Glaubensvorstellungen, nicht gegründet auf unwahrer Grundlage, - wir wollen, dass diese Grundlage und mit ihr unsere Religion wahr sei.

 

1895

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Gott schläft als Stein,

atmet als Pflanze,

träumt als Tier

und erwacht als Mensch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

1898

 

Leitfaden für den Religionsunterricht

in freireligiösen Gemeinden

 

Georg Schneider

Mannheim, 1898

 

Der Inhalt der Religion

I.                    Der Mensch und seine Mitmenschen

1.       Des Menschen erste Pflicht ist, sich selbst zu erkennen.

2.       Zur Selbsterkenntnis kommt der Mensch, indem er über sich selbst nachdenkt.

3.       Er erkennt sich als das vollendetste Geschöpf.

4.       Dies beweist:

1.     Die herrliche Ausbildung seiner sämtlichen Organe, besonders des Gehirns und der Nerven.

2.     Seine Vernunft und Sprache.

5.       Von der Entstehung des Menschen wissen wir nur, dass er vor unberechenbaren Zeiträumen an verschiedenen Punkten der Erde zugleich entstand, und sich nach und nach aus tierischem Zustand zu seiner jetzigen Vollkommenheit entwickelte.

6.       Als ein Geschöpf der Natur untersteht er ihren Gesetzen, auch dem der Vergänglichkeit (Veränderlichkeit).

7.       Die ungewisse Dauer seines Lebens muss ihn bestimmen, den Anforderungen, die das Leben stellt, nach Möglichkeit Rechnung zu tragen.

8.       Die Anforderungen, die das Leben an den Menschen stellt, werden bedingt:

a.      Durch seine eigene Natur,

b.      Durch die Rücksicht auf seine Mitmenschen.

9.              Der Mensch ist von Natur Leib, Seele und Geist.

10.          Leib, Seele und Geist sind eins und voneinander untrennbar.

11.          Der Leib des Menschen besteht aus dem Knochengebilde, Muskelgebilde, Ernährungsgebilde, Blutgebilde und Nervengebilde.

12.          Das Knochengebilde ist der Träger der verschiedenen Körperteile.

13.          Das Muskelgebilde dient der Verbindung und zum Schutz der Knochen.

14.          Das Ernährungsgebilde dient der Aufnahme und Verarbeitung der Speisen und Getränke.

15.          Das Blutgebilde führt allen Teilen des Körpers die Nährstoffe zu und erhält ihm dadurch Leben, Kraft und Gesundheit.

16.          Das Nervengebilde dient zur Vermittlung der Wahrnehmungen und Empfindungen sowie zur Regelung der Muskeltätigkeit.

17.          Das Nervengebilde hat seinen Mittelpunkt im Gehirn, welches darum auch als Sitz des Gefühls- und Denkvermögens betrachtet werden muss.

18.          Das Gefühlsvermögen des Menschen nennt man auch Seele (Herz, Gemüt).

19.          Das Denkvermögen des Menschen nennt man auch Geist (Vernunft, Verstand, Gedächtnis, Fantasie, Gewissen).

20.          Der Dreiteilung der menschlichen Natur entspricht eine Dreiteilung seiner Pflichten:

1.       Möglichste Vervollkommnung des Körpers,

2.       allseitige Ausbildung des Geistes,

3.       die Bildung der Seele.

21.          Dieser dreifachen Pflicht entsprechen die drei Gebote:

1.       Mensch, du sollst arbeiten,

2.       Mensch, du sollst denken,

3.       Mensch, du sollst lieben.

22.          Das dritte Gebot umfasst alle Pflichten des Menschen gegen seine Mitmenschen.

23.          „Lieben“ heißt „Gutes tun“.

24.          Pflichten gegen seine Mitmenschen hat der Mensch, weil er auf ihre Gemeinschaft angewiesen ist.

25.          Die Gemeinschaft, welcher Art sie auch sein mag, wird allein durch Ordnung erhalten.

26.          Diese Ordnung ist nur möglich, wenn der Wille des Einzelmenschen sich dem Willen einer größeren Gemeinschaft unterordnet.

27.          Den Willen einer größeren Gemeinschaft nennt man Gesetz.

28.          Man unterscheidet:

1.       Das Gesetz des Hauses oder der Familie (Haus- und  Familienordnung),

2.       das Gesetz der bürgerlichen Gemeinde (Städte- oder  Gemeindeordnung),

3.       das Landes- oder Staatsgesetz,

4.       das Reichsgesetz,

5.       das Völkergesetz (Völkerrecht),

6.       das Naturgesetz.

29.          Es ist die Pflicht der Eheleute, sich in allen Stücken gegenseitig zu helfen, für einander zu sorgen und nach Möglichkeit einander glücklich zu machen.

30.          Es ist die Pflicht der Eltern, nach bestem Können und Vermögen für das leibliche und geistige Wohl ihrer Kinder zu sorgen.

31.          Es ist Pflicht der Kinder, durch Dankbarkeit, Gehorsam, Ehrerbietung, Fleiß und ein tugendhaftes Verhalten den Eltern immer nur Freude zu machen.

32.          Es ist Pflicht der Geschwister, ihr ganzes Leben hindurch gegeneinander freundlich, verträglich, dienstwillig und hilfsbereit zu sein.

33.          Es ist die Pflicht der Herrschaften gegen die Dienstboten, als gegen die Gehilfen der Familie, liebevoll, gerecht und gesittet zu sein.

34.          Es ist die Pflicht der Dienstboten, dass sie mit Ehrlichkeit und Treue, mit Gehorsam und Geduld, mit Aufmerksamkeit und Fleiß ihre Schuldigkeit tun.

35.          Es ist die Pflicht jedes Gemeindeglieds die Gemeindeordnung zu beachten, die Anstalten und Einrichtungen der Gemeinde erhalten und fördern zu helfen.

36.          Es ist Pflicht jedes Staatsbürgers, dem Gesamtwohl des Staates zu dienen, seine Gesetze zu achten und zu befolgen; denn er schützt sein Leben und Eigentum und gibt ihm Gelegenheit, seine körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu eigenem Wohl und zum Wohl der Gesamtheit auszubilden und zu verwenden.

37.          Es ist Pflicht jedes Menschen, allen Menschen ohne Unterschied des Glaubens und des Standes, des Volkes und des Vaterlandes behilflich, gefällig und dienstfertig zu sein.

38.          Es ist Pflicht des Menschen, die ihm nützlichen Tiere vernünftig zu pflegen und auch bei denen, die er töten muss, jedwede Quälerei und Grausamkeit zu vermeiden.

39.          Es ist Pflicht des Menschen, alle Dinge in verständiger Weise zu verwerten und nie etwas unnütz zu zerstören.

40.          Durch die allseitige und ausnahmslose Erfüllung aller seiner Pflichten betätigt der Mensch seine Gewissenhaftigkeit oder, was dasselbe ist, seine Religion.

41.          Zur Gewissenhaftigkeit leitet den Mensch sein Gewissen.


 

42.          Das Gewissen ist die innere Stimme,

a.   Die uns sagt, was Recht und Unrecht ist,

b.   die uns mahnt, das Gute zu tun und das Böse zu lassen,

c.   die uns mit Lust und Unlust erfüllt, je nachdem wie wir gehandelt haben.

 

 

II.                  Die Welt und Gott oder die moderne Weltanschauung

1.              Die Welt ist die Summe aller vorhandenen Dinge.

2.              Sie umfasst Millionen und Abermillionen von Welt- oder Himmelskörpern.

3.              Sämtliche Weltkörper befinden sich im Weltraum, gewöhnlich auch Himmel genannt.

4.              Die Welt ist unendlich in Zeit und Raum.

5.              Jedes Einzelne in der Welt aber ist endlich, das heißt es entsteht, ist dem Wechsel unterworfen und vergeht.

6.              Ein unendlich kleiner Teil vom Weltall (Universum, Kosmos) ist die Erde, auf der wir wohnen.

7.              Über die Entwicklung der Welt belehrt uns die Entwicklungsgeschichte der Weltkörper im Allgemeinen und der Erde im Besonderen.

8.              Die Weltkörper zerfallen [untergliedern sich] in Fixsterne (Sonnen), Wandelsterne (Planeten) und Kometen (Haarsterne).

9.              Die Weltkörper vereinigt man zu ganzen Systemen (Sonnensystemen).

10.          Das wichtigste Gestirn unseres Sonnensystems ist für uns der Planet Erde.

11.          Die Erde ist ein kugelförmiger Körper.

12.          Die Erde entstand in allmählicher Entwicklung während vieler Millionen Jahre.

13.          Man unterscheidet in ihrer Entwicklung fünf verschiedene Perioden:

1.       Die Periode des gasförmigen Zustandes,

2.       die Periode des feurig-flüssigen Zustandes,

3.       die Periode der Schlackenbildung,

4.       die Periode der Eruption,

5.       die Periode der Erkaltung.


 

14.          Den Beweis für das ungeheure Alter der Erde liefert die Geologie (Erdkunde) durch die Schichtungen der Erdrinde und die Versteinerungen.

15.          Das Wasser auf der Erde entstand durch Niederschlag von Dünsten aus der Atmosphäre.

16.          Die Schichtungen der Erdrinde entstanden teils durch vulkanische Vorgänge, teils durch Niederschläge mineralischer Bestandteile aus dem Wasser.

17.          Über die Entstehung des Lebens auf der Erde gibt es nur Vermutungen.

18.          Die ersten lebenden Wesen auf Erden waren vermutlich Pflanzentiere.

19.          Pflanzentiere sind solche, die wie Pflanzen wachsen, aber tierisches Leben haben und darum den Übergang vom Pflanzen- zum Tierreich bilden.

20.          Den Pflanzentieren folgten in langer Entwicklungsreihe immer vollkommenere Geschöpfe.

21.          Das vollkommenste Geschöpf, der Mensch, trat zuletzt auf.

22.          Die Zukunft der Erde ist vermutlich eine bis zu gänzlicher Erstarrung zunehmende Erkaltung.

23.          Aller Wahrscheinlichkeit haben alle übrigen Weltkörper des Weltalls eine der Erde gleiche Entwicklung.

24.          Das Weltall wird zusammen gehalten durch eine Kraft, die man gewöhnlich als „Gott“ bezeichnet.

25.          Die Menschen schufen sich im Laufe der Zeit verschiedene Götter (Wie der Mensch, so ist sein Gott).

26.          Man macht etwas zu seinem Gott, indem man es anbetet.

27.          Gegenstände einer göttlichen Verehrung durch Anbetung waren:

1.       Die Elemente (Feuer, Wasser, Luft, Erde),

2.       die Gestirne (Sonne, Mond und Sterne),

3.       lebende Wesen (Menschen, Tiere, Pflanzen),

4.       leblose Gegenstände (Fetische).

28.          Ursache einer göttlichen Verehrung durch Anbetung waren:

1.       Bange Furcht,

2.       dankbare Freude.

29.          Vollkommener als die Götter der Naturreligionen sind die Götter der Offenbarungsreligionen (Judentum, Christentum, Mohammedanismus).


 

30.          Sie lehren Gott als ein persönliches, menschenähnliches, im Himmel thronendes Wesen voll Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart.

31.          Ein solcher Gott ist uns undenkbar, weil der Begriff der Person im Widerspruch steht mit den Begriffen der Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart.

32.          Uns ist Gott:

1.       Die Kraft, die das Leben schafft und erhält (Weltkraft),

2.       der Geist, der das wirkt nach bestimmten Gesetzen und besonderen Zwecken (Weltgeist),

3.       die Liebe, die alles durch ihre Gaben erfreut (Weltliebe).

33.          Weltkraft, Weltgeist, Weltliebe sind eines und von der Welt untrennbar.

34.          Das Weltall ist Gott selber.

 

 

III.   Die Freireligiöse Gemeinde

1.              Das achtzehnte Jahrhundert schloss mit dem Zeitalter der Rationalismus oder der Vernunftreligion.

2.              Die Anhänger dieser Religion (Rationalisten) verlangten die Anerkennung des Rechts der Vernunft gegenüber dem Glauben.

3.              Die Nachfolge der Rationalisten waren in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die Lichtfreunde, auch „Protestantische Freunde“ genannt.

4.              Sie strebten nach Licht und Freiheit, nach Wahrheit und Fortschritt auf religiösem Gebiet.

5.              Da diese Bestrebungen von der Kirche nicht geduldet wurden, trennten sich diese Lichtfreunde von ihr und gründeten freie Gemeinden.

6.              Die Hauptführer dieser Bewegung waren Leberecht Uhlich, Gustav Adolf Wislicenus, Eduard Baltzer, Julius Rupp.

7.              Die ersten freien Gemeinden entstanden in Halle, Königsberg, Magdeburg, Halberstadt, Nordhausen.

8.              Mit dieser protestantischen Bewegung gleichzeitig ging eine
reformatorische Bewegung durch das katholische Deutschland.

9.              Die Ursache hierfür war die Ausstellung des sog. Heiligen Rocks zu Trier durch den Bischof Arnoldi im Jahre 1844.

10.          Diese Ausstellung veranlasste den katholischen Priester Johannes Ronge zu einem Sendschreiben aus Laurahütte [Schlesien]

vom 1. Oktober 1844.

11.          Die in diesem Sendschreiben enthaltenen Angriffe gegen die
katholische Kirche führten zur Exkommunikation Ronges.

12.          Lehrend und predigend zog er nun von Ort zu Ort, allenthalben neue, so genannte deutschkatholische Gemeinden gründend. ([erste] Breslau 1845).

13.          Diese katholischen Gemeinden einigten sich in dem so genannten Leipziger Konzil, 23. bis 26. März 1845, über „die allgemeinen Grundsätze und Bestimmungen der deutschkatholischen Kirche“.

14.          Leiter des Konzils waren Robert Blum und Franz Wigard. Von Geistlichen waren anwesend Johannes Ronge, Johannes Czerski, Karl Kerbler.

15.          Das Jahr 1859 vereinigte die freien deutschkatholischen und freiprotestantischen Gemeinden zum Bund freireligiöser Gemeinden Deutschlands.

16.          Das einende Band zwischen allen ist der Grundsatz: „Freie Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten“.

(Freireligiös heißt frei in Religion und nicht frei von Religion.)

17.          Der Bund der freireligiösen Gemeinden zerfällt in eine Anzahl von Landesverbänden.

18.          Die Rechte der einzelnen Gemeinden sind in den verschiedenen Ländern Deutschlands verschieden.

19.          Die Gemeinden sind staatlich teils anerkannt, teils nicht.

20.          Die Verfassung der freireligiösen Gemeinden ist die der christlichen Urgemeinden; sie beruht auf Selbstverwaltung.

21.          Zur Ausführung des Willens der Gemeinde, welcher in den jeweiligen Gemeindeversammlungen zum Ausdruck kommt, dient der Gemeinde-Vorstand oder Ältesten-Rat der Gemeinde.

22.          Der Gemeindevorstand verteilt unter seine Mitglieder die sich von selbst ergebenden Ämter, so das des Vorsitzenden, des Schriftführers, des Rechners, des Bibliothekars, des Ökonoms.

23.          Eine besondere Gemeindeverfassung regelt die Pflichten und Rechte jedes einzelnen Gemeindegliedes.

24.          Die Belehrung der Gemeindemitglieder, der Erwachsenen sowohl die der Kinder erfolgt in der Regel durch den Prediger der Gemeinde.

25.          Mittel der Belehrung sind öffentliche Vorträge für die Erwachsenen sowie Religionsunterricht an die Jugend.

 


 

26.          Die freireligiöse Gemeinde hat so wenig einen fest begrenzten Kultus als [ = wie] sakramentale Handlungen mit übernatürlicher Wirkung.

27.          Jede rechtschaffene Arbeit ist ihr das Sakrament, die heiligende und beglückende Handlung des Körpers.

28.          Das Streben nach allem, was wahr, schön und gut ist – das ist ihr das Sakrament des Geistes.

29.          Den Nächsten zu lieben, selbstlos und treu – das ist ihr das Sakrament der Seele.

30.          Die freireligiöse Gemeinde kennt weder Glaubens- noch Gewissenszwang.

31.          Sie beurteilt den religiösen Menschen nicht nach dem, was er glaubt, sondern nach dem wie er handelt.

32.          Gutes zu tun ohne Unterlass sowie treue und gewissenhafte Pflichterfüllung – das ist unsere Religion.

 

 



* Wir müssen gestehen, dass uns diese Wortbildungen nicht gefallen.

* Der Deutsche Freidenker-Bund gewährt seinen Mitgliedern vollkommene Gedankenfreiheit und stellt es ihrem eigenen Ermessen anheim, ob sie sich „religiös“ oder „nichtreligiös“ (religionsfrei) nennen wollen.

[1] Siehe Reichs-Gesetz vom 3. Juli 1869, wodurch „alle noch bestehenden aus der Verschiedenheit des relig. Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte aufgehoben werden.“