1862
Verfassung der
freireligiösen Gemeinde zu Berlin
Geschichte
der
Freireligiösen Gemeinde Berlin
(1845 -
1945),
erschienen
1981
§ 1
Der Zweck unserer
Gemeinde ist die selbständige, von den Einflüssen der Kirche und des Staates
freie Pflege des religiösen Lebens unter dem Schutze der gesetzlichen
Religionsfreiheit.
§ 2
Die
Religion besteht nach Auffassung der Gemeinde nicht in Lehrsätzen, Gebräuchen
und Priestertum, welchen, als eine den Menschen gegenüber stehenden göttlichen
Offenbarung, man sich gläubig unterwerfen müsste; sie besteht vielmehr im
eigenen innersten Geistesleben, welches, zur sittlichen Herrschaft sich
erhebend, die Grundlage für das ganze Tun und Lassen des Menschen wird.
Die Religion in dieser praktischen
Gestalt ist vor allem anderen die Treue gegen unsere Überzeugung von Rechten
und Pflichten. Um zu einer solchen Überzeugung zu gelangen, bedürfen wir der
Erkenntnis der Menschennatur und unseres Verhältnisses zum Weltall überhaupt
und zur Menschheit insbesondere.
Die Treue
gegen diese Überzeugung wird uns
das Bewusstsein der Übereinstimmung mit sich selbst und dadurch das
Gefühl des inneren Friedens als die wahre Seligkeit verleihen. So wird die
Religion aus einem abgeschlossenen Glauben an eine bestimmte Vorstellung von
Gott und dessen vor Alters getroffenen Veranstaltung, ein gegenwärtiges Leben
in Gott, den sie vorzugsweise in dem Geiste des Wahren und Guten und in dessen weltbeherrschender
Macht offenbart findet.
§ 3
Daraus ergeben sich die
praktischen Grundsätze,
· dass zur klaren Durchführung des religiösen Lebens freie
Selbstbestimmung für jeden unentbehrlich ist;
· dass nicht bloß Duldung (Toleranz), sondern unbedingte Anerkennung
voller Religionsfreiheit gegenseitig zu üben ist, und
· dass die Einigung der die Menschheit trennenden
Religionsparteien in dem höheren Bewusstsein des geistig selbständigen und
freien Menschentums zu erstreben ist.
§ 4
Damit weiß sich die Gemeinde in
geschichtlichem Zusammenhang mit dem Erkenntnisgang der Menschheit, von welchem
das religiöse Bedürfnis getragen und geläutert wird. Die Gemeinde erkennt ihre
Auffassung der Religion und ihr Streben als die notwendige Folge des religiö-
sen Fortschritts, den wir im Alten
und Neuen Testament vorfinden, und
sieht
namentlich in dem letzteren die Aufgabe und Verinnerlichung der Religion und
der daraus folgenden Vereinigung aller Menschen in wahrer Liebe vorgezeichnet.
§ 5
Hinsichtlich
des gegenwärtigen Zustandes der Religion macht die Gemeinde sehr bestimmt den
Unterschied zwischen Religion und Kirche. Um vergeistigt sich die Kirche zur
freien Religionsgemeinde, die einzig und allein auf der Macht des Geistes
beruhen will. Der freie Zusammentritt zu Religionsgemeinschaften ist die
einfachste, tatsächlich vom Volk selbst frei vollzogene Verwirklichung der so
viel verlangten „Trennung der Kirche vom Staat“.
§ 6
Die
Gemeinde sucht ihren Zweck mittels folgender Einrichtungen zu erreichen.
1.
Erbauung für Geist und Herz in feierlichen Versammlungen, vorzugsweise
durch religiös-sittlichen Vortrag;
2.
Vorträge, Vorlesungen, Besprechungen über Religionsfragen oder aus
wissenschaftlichen Gebieten mit Beziehung auf Religion;
3.
Religionsunterricht für Kinder;
4.
Religiöse Feier bei Familienereignissen, jedoch nur, wenn eine solche
gewünscht wird. Vorkommenden Falls muss die Erfüllung etwa auf sie bezüglich
gesetzlicher Bestimmungen(namentlich die Eintragung von Geburten und
Eheschließungen in ein mit öffentlicher Glaubwürdigkeit gesetzlich
ausgestattetes Register) vorausgegangen sein. Sakramente in der kirchlichen
Bedeutung gibt es für uns nicht.
§ 7 – 10
Betrifft Regularien, die nichts über die Auffassungen der
Gemeinde zum Freireligiössein aussagen. L.
Geis
1872
Unterscheidungslehren und Grundgedanken
der freireligiösen Gemeinden
von Wilhelm Hieronymi
Pfarrer der Deutschkatholischen Gemeinde Mainz
Die
Mitglieder unserer Religionsgemeinschaft sind aus den alten Gemeinschaften oder
Kirchen [aus]geschieden. Sie müssen daher nicht nur selbst wissen, warum sie
das getan [haben], sie müssen auch Rede und Antwort geben können denen, die
danach fragen. Die Antwort liegt zwar in allen unseren Reden und Schriften,
allein diese sind nicht in den Händen der Fragenden, auch sind unsere
Schriften, gleich denen des alten Bibelbuches, nach der Verschiedenheit der
Verfasser verschieden. Der Hinweis auf diese Schriften ist daher nicht eine
befriedigende Antwort.
Da
wir aber gemeinschaftliche Grundsätze haben, so muss es doch auch möglich sein,
dieselben kurz zusammengedrängt auszusprechen.
Das
längst gefühlte Bedürfnis und eine Anregung von außen waren es, was mich
bestimmte zu dem Versuch einer Antwort auf die Frage:
Wie sich unsere
Religionsgemeinschaft von den alten Kirchen unterscheidet?
1.
Die Verfassung der alten Religionsgemeinschaften oder Kirchen beruht auf
Autorität und Gehorsam.
Die
unsrige auf Freiheit und Selbstbestimmung; die alten sind unfrei, wir sind frei
in Verfassung und Lehre. „Freie Selbstbestimmung in allen religiösen
Angelegenheiten“ ist der erste Grundsatz unserer Verfassung.
Erläuterung: In den alten Kirchen ist es die persönliche
Autorität, welche regiert der Papst, die Bischöfe oder der Landesherr und die
Konsistorien. Die Gemeinden sind diesen Behörden gegenüber unmündig und
rechtlos.
Bei uns ist der Gesamtwille der Gemeinde der Ursprung aller
Anordnungen. Die Gemeinde wählt sich ihre Lehrer und Vorsteher (selbst].
Dieselben sind daher nicht Herren und Gebieter, sondern die Beauftragten, die
Diener der Gemeinde.
Unsere Prediger sind nicht göttlich berufene Priester,
Seelenhirten und Seelsorger, sondern Wortführer und Lehrer in der Gemeinde. Sie
sind nicht gebunden an überlieferte Satzungen und Buchstaben, sondern an
Überzeugung und Gewissen. Der Unterschied von Geistlichen und Laien hat bei uns
aufgehört.
Die einzelnen Mitglieder unserer Gemeinschaft sind verbunden
durch die Gemeinde. Die Gemeinden sind untereinander verbunden durch
Landesversammlungen und die Bundesversammlung aller Gemeinden in Deutschland.
Durch diese unsere freie Verfassung sind wir nicht nur im Einklang mit
den Freiheitsbestrebungen unserer Zeit, sondern auch mit den ersten
christlichen Gemeinden, welche eine solche Verfassung besaßen, derselben aber
im Laufe der Jahrhunderte durch ihre Priester und Bischöfe beraubt wurden.
2.
Die alten Religionsgemeinschaften leiten den Ursprung ihrer Lehren aus
einer übernatürlichen göttlichen Offenbarung ab, wir aus der natürlichen
menschlichen Vernunft.
Erl.: Alle Religionen sind ohne Zweifel Erzeugnisse der
menschlichen Vernunft und Geisteskraft.
Sie sind begründet worden durch Religionsstifter. [Es waren]
weise Männer des Altertums. Diese Männer waren zumeist durch ihre Geistesgaben
schon vor der Menge ihrer Zeitgenossen ausgezeichnet, aber noch mehr schienen
sie ihren Nachkommen erhaben und erlangten [dadurch] endlich ein göttliches
Ansehen. Man hielt die von ihnen überlieferten Lehren, welche der unwissenden,
des Lesens und Schreibens unkundigen Menge zum Teil unverständlich waren, nicht
mehr für menschliche Weisheit, sondern für göttliche Wahrheiten und
Offenbarungen göttlicher Geheimnisse.
Die Priester förderten diesen Glauben der Völker, weil sie
dadurch als Verwalter göttlicher Geheimnisse und als „Diener des göttlichen
Wortes“ selbst in höherem Licht erschienen.
Der Offenbarungsglaube ist daher nichts anderes als ein Irrtum der
Völker über den Ursprung der Religion. Dieser Glaube der Völker an den
übernatürlichen Ursprung und an die unmittelbar göttliche Offenbarung der
Religion ist aber einer der verderblichs-ten Irrtümer, welche die Menschheit je
getragen hat. Denn, wenn die Religion unmittelbar von Gott geoffenbart ist, so
kann es nur eine wirkliche Offenbarung [und damit] nur einen wirklichen Glauben
geben.
Und es ist [nur] natürlich, dass jedes Volk seine Religion
für diesen göttlichen, allein wahren und seligmachenden Glauben hielt und
den der anderen verdammte.
Daher erhob sich denn unter
den Völkern und den Parteien endloser Streit über die rechte göttliche
Offenbarung und den wahren Glauben. Ein Streit, welcher bei der Rohheit der
Völker und der Herrschaft ihrer Priester zu Verfolgungen [sowie] zu zahllosen
Glaubensmorden und Glaubenskriegen geführt hat.
In den alten Kirchen besteht dieser Glaube an die göttliche Offenbarung
der Religion noch fort und wird öffentlich in Schule und Kirche gelehrt,
obgleich Millionen denkender Zeitgenossen diesen Glauben nicht mehr teilen.
Wir haben diesen Glauben gänzlich aufgegeben. Wir sind zurückgekehrt
vom Glauben zum Denken, [also] von der Offenbarung zur Vernunft. Wir sind zur
Vernunft [und damit] zu uns selbst gekommen.
3.
Die Lehre der alten Religionsgemeinschaften ist fortschrittslos und
unwandelbar, die unsere ist fortschreitend und entwicklungsfähig.
Erl.: Aus dem Glauben an den unmittelbar göttlichen Ursprung der
Religion ergibt sich folgerichtig auch der Gedanke, dass die Religion, wie von
Gott geoffenbart, vollkommen und fertig sei. Daher müsse sie unwandelbar stets
dieselbe bleiben. Der Mensch dürfe an diesem göttlichen Gnadengeschenk nichts
ändern [oder] bessern, [und] dass [jede] Änderung und [Ver]besserung Ketzerei,
[also ein] Abfall vom Glauben und [damit eine] Empörung wider die
gottgeoffenbarte Wahrheit sei.
Diesem Gedanken gemäß suchte nun die Priesterschaft den Glauben in
seiner alten Gestalt oder, wie sie sagte, die „Reinheit der Lehre“ zu erhalten.
Verbündet mit der Staatsmacht, bestrafte sie die Ketzerei mit Feuer und Schwert
[und] schuf Inquisition und Scheiterhaufen.
Während aber die Religionslehre oder der Glaube der Völker unwandelbar
feststand, schritt die Lebenserfahrung und die Erkenntnis der Völker fort. Es
entwickelte sich neben dem Gauben die Wissenschaft. Und so entstand der heutige
Zwiespalt im Geistesleben der Völker, der unmittelbare Widerspruch zwischen dem
stillstehenden Glauben und der fortschreitenden Erkenntnis. [Es entstand der
Widerspruch] zwischen Religion und Wissenschaft.
Wir haben diesen Widerspruch aufgehoben.
4.
Das Wesen der Religion der alten Religionsgemeinschaften ist der Glaube.
Das Wesen unserer Religion ist Erkenntnis.
Erl.: Im hohen Altertum war noch kein Unterschied zwischen dem
religiösen Glauben der Völker und ihrer Lebenserfahrung [bzw.] ihrer Erkenntnis
[oder] ihrem Wissen. Ihr Wissen war ihr Glaube und ihre Religion. Die
Religionsbücher der alten Völker umfassten das ganze Gebiet der damaligen
Vorstellungen von der Welt, der Natur [und] dem Menschenleben. Sie erhalten die
dunklen Anfänge aller heutigen Wissenschaften.
Das Alte Testament erzählt die Geschichte, die Gesetze, die
Dichtungen [Psalmen], die Reden
[Propheten], [ja] überhaupt
die Überreste der Literatur des israelischen Volkes. Da aber die
Priester zugleich die Gelehrten der Völker waren und diese Lehren
niedergeschrieben haben, so wurden die überlieferten Lehren der Vorzeit
gleichsam das Eigentum der Priester und verwandelten sich (so] in religiöse
Satzungen und Dogmen. Die Priester verlangten Glauben an diese Lehren, und dem
unwissenden, nicht selbst denkenden Volk fiel es nicht schwer, das, was die
Priester lehrten, für wahr zu halten und zu glauben. Der Glaube wurde zum Wesen
der Religion. Und da der Glaube an die alten Lehren und Vorstellungen, zumal in
unserer Zeit, nur noch den Unwissenden, welche die neuzeitlichen Lehren nicht
kennen, möglich ist, so fördern noch die heutigen Priester und
Religionsgelehrten unter dem Namen der Religion die Unwissenheit und wollen
„die Wissenschaft zur Umkehr“ zwingen. Sie verkünden den Glauben der Toten und
verdammen die Erkenntnis der Lebendigen.
Das hat bei uns aufgehört. Wir gebrauchen das Wort Glaube nur da, wo
eine eigene Wahrnehmung und ein Wissen nicht möglich ist, also von
geschichtlichen Überlieferungen oder von Vorstellungen, welche der Erfahrung
und dem Wissen unerreichbar sind. Wir verlangen nicht Glaube, sondern
Erkenntnis und freies eigenes Denken. Unsere Religion ist unsere Überzeugung.
Der Glaube bekehrt, die Erkenntnis belehrt. Des Glaubens Herrschaftsmittel sind
Gebote und Satzungen, der Erkenntnis Lehrmittel sind Gründe und Beweise.
5.
Die alte Religionslehre gründet sich auf die alte Weltanschauung, die
unsrige auf die neue.
Erl.: Da die alte Weltanschauung, wie sie zur Zeit Moses und zu
Christi Zeiten unter den Völkern herrschend war, noch heute in den Volksschulen
gelehrt wird, so ist bekannt:
Der Himmel ist ein festes Gewölbe, die Sterne daran [die]
Himmelslichter, die Erde eine Scheibe und feststehend [und] die Sonne das
„große“ Licht, über die Erde sich bewegend. Über die Erde [ist] der Himmelsraum,
darin die Götter, die Engel und die Seeligen, unter der Erde die Unterwelt und
die Verdammten.
Dagegen die neue Weltanschauung: Das Weltall ist ein unendliches
Ganzes, voll Leben und Bewegung. Die Sterne sind Weltkörper, größer zum Teil,
vielleicht auch schöner als unsere kalte, lichtlose Erde. Die Erde ist eine
Kugel in ordnungsvoller Bahn um die Sonne kreisend.
Die alte Weltanschauung beruht auf dem täuschenden Augenschein, die
neue auf Erforschung und wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Natur erscheint in
der alten Weltanschauung als ein wüstes regelloses Reich voll Wunder und
Zauber, voll Engel, Dämonen und Teufel; in der neuen [dagegen] als ein
ordnungsvolles, nach ewigen göttlichen Gesetzen [sich] wandelndes System des
Daseins.
Des „Glaubens liebstes Kind ist das Wunder“. Das Kind der Erkenntnis
ist das Naturgesetz. Die alte Weltanschauung ist schon vor dreihundert Jahren
gefallen, und da die meisten Lehrsätze der alten Religionslehre auf diese alte
Weltanschauung gegründet sind, so sind auch diese alten Lehren für jeden
einzelnen Zeitgenossen gefallen und unmöglich geworden, unmöglich selbst für
ein unterrichtetes Kind. Unmöglich ist z. B. der Glaube an eine Himmelfahrt da,
wo kein Himmel mehr ist. Unmöglich ist jeder Glaube an ein Wunder da, wo man
die ewige Ordnung der Natur verstanden hat. Der Blick in das unendliche
lebensvolle Weltall, welches uns die neuere Wissenschaft eröffnet hat, ist
größer (und] erhebender als der Blick der alte Völker in die beschränkte Welt
ihres Glaubens.
Die neuzeitliche Religion, wie sie in den Wissenschaften gegründet ist
und wie wir sie zum Verständnis des Volkes zu bringen
suchen, ist nicht nur wahrer, sondern auch erhebender und tröstlicher als die
Religionen der alten Welt. Das Licht der Erkenntnis ist heilsamer und
erfreulicher als das Dunkel des Glaubens.
6.
Der Zweck der alten Religionsgemeinschaften liegt im Himmel; der Zweck
der neuen liegt in dem Erdenleben. Die Priester der alten Kirche sind
Seelenhirten und Seelsorger, die Prediger unserer Gemeinden sind Volkslehrer.
Erl.: Was ist die alte Kirche [und] was will sie?
Sie ist nach ihrer eigenen Erklärung eine Heils- und Erlösungs-anstalt.
Sie will ihre Mitglieder für den Himmel erziehen und vorbereiten. [Sie] will
ihnen durch Glauben an ihre Lehren, durch die Anbetung Gottes und die Übung der
frommen Bräuche, der Sakramente und Heilsmittel die Vergebung der Sünden und
die ewige Seligkeit erwerben. Die Kirche ist eine Vorbereitungsanstalt auf
Erden für den Himmel [und] eine Versicherungsanstalt der ewigen Seligkeit.
Nachdem nun aber jener Himmel der Götter und der Seligen vor dem
Geistesblick der Völker hinweg genommen ist, muss die Religion notwendigerweise
vom Himmel zurückkommen zur Erde, d. h. die neuzeitliche Religionsgemeinschaft
ist eine Erziehungs- und Bildungsanstalt für die Erde. Ihr Zweck ist, die
Menschen durch Unterricht und Lehre zu veredeln, sie vernünftiger, sittlicher
und dadurch glücklicher zu machen und das Zusammenleben der Menschen in ein Reich
des Friedens und der Brüderlichkeit zu verwandeln (und] die Menschen
fortschreitend zu erlösen.
7.
Die alten Religionsgemeinschaften betrachten die Erlösung der Menschen
als eine einmal geschehene Tatsache, wir betrachten dieselbe als ein
fortschreitendes Geschehen. Die alte Kirche will den Menschen erlösen von
gedachten und geglaubten, wir von wirklichen Übeln.
Erl.: - Nach der Kirchenlehre ist Jesus Christus der alleinige
Erlöser. Er erschien als Gottessohn im Fleisch, ward Mensch, trat zur Zeit des
römischen Kaisers Augustus im jüdischen Land auf, ließ sich von den Juden
martern und kreuzigen [und] besänftigte dadurch den Zorn Gottes. Er trug als
Unschuldiger die Strafe der schuldigen Menschen und erlöste dadurch die
Menschen, [jedoch] nicht alle, sondern nur die „kleine Zahl der Auserwählten“,
welche den rechten Glauben haben.
Die Erlösung der Kirchengläubigen liegt also in der Vergangenheit, in
einem Punkt der Zeit, an einem Ort des Raums. Dahin schauen sie gläubigen
Blickes zurück, glauben an die Erlösung und handeln nicht für dieselbe. Die
Welt bleibt [nämlich] wie sie war, ungebessert, unerlöst. Und von welchen Übeln
will die Kirche sie erlösen? Von der Erbsünde, Hölle, Teufel und ewiger
Verdammnis, also von Übeln, welche sie selbst zuvor erdacht hat.
Dagegen streben wir die Menschen
zu erlösen von wirklichen Übeln, von Unwissenheit, Aberglauben und Rohheit und
von den Übeln des geistunterdrückenden Priestertums. Und diese Erlösung
geschieht nicht plötzlich und auf einmal, nicht wunderbar und zauberhaft,
sondern fortschreitend und immer in natürlicher Wiese. [Sie geschieht] nicht
durch Glauben und Hoffen, sondern durch unser Tun, durch unser Arbeiten und
Mitwirken. Die Erlösung [ist] eine fortschreitende Selbsttat der Menschheit.
Der Entwicklungsgang der Menschheit [ist] ein Aufgang zum Licht.
8.
Die alten Religionsgemeinschaften betrachten die Welt als eine Maschine,
einen Mechanismus. Wir betrachten dieselbe als ein unendliches lebensvolles
Ganzes, einen Organismus.
Erl.: - Das Weltall ist ein Unendliches. Das Unendliche kann der
Mensch nicht ausdenken; er muss seine Vorstellung stets entlehnen von dem
Endlichen und Wahrnehmbaren.
Die alte Religion entlehnt ihre Vorstellungen von einer Maschine, einem
menschlichen Kunstwerk. Sie lehrt, Gott habe im Anfang der Dinge die Welt aus
Nichts geschaffen, durch einen einmaligen Schöpfungsakt. Die Welt gehe nun nach
den von dem Schöpfer in sie gelegten Kräfte wie ein Uhrwerk ihren Gang. Der
Schöpfer lebe, wie ein menschlicher Künstler, nicht in, sondern neben und außer
dem Werk. Er beaufsichtige die Welt und leite ihren Gang nach seiner Vorsehung.
„Gott regiert die Welt“. Zuweilen greift Gott aber auch ausnahmsweise in den
Gang der Dinge ein. Ein solch unmittelbarer Eingriff in die Weltordnung ist ein
Wunder. Das Wunder ist allen alten Religionen gemeinsam.
Dagegen erscheint uns die Welt als ein geordnetes System des Daseins,
ein Organismus, bewegt und beseelt durch ein innewohnendes unendliches und
ewiges Leben. Die Schöpfung ist nicht ein einmaliges Geschehen, sondern ein
fortwährendes und ewiges Geschehen, eine stetige Entwicklung, ein ewiges Werden
und Anderswerden. Nur das Einzelne hat Anfang und Ende seiner Erscheinung, das
Ganze ist ewig.
Der Gedanke einer Schöpfung aus Nichts ist ein Irrtum, ebenso wie der
Gedanke einer Rückkehr ins Nichts. Die schöpferische Macht und Kraft des
Weltalls, das Leben, die Seele, den Geist des Alls – wir nennen es mit dem Wort
der Religion, mit dem Wort der Völker: Gott.
9.
Die alten Religionen denken Gott als ein für sich seiendes, von der Welt
getrenntes, persönliches Wesen. Wir denken ihn als das der Welt innewohnende
schöpferische Leben, das Allwesen des Lebens.
Erl.: - Der Name und das Wort „Gott“ ist von den Priestern aller
Zeiten und aller Völker oft missbraucht worden. Im Namen und
„zur größeren Ehre Gottes“ haben christliche Priester des Mittelalters
ihre schwärzesten Verbrechen an der Menschheit begangen.
Deshalb vermeiden manche Denker der Neuzeit das Wort „Gott“ und wählen vielfach
andere Bezeichnungen. Keine ist genügend, um das unendliche Wesen des Lebens
ausreichend zu bezeichnen.
Aber selbst diejenigen, welche man Atheisten nennt, haben einen Gottesbegriff,
und sei auch nur „der Stoff“ ihre Gottheit.
Jeder Mensch weiß, dass er sich nicht selbst ins Leben gerufen [hat],
dass er nicht infolge des eigenen Willens lebt, nicht aus eigenem Willen stirbt
[und] nicht aus eigenem Willen Schmerz und Leid erduldet. [Jeder spürt], dass
es also eine Macht gibt, in der „wir leben, weben und sind“. Wer das weiß und
fühlt, der „glaubt an Gott“, ja er weiß Gott, mag er jene ewige Macht nun
Jehova, Brahma, Allah, Gott [oder] Natur nennen. Es ist Name, und jeder denkt
sich diesen Begriff nach der eigenen Geistesfähigkeit und Denkkraft.
Wir denken Gott nicht als ein von der Welt getrenntes Einzelwesen. Wir
denken ihn als das Allwesen, das unendliche Leben des Weltalls, welches alles
Einzelleben aus sich erzeugt und in sich zurücknimmt, denn das Weltall
erscheint uns als ein lebendiges unendliches Ganzes. Das „Allwesen“, das soll
nicht heißen, dass wir dieses sichtbare Weltall selbst Gott nennen, denn der
Begriff Gott ist ein Ursächlichkeitsbegriff, ein abstrakter, wie der Begriff
Kraft.
Was wir sinnlich wahrnehmen, ist immer nur eine Erscheinung [oder] die
Wirkung. Die Ursache denken wir. Wir sehen (nur] die Veränderungen [und] die
Bewegung in der Körperwelt. Was sie hervorbringt, nennen wir Kraft. Wir sehen
die organischen Verwandlungen einer Pflanze, was sie hervorbringt, nennen wir
das Leben der Pflanze.
Was die Kraft, was das Leben ist, kein Glaube, keine Weisheit offenbart
es uns. Wir sehen immer nur die Offenbarungen, [d. h.] die Erscheinungen der
Kraft und des Lebens. Doch sehen wir auch, dass die Kraft nie ohne Stoff, das
Leben nie ohne Organismus ist. Und obwohl wir wissen, was die Kraft oder was
das Leben ist, so sind wir doch durch das Denkgesetz unseres Geistes auf die
Begriffe getrieben. Selbst diejenige altneue Philosophie, welche man
Materialismus nennt, weil die den Stoff, die Materie der Körperwelt, als das
Grundwesen aller Dinge ansieht, ist genötigt, zu dem Begriff Stoff noch den
anderen Begriff Kraft hinzuzunehmen, sonst bleibt ihr „Stoff“ tot. Stoff und
Kraft, beides sind abstrakte Begriffe. Die Materialisten glauben zwar, sie
wüssten, was der Stoff [der Stoff an sich] ist, weil sie ihn sähen. Sie wissen
es nicht, trotz aller chemischen Elemente. Sie sehen den Stoff nicht, trotz
aller Vergrößerungsgläser. Was sie sehen, ist immer nur Erscheinung des
Stoffes, ist Körper.
Es gibt keine kläglichere Philosophie als diejenige, welche sich
einbildet, sie sei Naturwissenschaft und wisse demgemäß, was der Stoff ist,
indem sie sagt, der Stoff bestehe aus Atomen oder unteilbar kleinsten Teilchen,
welche durch ihre Annäherung oder Trennung das ganze wunderbare System des
Lebens, selbst die Erscheinungen des Selbstbewusstseins [bzw.) des Gedankens
erzeugten.
Der Begriff eines unteilbar kleinsten Teilchens ist ein logischer
Widerspruch, ein Unsinn. Die altneue philosophische Lehre, dass der Stoff nur
zu einer bestimmten Grenze teilbar sei, ist ebenso schwach als etwa die
Behauptung, dass der Raum des Weltalls nur bis zum nächsten Nebelfleck des
Himmels reiche. Dagegen ist die Chemie als Wissenschaft der Erscheinungen und
ihrer Gesetze vollkommen berechtigt, die Hypothese oder Annahme der Atome
festzuhalten. Chemische Atome oder Stoffe, welche diese Wissenschaft nicht mehr
in einfachere auflösen kann, gibt es.
Aber das Ewige, das Unendliche, im Großen wie im Kleinen, ist
unvorstellbar [und] daher nicht Gegenstand der empirischen oder
erfahrungsgemäßen Naturwissenschaft. Doch ob[gleich] wir weder wissen, was der
Stoff, noch was die Kraft ist, so sehen wir sie doch stets vereinigt. Ihr
Zusammensein erzeugt das ganze ungetrennte Dasein. So wie Stoff und Kraft stets
vereinigt sind, so [auch) Gott und die Welt. Die Welt [ist deshalb] nie ohne
Gott und Gott nie ohne die Welt. Gott ist die Welt, er ist das schöpferische
Leben, das Leben, welches in zahllosen Einzelleben sich offenbart. Daher mit
anderen Worten noch:
10. Die alte Religionslehre beruht auf dem
Gedanken der Zweiheit des Daseins (Dualismus), die neue auf dem Gedanken der
Einheit (Monismus).
Erl.: - Der Gedanke der Zweiheit zieht sich durch die ganze Welt-
und Lebensbetrachtung der alten Religion. Gott, ein Wesen für sich, er hat die
Welt geschaffen. Die Welt, ein Wesen für sich, sie wird von Gott regiert. Der
Leib des Menschen, ein selbständiges Wesen, der Geist, ein [eben]solches
selbständiges Wesen. Der Leib [ist] die Wohnung, der Geist [der] Bewohner des Leibes.
Die Geistlichen, ein Stand für sich, sind eine andere Art Menschen als
die Laien. Die heiligen Dinge sind andere als die profanen und unheiligen. Die
Lehren der Religion oder Theologie sind andere als die Lehren der Weltweisheit
oder Philosophie.
Leib und Geist, beide Wesenheiten, allerdings in ihren
Erscheinungsformen höchst verschieden, allein sie bilden doch ein Ganzes – den
Menschen. Und obgleich diese Vereinigung uns unerklärlich ist, ist sie
wirklich. Und so verschieden Stoff und Kraft zu sein scheinen, sie sind stets
vereinigt und müssen in ihrem Grundwesen eines sein. So ist denn auch Gott und
Welt als unendliche Einheit des Daseins zu denken. Auch der alte Glaube lehrt,
Gott sei unendlich und die Welt sei unendlich; also zwei unendliche Wesenheiten
nebeneinander. Das ist ein Widerspruch, weil das eine Unendliche das andere
beschränken müsste. Sie können daher nicht aus[einander] oder nebeneinander,
sondern nur in[einander] und miteinander gedacht werden.
Leib und Geist, Stoff und Kraft, Gott und Welt [sind] in ihren
Erscheinungsformen so verschieden und doch [sind sie] zu wunderbarer,
unergründlicher Einheit verbunden. Dass sie es sind, wissen wir, aber wie sie
es sind, begreifen wir nicht, weil wir nicht wissen, was sie sind, weil wir nur
die flüchtige Erscheinung der Dinge, nicht [aber] ihr ewiges Wesen schauen
können, weil unsere schwachen Sinne nur die Oberfläche der Dinge wahrnehmen.
Wir sehen die Körper, aber denken die Kraft. Wir glauben an sie. Wir sehen die
Welt, aber wir denken Gott. Wir glauben an ihn.
11. Die ältesten Religionen denken ihre Götter
als räumlich beschränkte, körperliche, menschenähnliche Wesen. Die christliche
Kirche lehrt: Gott ist „ein“ Geist. Wir sagen: Gott ist Geist oder der Geist d.
h. die ewige Wahrheit der Geisteswelt, die Vernunft des Weltalls.
Erl.: - Wie wir die Grundwesenheit der Körperwelt und allen
körperlichen Erscheinungen Stoff nennen, so nennen wir die Grundwesenheit der
Geisteswelt und aller geistigen Erscheinungen Geist. Die Gedanken und
Selbstbewusstsein erzeugende Macht nennen wir Geist. Stoff und Geist sind in
gleicher Weise abstrakte Vorstellungen von gleicher philosophischer Bedeutung.
Wir kennen beide nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihren wahrnehmbaren
Offenbarungen. Der ewige Stoff offenbart sich in zahllosen körperlichen
Gebilden, der ewige Geist in zahllosen Geisteswesen. Wir können das Ewige, das
Unendliche, nicht denken und müssen unsere Vorstellungen, wie wir schon sagten,
immer dem Endlichen entlehnen. Das höchste Wesen, das wir kennen, ist der
Mensch und das Höchste in dem Menschen ist der Geist.
Daher können wir sagen: Gott ist Geist. So heißt das: Wir entlehnen
unsere Vorstellungen von dem Menschengeist. In dem Menschen sehen wir Stoff und
Geist in wunderbarer, unerforschlicher Weise vereint, und nach diesem Bild
denken wir uns das Weltall. Der Mensch, die kleine Welt (der Mikrokosmos), das
Weltall, die unendliche Welt (der Makrokosmos). Der menschliche Geist erscheint
und demnach als eine Offenbarung des ewigen Geistes, ein Lichtstrahl aus dem
ewigen Licht [und] die menschliche Vernunft (als] eine Erscheinung der ewigen
Vernunft.
Das Weltall ist ein Vernunftreich. Wäre nicht Vernunft im Weltall, so
wäre die Vernunft nicht in uns, die wir ein flüchtiges Gebilde der Weltkräfte
sind. Wäre nicht im Weltall Licht, wie könnte unser Auge Licht sehen? Die
Naturgesetze sind vernünftige Gesetze. Nicht rohe, sinnlose Kräfte sind es,
welche dieses ordnungsvolle, wunderbare System des Daseins im Großen und im
Kleinen gestalten. Im Weltall ist Sinn und Verstand. Wäre es nicht so, so
könnte unsere Wissenschaft nicht Gesetze, d. h. Verstand, im Weltall finden,
dann gäbe es keine menschliche Wissenschaft. Wir haben die Wissenschaft der
Mathematik, weil ihre Regeln gleichsam am Himmel geschrieben stehen. Jedes
Naturgesetz, welches der menschliche Geist ergründet, ist gleichsam ein
Auffinden des Urgedankens, und alles, was die menschliche Kunst bildet, ist ein
Nachbilden der Urgebilde. Im Weltall ist Sinn und Verstand, weil Sinn und
Verstand in uns [ist].
Dass der Zufall oder das Spiel sinnloser Kräfte dieses wunderbare
System des Daseins erzeugte, glauben wir ebensowenig, als wir glauben, der
Zufall oder die Anziehungskraft habe die Lettern eines sinnvollen Buches
zusammengeführt und diese Reihe von Zeichen erzeugt. „Wo rohe Kräfte sinnlos
walten, da kann sich kein Gebild gestalten!“. In dieser Vernünftigkeit des
Weltalls liegt auch das, was der alte Glaube die Vorsehung nennt.
12. Die alten Religionen glauben an die ewige
Dauer der geistigen Persönlichkeit des einzelnen Menschen. Wir können diesen
Gedanken nur als unbewiesenen Glauben, als Hoffnung betrachten. Dagegen
erkennen wir die ewige Dauer der Wesenheit des Geistes.
Erl.: - Allen flüchtigen und vergänglichen Erscheinungen
des Daseins liegt, wie wir erläutert haben, ein Ewiges, ein Bleibendes
zugrunde. Alles schwindet, alles stirbt, und doch auch alles bleibt.
Der Tod ist nicht Vernichtung, sondern nur Verwandlung. Vergänglich ist
die Erscheinung der Dinge, ewig [hingegen] das Wesen derselben. Das ewige Wesen
der Körperwelt, wie wir eben besprochen haben, nennen wir den Stoff; seine
Gebilde und Erscheinungsformen sind die
Körper. Alle Körper, selbst die
dauerhaftesten, sind vergänglich. Der Stoff aber, das gedachte Grundwesen der
Körperwelt, ist „unsterblich“, wie die alten und neuen Philosophen erklären und
unser eigenes Denken es bestätigt.
Kein Atom, kein Hauch, kein Lichtstrahl kann aus der Unendlichkeit des
Weltalls verloren gehen, er entschwindet unserer Wahrnehmung, aber er wird
nicht vernichtet. Ja selbst die Kraft, wie die neueren Forscher lehren, bleibt,
und jede Kraftäußerung dauert in Gestalt der Wärme fort. Dasselbe was wir sagen
müssen von der Grundwesenheit der Körperwelt, vom Stoff, dasselbe müssen wir
sagen von der Grundwesenheit der Gedankenwelt, vom Geist.
Aber von der „Unsterblichkeit des Stoffs“ reden die neueren
Philosophen, von der Unsterblichkeit des Geistes reden die alten: beide mit
gleichem Recht. Denn wie allen flüchtigen und körperlichen Erscheinungen ein
Ewiges und Bleibendes zugrunde liegt, so auch allen flüchtigen
Gedankenerscheinungen. Das Dasein des Gedankens und der Geisteswelt ist nicht
minder wirklich als das Dasein der Körper und der Stoffwelt.
Während alles wirklich ist, der Stoff und die Kraft, soll diejenige
Kraft in uns, welche in Verbindung mit dem Stoff die Empfindungen und Gedanken
erzeugt, soll [also] das Geisteslicht allein nichtig und unwirklich sein und
zurückkehren ins Nichts?
Und doch ist der Geist oder die gedankenerzeugende Kraft in uns höher
und erhabener als jede andere Naturkraft, denn sie erzeugt die höchste
Erscheinung des Daseins, das Wissen vom Dasein [und] das Selbstbewusstsein.
Dass der selbstbewusste, die Dinge und sich selbst erkennende Gedanken nichts
weiter als eine Bewegung im Gehirn, dem Fleischklumpen [ist], das glauben
wir ebensowenig als etwa, dass die
Bewegung des Telegrafendrahtes die Elektrizität sei.
[Wenn] wir sagten: Der Stoff ist ewig und unsterblich, [jedoch] kein
Gebilde des Stoffs [und ist damit auch] kein Körper, so müssen wir auch sagen:
Der Geist ist unsterblich [jedoch] keine Erscheinung des Geistes, [also auch]
keine Persönlichkeit, kein Ich.
Wem es daran liegt, seine geistige Persönlichkeit, sein Ich, welches
durch die körperlichen Organe und die besonderen Lebensschicksale des Einzelnen
bedingt ist, durch alle Ewigkeiten fortzuführen, der muss sich an den Glauben
halten und die Theologie.
Uns ist es
genug zu wissen: wir gehören
einem unendlich lebevollen Weltall an.
Aus ihm wurden wir, in
ihm leben wir, in ihm bleiben
wir. Der Tod ist nicht Vernichtung, er ist Verwandlung. Ewig fließt des Lebens
unerschöpflicher Quell.
13. Die Lehren der alten Religionsgemeinschaften
beruhen vorherrschend auf der Geistestätigkeit der Fantasie und
Einbildungskraft, die neuen auf dem Verstand und der Denkkraft.
Erl.: - Wie im heranwachsenden Kind die dichtende und bildende
Einbildungskraft früher erwacht als der denkende und prüfende Verstand, so
[erscheint es uns] auch in den sich entwickelnden Völkern. Die alten Völker,
wie die Dichter [auch] noch heute, personifizierten, d. h. sie dachten
abstrakte Begriffe im Bild der Persönlichkeiten. Die Naturkräfte wurden
personifiziert [und] sie wurden zu Persönlichkeiten, zu Göttern.
Die monotheistischen Religionen dachten das schöpferische und bildende
Weltleben als eine Person, [als] einen persönlichen Gott im Himmel. Der
mittelalterliche Kirchenglaube ist ein Gemisch von Fantasievorstellungen und
abstrakten Begriffen. Noch die heutige Theologie bewegt sich in dem
Widerspruch, da sie lehrt, Gott sei eine Person, [also] ein persönlicher Gott,
und auch, Gott sei allgegenwärtig. Wenn er wahrhaft allgegenwärtig ist, so ist
er eben nicht persönlich, [dann] ist er kein Ich, denn das Ich entsteht erst im
Gegensatz gegen andere Personen. „Gott ist allgegenwärtig!“, kann nur heißen,
er ist das Allwesen des Geistes, das Ewige, und alle zahllosen Persönlichkeiten
sind Offenbarungen des Allwesens.
Die Priester bedürfen aber eines persönlichen Gottes, weil ein solcher
Gott im Himmel der Engel und auf Erden der Priester als seiner Diener bedarf,
die ihn lobpreisen zur Vermehrung seiner Ehre und ihn gegen seine Feinde
verteidigen, während der Allgegenwärtige alles selbst bewirkt.
Wie der altertümliche Glaube, so macht es die Poesie und Dichtung noch
heute, sie personifiziert. Da singt und klingt es heute überall von der
Germania, sie ist ein schönes, kräftiges Weib. Niemand hat sie [je] gesehen,
und doch hat sie die „Wacht am Rhein“ gehalten, und sie ist wirklich, [denn]
sie ist das deutsche Vaterland. So ist es mit dem persönlichen Gott der
Gläubigen, er ist wirklich. Er ist die personifizierte Schöpferkraft, das Leben
der Welt.
14. Die christliche Rechtgläubigkeit glaubt an
Jesus Christus als einen Gott, der prüfende Verstand denkt ihn als einen
Menschen.
Erl.: - Der
Christusgott der Theologie
ist eben nichts
anderes als eine altertümliche
Personifikation der Gottheit,
und zwar eine solche, welche sich an einen in der Vorzeit gelebt
habenden Menschen anschließt, den sie vergöttert. Jesus von Nazareth, der
Reformer, der Messias und Erlöser der Juden, ward bald zum Heiland der Welt und
endlich zum „wahren Gott vom Vater in Ewigkeit geboren“. Solche Inkarnationen
oder Menschwerdungen der Gottheit finden sich in vielen alten Religionen, und
ausgezeichnete Menschen der Vorzeit wurden in der Erinnerung der Völker Söhne
der Götter oder selbst Götter.
Von der Vergötterung eines noch lebenden Menschen bietet uns in
neuester Zeit ein Beispiel in der
Unfehlbarkeit des Papstes, einer Inkarnation des Heiligen Geistes oder vielmehr
des römischen Priestergeistes. Wer noch auf dem Standpunkt dieses unglaublichen
Glaubens steht, wer da noch glauben kann, dass die unendliche, die ewige
Gottheit zu einem einzelnen Menschen werden könne, der lebt nicht in der
Erkenntnis der Gegenwart, sondern in der Mythologie der Vorzeit. Er hat
fehlenden Verstand ersetzt durch Theologie. Mit der Theologie zu streiten,
finden wir uns nicht bewogen.
15. Die christliche Rechtgläubigkeit stellt den
Heiligen Geist dar als einen besonderen dienstbaren Geist der Priesterschaft.
Wir denken ihn als Geist der Menschheit, als Geist der Wahrheit und des Lichts,
als den Paraklet oder „Tröster“, der nach der Verheißung Jesu seine Jünger in
alle Wahrheit leiten soll.
Erl.: - Die alten Völker dachten die Gottheit als eine
Persönlichkeit im Himmel. Auf Erden sahen sie diese Gottheit nicht. Auf Erden
sahen sie nur eine allwaltende
schöpferische Kraft. Diese, im Gegensatz zum Leib Gottes, nannten sie den Atem,
den Hauch
[oder] den Geist Gottes.
Gott der Weltschöpfer war im Himmel, aber der Geist Gottes „schwebte
auf den Gewässern der finsteren Tiefe“. Und wo dieser Geist Gottes in der
sittlichen Welt, in den Geistesgaben der Menschen [oder] in der Begeisterung
der Propheten wirksam war, da nannten sie ihn den Heiligen Geist. Diesen Geist
Gottes personifizierte nun die dichtende Theologie und machte ihn zu einer
besonderen Art Gottheit, zu einer zauberhaften göttlichen Kraft. Und diese
Kraft nahmen die Priester besonders für sich in Anspruch, teilten sich dieselbe
gegenseitig mit durch Zeremonien und Händeauflegen. Dieser priesterliche
Heilige Geist offenbart sich aber leider nur zu oft durch priesterlichen
Hochmut und durch Verfluchung Andersgläubiger.
Wir glauben nicht an ihn. Aber wir glauben an den sittlichen
Gesamtgeist der Menschheit, jenen Geist, der die Menschen treibt, nach Wahrheit
und Licht zu trachten, der die Erfahrungen und Erkenntnisse der Menschheit
sammelt, sie von einem Geschlecht auf das andere überträgt, sie stets vermehrt
zu einem großen Geistesschatz der Menschheit, zur Wissenschaft.
16. Der Kultus des Gottesdienstes der alten
Religion ist vornehmlich Zeremonie, heilige Bräuche und Anbetung. Unser Kultus
ist ein sittliches Leben. Die Sakramente oder Heilsmittel der Kirche sind
zauberhafte, übernatürliche Bräuche. Unser Heilsmittel sind Belehrung,
Erziehung, Unterricht.
Erl.:- Die alten Völker dachten die Götter nicht nur in
menschlicher Gestalt, sondern auch behaftet mit menschlichen Wünschen,
Begierden und Leidenschaften. Die Götter waren aber mächtige Wesen und
Oberherren der Menschen. Daher fürchteten diese die Götter. Und daher suchten
sie das Wohlgefallen der Götter zu gewinnen, weihten ihnen Anbetung, Verehrung
und Dienst [und] brachten ihnen Opfer, Gaben und Gelübde. [Sie] priesen sie
durch Lobgesänge und wendeten sich an sie im Gebet und Flehen. Das Wesen der
alten Religion ist Gottesfurcht im eigentlichen Sinne des Wortes. Und da die
Priester die Diener der Götter und die Kundigen ihrer Geheimnisse waren, so
gehörte zur Gottesfurcht auch Priesterfurcht und Priesterverehrung.
In diesem Sinn hat die denkende Neuzeit keinen Gottesdienst und keinen
Kultus mehr. Die ewige und unendliche Gottheit ist über menschlichen Dienst
erhaben. Der Mensch kann ihre Ehre nicht mehren oder mindern; er kann sie durch
Gebet und Flehen nicht rühren. Und wie einst die Opfer, so haben auch die
Sakramente oder zauberhafte fromme Bräuche zur Verehrung der Gottheit unter uns
aufgehört.
Durch unseren „Gottesdienst“ dienen wir uns selbst. Er hat den Zweck
der Belehrung, der Erbauung und Gemütserhebung [sowie] der sittlichen
Besserung. Wir verwerfen nicht feierliche Bräuche, wo sie sinnvoll sind und
schön, aber sie dienen nur als Sinnbilder sittlicher Gedanken.
Das Wesen der neuzeitlichen Religion ist nicht mehr Gottesfurcht und
Scheu vor den Göttern, sondern die Entwicklung des Göttlichen in uns [also]
Veredlung des Herzens und Erleuchtung des Verstandes.
17. Das Altertum personifizierte die Kräfte der Natur
und betete sie als Gottheiten an. Wir suchen dieselben zu verstehen, zu
begreifen und zwingen sie zu unserem Dienste. Wir machen sie zu Helfern und
Dienern unseres Lebens.
Erl.: - Die oberste Gottheit der alten Völker [waren] die Kraft
des Blitzes und des Donners. Wir haben sie in den Telegraphen zum Eilboten
unserer Gedanken gemacht. Und die Macht des Feuers und des Wassers muss für uns
arbeiten, muss tausend Räder und Maschinen in Bewegung setzen, muss die frühere
Sklavenarbeit der Menschen verrichten. Sie muss uns in den dampfbespannten
Wagen wie auf Adlerschwingen in die Ferne tragen.
Deshalb ist das Wort der Schrift erfüllt, dass der Mensch der Herr der
Erde sei. Der Mensch, der die Gottheit in den weiten Räumen des Himmels gesucht
hat, hat sie, die allgegenwärtige, endlich nahe bei sich gefunden. Er hat sie
gefunden im eigenen Geist, dem Licht aus dem ewigen Licht.
18. Das Sittengesetz der alten Religionen stellt
sich dar als das Machtgebot eines außerweltlichen Gottes; das Sittengesetz der
neuen Sittenlehre erscheint als die Forderung des eigenen menschlichen Herzens.
Erl.: - Du sollst dies tun, sollst jenes lassen, so spricht man
zu einem Kind, dessen eigene Vernunft noch nicht entwickelt ist. Und genauso
sprachen die Gesetzgeber der alten Religionen zu den Völkern: „Du sollst“, denn
so gebietet es der Herr, dein Gott. Der Rechtsbegriff war in den alten, rohen
Völkern noch nicht entwickelt, die Furcht vor den Göttern musste den
Gesetzgebern helfen.
Daher stellten sie ihre Gesetze nicht sowohl als gesellschaftliche
Notwendigkeiten, sondern als Gebote Gottes dar. Wenn aber das Kind erwachsen
ist, dann lehrt man es zu verstehen, was gut und was recht ist, und es erkennt
dann, was das eigene Herz gebietet.
19. Der Antrieb zur Sittlichkeit liegt nach den
alten Religionen in dem Gedanken des Lohns oder der Strafe, nach der neuen
Lehre in der Liebe zum Guten selbst.
Erl.: - Wenn du deinem Mitmenschen liebreich und gefällig bist,
wenn du in der Not ihm hilfst, (so] wird er dir dankbar sein. Sollte er aber
erfahren, du hättest das alles getan aus Verlangen nach Lohn bei Gott, so wird
des Nächsten Dankbarkeit und der Wert deines Tuns verschwinden. Und wenn du das
Böse unterlässt aus Furcht vor der göttlichen Strafe, so bist du dennoch böse.
Nein, das Gute tun aus Liebe zum Guten, es tun, weil man selbst gut
ist, das Gute auch dann tun, wenn es einem Gefahr und Nachteile bringt, das
Böse lassen, weil man es hasst, es [auch] zu lassen, selbst wenn es Vorteil und
Lohn verheißt, das ist wirkliche Sittlichkeit.
Wer aus Sucht nach Lohn [oder] aus Furcht vor göttlicher Strafe
handelt, der mag ein Frömmler sein. Aber er ist weder fromm noch tugendhaft. [Er] ist
ein Lohndiener, der auf das Trinkgeld wartet oder ein Sklave, der die Peitsche
fürchtet.
Hoffen wir, dass dieser Begriff von Sittlichkeit, wie er längst von
allen Denkenden erkannt wird, auch in unseren Staaten und Schulen zur Geltung
gelangen wird, damit die Zucht- und Strafhäuser durch gute Schulen mehr und
mehr überflüssig werden. Gut aber werden die Schulen erst dann sein, wenn sie
von der Kirche getrennt sind.
20. Die alten Religionen suchen die sittliche
Pflicht der Menschenliebe vornehmlich zu betätigen durch Almosen. Die
neuzeitliche Religion sucht jene Pflicht zu betätigen durch solche gesellschaftlichen
Einrichtungen, welche das Almosen entbehrlich machen.
Erl.: - Alle Religionen der Vorzeit stellen das Almosengeben als
religiöse Pflicht dar. Es ist auch überall da notwendig, wo die
gesellschaftlichen Zustände der Völker ungeordnet und unvollkommen sind.
Das Almosen ist eine natürliche Betätigung des menschlichen Mitgefühls,
allein es ist anerkanntermaßen ein übles Heilmittel der Armut. Es entwürdigt
den Empfänger des Almosens und unterhält mit dem Armen auch die Armut und den
Müßiggang. Darum ist das Bestreben der Neuzeit darauf gerichtet, solche
Einrichtungen, Verbindungen und Vereine zu schaffen, durch welche der drückende
Unterschied zwischen arm und reich möglichst ausgeglichen wird [und] durch
welche jeder arbeitsfähige Mensch in den Stand gesetzt wird, seinen
Lebensunterhalt durch Arbeit zu erlangen. [Auch muss es möglich sein], dass der
Arbeitsfähige und Hilflose durch gesellschaftliche Hilfe erhalten werde, so
dass jeder Einzelne seines Lebens Halt und Trost in der Gesellschaft findet.
Solche Einrichtungen sind möglich. Sie sind auch in ihren Anfängen
schon vorhanden und werden sich fortschreitend entwickeln, doch nur nach
Maßgabe des Fortschritts unseres gesamten gesellschaftlichen Zustands und
namentlich im Fortschritt der Volksbildung. Die sozialen Bestrebungen der
Neuzeit, richtig verstanden, sind sittlicher und religiöser Natur.
Allein, wer da glaubt, dass solche Einrichtungen plötzlich und auf
einmal geschaffen werden könnten, wer von einer plötzlichen Umwandlung der
menschlichen Gesellschaft träumt, der ist ein Schwärmer und wird seine Hoffnung
ebenso getäuscht sehen wie die alten religiösen Apostel ihre Hoffnung auf das
Himmelreich. Und wer zur Verwirklichung seiner sozialen Ideen die Gewalttat und
die Leidenschaft der Menschen anfacht, der sät Unheil und wird solches ernten.
Das Menschenleben ist ein steter Kampf gegen Übel, und jeder Fortschritt ist
ein Freiwerden von einem Übel. Wenn das eine verschwunden ist, dann zeigt sich
schon ein anderes. Noch kämpfen wir gegen sehr alte Übel. Noch sehen wir, wie
die Völker einander gegenüber stehen, gerüstet mit Mordwaffen, als ob sie nicht
gesittete Menschen, sondern allzumal Räuber seine.
Noch sehen wir, wie sich die Völker auf blutigen Schlachtfeldern
einander gegenseitig morden, ihre Städte und Dörfer zerstören und die Früchte
ihrer Arbeit vernichten. Und der ganze Überschuss, der Gewinn des Fleißes,
welcher der Bildung, dem Unterricht, der Verschönerung und Erleichterung des
Daseins, der Bekämpfung der Armut gewidmet sein sollte, er wird selbst im
Frieden verschlungen durch die Waffenrüstungen.
Noch kämpfen wir um politische Freiheit, als ob wir Sklaven wären,
deren höchstes Gut die Freiheit ist, als ob die Freiheit bei einem vernünftigen
Zustand der Gesellschaft nicht selbstverständlich, nicht der vernünftige und
natürliche Zustand wäre.
Noch sehen wir, wie in unseren Volksschulen und in der Kirche unter dem
Namen der Religion die alte Weltanschauung der Völker aus Moses Zeiten mit
ihrem Glauben und Aberglauben gelehrt wird, wie dagegen die in
vielhundertjähriger Geistesarbeit errungenen Ergebnisse der Wissenschaft
vernachlässigt und verachtet werden.
Noch sehen wir, wie manche Machthaber, priesterlich wie weltlichen
Standes, das freie Denken und die Vernunft fürchten und die Unwissenheit als
Regierungsmittel befördern.
Wer bei solchen Zuständen von einer plötzlichen idealen Umwandlung der
Gesellschaft träumen kann, der muss schon tief schlafen, um die Wahrheit nicht
zu sehen.
Wer aber diese Wirklichkeit sieht, der erkennt auch bei der
neuzeitlichen Teilung der Arbeit die spezielle und besondere Aufgabe unserer
freireligiösen Gemeinden:
-
Befreiung des Volkes aus der bisherigen Geistesunmündigkeit,
-
Kampf gegen geistliche und weltliche Geistesunterdrückung,
-
Führung des Volkes aus dem Dunkel des Kirchenglaubens zum Licht
vernünftiger Erkenntnis.
-
Schaffung einer freien Religion auf Grundlage der heutigen Wissenschaft.
Das ist die Aufgabe, die schwere und umfassende Aufgabe unserer
Religionsgemeinschaft. Und damit arbeiten wir an der Grundwurzel aller
politischen und sozialen Reform und Besserung. Denn wenn die Zustände der
Gesellschaft besser werden sollen, so müssen vor allem die Menschen besser,
einsichtsvoller und vernünftiger werden. Die Menschen zu bessern ist die Arbeit
der Aussaat, bessere gesellschaftliche Zustände sind die Frucht. Die Aussaat
geschieht vornehmlich in der Schule, die Kirche soll zur Schule der Erwachsenen
werden. Mag sich ein jeder von uns nach Neigung und Wissen an sozialistischen
und politischen Vereinen beteiligen, die Aufgabe unserer Gemeinden als
Gesellschaften ist eine religiös-kirchliche, eine Bildungsaufgabe.
Wer unsere Gemeinden von dieser seit mehr als einem Vierteljahrhundert
betriebenen Arbeit abziehen will, wem diese Arbeit nicht erfreulich oder zu
langweilig ist, wer unsere Gemeinden in unmittelbar politische oder
sozialistische Vereine umwandeln will, der will ernten, wo nicht gesät ist; der
zieht unsere Gemeinden ab von dem Arbeitsfeld, zu welchem sie berufen sind. Er
missbraucht sie und verwirrt unsere Bestrebungen und unsere Ziele.
Nachschrift: „Grundgedanken
der freireligiösen Gemeinden“ habe ich die obige Darstellung genannt, doch
stets mit Rücksicht auf den unter uns bestehenden Grundsatz der freien
Selbstbestimmung.
[Es]
sind daher zunächst meine Gedanken [und] das Ergebnis meiner freien
Selbstbestimmung. Sie beeinträchtigen die freie Selbstbestimmung meiner
Genossen nicht. Sie sind [auch] nicht ein Glaubensbekenntnis im alten Sinne des
Wortes, weil das Wesen unserer Gemeinschaft nicht ein festgestellter Glaube,
sondern das freie Denken und die Erkenntnis ist.
Jahrtausende
haben die Religionen des göttlichen Offenbarungsglaubens die Völker beherrscht,
und ihr Glaubenszwang hat den Fortschritt unterdrückt [und] hat Sekten und Parteien
ohne Zahl geschaffen.
Die
Religion der Erkenntnis wird die Getrennten versöhnen.
Der
Grundsatz der freien Selbstbestimmung ist zwar nur ein formaler, negativer
Satz, [denn] er sagt nicht, wozu wir uns in freier Selbstbestimmung bestimmt
haben. Allein jener Grundsatz ist demnach zunächst der praktisch nötigste. Er
bezeichnet den Gegensatz gegen den bisherigen Zwang [und] er gibt der Vernunft
ihre Freiheit und ihr ewiges Recht zurück. Er bezeichnet das Ende des
vieltausendjährigen Glaubenszwangs [sowie] das Ende aller Glaubensunterdrückung
und Glaubensforderungen. Jeder Offenbarungsglaube ist seiner Natur nach
Zwangsglaube, und der Zwang erzeugt Parteien und Sekten und Streit. Die
Freiheit ist Friede.
Ende
Hinweis: Die Schrift weicht insofern vom Original
ab, weil Rechtschreibung und Interpunktion modernisiert wurde, die Diktion
blieb weitestgehend (also nicht immer) erhalten.
Überall dort, wo der Text
in eckigen Klammern [...] gefasste Worte aufweist, handelt es sich um
Hinzufügungen des Bearbeiters. Sie dienen ausschließlich der besseren
Lesbarkeit; sie wurden zum Beispiel überall dort vorgenommen, wo übermäßig
lange Sätze die inhaltliche Klarheit gefährdeten. Deshalb konnte auf die
Beifügung von Hilfswörtern nicht verzichtet werden.
Alle in runden Klammern
(...) stehenden Worte sind originale Hinzufügungen von Wilhelm Hieronymi.
1873
Wie es zur Aufschrift über dem Eingang des Friedhofs der Berliner
Freireligiösen Gemeinde kam
aus:
„Geschichte der
Freireligiösen Gemeinde Berlin 1845 – 1945“
Herausgeber: Freigeistige Gemeinschaft
(Freireligiöse Gemeinde) Berlin
Verlag Humanitas, Dortmund, 1981
Bis zum Jahre 1893 (?) war
unser Friedhof öffentlich, d. h., es war Nichtmitgliedern möglich, ihre
Angehörigen, auch wenn diese nicht Mitglied der Gemeinde waren, auf unserem
Friedhof zu beerdigen. Es ergab sich daraus der Übelstand, dass die Angehörigen
von solchen Toten häufig Inschriften auf die Grabsteine setzen ließen, welche
den Ansichten der Gemeindemitglieder direkt entgegen standen.
Im
Frühjahr 1873 war beschlossen worden, zwischen den Hauptpfeilern des Eingangs
zum Friedhof ein Schild anbringen zu lassen mit der Aufschrift „Begräbnisplatz
der Freireligiösen Gemeinde“. Über die Benutzung der Innenseite des Schildes
entbrannte nun ein lebhafter Meinungsstreit, und aus den oben angeführten
Gründen wurde beschlossen, hier eine Inschrift anzubringen, welche den
Grundsätzen der Gemeinde entspräche. Von Herrn Schäfer war hierzu der Spruch:
„Wir
fürchten und hoffen vom Jenseits nichts mehr,
Auf
Besserung des Diesseits steht unser Begehr.“
vorgeschlagen
und von der Gemeindeversammlung angenommen worden. Hinterher sah man aber ein,
dass, wenn man vom Jenseits nichts mehr erhofft, damit der Glaube an ein
Jenseits noch nicht aufgehoben ist, und so wurde auf Antrag des Dr. Jacobson
der Beschluss, diesen anzubringen, wieder aufgehoben. Inzwischen waren
verschiedene Vorlagen eingegangen; unter anderem von Herrn Rother folgender
Spruch:
„Versöhne die Lebenden,
Die Toten sind tot;
Träume kein Auferstehen.“
Es
wurde nun eine Kommission eingesetzt, und diese einigte sich in der Mehrheit
auf folgenden Vers, dessen Verfasser auch Herr Rother war:
„Schafft hier das Leben gut
und schön,
Kein Jenseits ist, kein
Auferstehn.“
Die
Minorität schlug vor:
„Was wir an Liebe uns
erwerben,
Das dauert fort, wenn wir auch sterben.“
Beide
Vorschläge wurden der Gemeinde unterbreitet und im Dezember 1873 wurde der von
der Kommission mit Mehrheit ausgewählte Spruch [„Schafft hier...“] auch von der Gemeindeversammlung
angenommen und prangt seit dieser Zeit auf der Innenseite des Schildes über dem
Eingang unseres Friedhofes.
Unter dem
Sozialistengesetz musste er eine Zeitlang durch Bretter verdeckt werden; er hat
schon damals und seither noch manches Mal den Zorn aller Mucker hervorgerufen.
Ihnen kann man nur entgegen halten: Betretet unseren Friedhof nicht, dann
braucht ihr euch über den Spruch nicht zu ärgern.
1876
Die zehn Sittengebote der freien Religionsgemeinschaft
aus:
Johannes Ronge
„Die Religion als Anlage, Lehre und Leben“
1.
Liebe Gott, d. h. suche Gottes Wesen und Walten in der Natur und in der
Menschheit immer mehr zu verstehen. Bemühe Dich, Dein geistiges Wesen von den
göttlichen Ideen der ewigen Vernunft, Liebe, Gerechtigkeit und Schönheit zu
durchleuchten und strebe, Gottes Gesetzen in Natur- und Geistesreich gemäß zu
leben.
2.
Achte und ehre die Natur als Gottes ewiges Reich und Offenbarung, d. h.
lerne die Natur immer mehr kennen in ihren Gedanken und Zwecken wie in ihrer
Entwicklung und benutze ihre Kräfte und Gaben für Deine und Deiner Mitmenschen
Beglückung und Vervollkommnung, denn nur so wird Gottes Reich auch Dein Reich.
3.
Liebe und achte alle Deine Mitmenschen, auch die Dir feindlich
gesinnten, wegen ihrer Menschenwürde und Bestimmung, d. h. halte ihre Freiheit,
ihre Ehre, ihre Rechte, ihr Eigentum und ihr Leben heilig. Stehe ihnen bei in
geistigen und materiellen Nöten und schädige und missbrauche sie nicht für
selbstsüchtige Zwecke.
4.
Achte Deine Menschenwürde hoch und heilig, d. h. lerne Dich selbst,
Deinen Geist und Körper, deren Gesetze und Harmonie immer mehr kennen. Bilde
Dich und lebe dieser Erkenntnis gemäß und erniedrige Dich nie durch Lüge und
Laster, nie durch schlechte Gesinnung und böse Handlungen.
5.
Schließe die Ehe nur bei gegenseitiger Liebe und Achtung, geleitet durch
Vernunft und für einen höheren Lebens- und Berufszweck.
Betätige und erhöhe Liebe und Achtung in der Ehe und halte sie heilig durch
Treue.
6.
Eltern liebt und achtet Eure Kinder als Euch anvertraut vom Schöpfer für
hohe Daseinszwecke. Erzieht sie an Geist und Körper für ihren Beruf, seid ihnen
Vorbild und Ratgeber, auf dass sie selbst glücklich und Euch, dem Vaterland und
der Menschheit zur Freude und Ehre leben mögen, und macht sie nicht und lasst
sie nicht machen zu Werkzeugen der Selbstsucht und Herrschsucht.
Kinder achtet und ehrt Vater und Mutter und gehorcht ihnen als von Gott
bestimmten Schützern und Lehrern mit reinem Herzen und seid ihnen dankbar in
Gesinnung, in Wort und Tat.
7.
Erzieht und bildet, Ihr Lehrer, die Kindheit und Jugend im Geiste der
Liebe und Achtung als der Familie, dem Vaterland, der Menschheit und Gottheit
gehörig, gemäß den göttlichen Gesetzen im Wesen der Menschen. Seid ihnen
Vorbild und betrachtet sie als bestimmt, die Träger und
Vertreter einer höheren
Stufe der Bildung, Kultur undFreiheit zu sein.
8.
Arbeite und erfülle Deine Berufspflichten mit Liebe und aus freier
Bestimmung, weil rechtes Schaffen und Arbeiten Dich beglückt, veredelt, geistig
und körperlich gesund erhält, Dir Selbständigkeit, Achtung und Mittel
verschafft und Dich zum ewigen Schöpfer emporhebt.
9.
Liebe und achte Dein Volk und Vaterland, d. h. erfülle Deine Pflichten
für den Staat, indem Du dessen materielle und geistige Entwicklung, gemäß der
sittlichen Kulturaufgabe Deiner Nation, förderst und wenn nötig Gut und Leben
einsetzt für die Selbständigkeit, die Rechte und Freiheit und die wahre Ehre
Deiner Nation. Achte aber auch die Selbständigkeit, die Rechte und Ehre anderer
Völker und wirke dafür, dass die Gesetze der Humanität siegreich werden über
Unterdrückung und Krieg.
10. Achte die Religion als der Seele heiligste
Kraft und als höchstes geistiges Kleinod, wodurch der ewige Schöpfergeist Dich
und alle Glieder der großen Menschheitsfamilie zu seinem Ebenbild, zu Brüdern
und Erben seines Reiches gemacht [hat].
Durchleuchte diese Kraft fort und fort mit dem Licht der fortschreitenden
Vernunft und Wissenschaft, mag sie als heilige Ahnung des Göttlichen, als
Sehnsucht nach ewiger Wahrheit und ewigem Leben oder als Liebe für
Gerechtigkeit, Glück und Tugend aus der Tiefe Deines geistigen Wesens
aufsteigen. Lass die göttlichen Ideen der Religion Dich leiten und vertraue
ihnen, auch wenn oft rätselhaft Deine Geschicke und dunkel Deine Lebenswege
[Dir erscheinen mögen].
1877
Verfassung der Freireligiösen Gemeinde zu Berlin
„Menschenthum“,
Nr. 10.
17. März, 1886, Gotha,
Sonntagsblatt
für Freidenker
- Organ
des „Deutschen Freidenker-Bundes“ - ,
Herausgeber
Dr. August Specht.
und
Freireligiösen Gemeinde Berlin
(1845 -
1945),
erschienen
1981
Was will die Freireligiöse Gemeinde?
1.
Wir nennen unsere Gemeinde zur Unterscheidung von anderen
Religionsgemeinschaften eine freie. Unser leitender Grundsatz ist: „Freie
Selbstbestimmung gemäß der fortschreitenden Vernunft und Wissenschaft auf allen
Gebieten des Lebens.“
2.
Diese Freiheit behaupten wir einerseits in der unbeschränkten
Selbstverwaltung aller Gemeindeangelegenheiten, andererseits als persönliche
Gedanken- und Gewissensfreiheit, d. i. das Recht, sich seiner eigenen Vernunft
zu bedienen und in letzter Instanz sein eigener Richter zu sein. Die notwendige
Ergänzung bzw. Voraussetzung dieser Freiheit erblicken und erstreben wir in der
unbedingten Lehr- und Lernfreiheit.
3.
Wir fordern diese Freiheit nicht nur für uns, sondern als gleiches Recht
für alle. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung und
Selbstbeherrschung für den Einzelnen, der nur so weit frei sein kann, als er
nicht die gleichberechtigte Freiheit seiner Mitmenschen beeinträchtigt. Die
Überwindung des Konfessionalismus mit seinen verderblichen Vorurteilen und
Vorrechten, auch im politischen und sozialen Leben, ist nur durch die gleiche
Freiheit möglich.
4.
Unsere Gemeinde ist eine religiöse; doch verstehen wir unter Religion
nicht irgendeine Beziehung zu einem außerweltlichen, übernatürlichen Wesen
(Gott oder Teufel) und Leben (Himmel oder Hölle), sondern das mehr oder weniger
bewusste, ewig menschliche Streben nach einem harmonischen Verhältnis zu der
uns umgebenden Welt aufgrund unserer eigenen inneren Harmonie, d. h. unserer
Wahrhaftigkeit und Gewissensfreiheit.
5.
Die Quellen der Religion sind uns die Natur und Vernunft, welche, wie
alles, unter dem Gesetz der Bewegung und Entwicklung stehen, weshalb uns die
Religion nach ihrer theoretischen Seite nicht irgendein feststehender
(positiver) Glaube, sondern vielmehr das Streben nach allseitiger, tieferer
Erkenntnis ist. Für die Pflege desselben erachten wir die Priester und
Theologen mit ihren Mythen und Mysterien für entbehrlich, ja hinderlich.
6.
Nach ihrer praktischen Seite ist uns Religion wesentlich Sittlichkeit,
wie sie sich vornehmlich in den menschlichen, d. h. sozialen und politischen
Verhältnissen ausprägt, weshalb wir dieselben nach ihrer Gesetzmäßigkeit mehr
und mehr begreifen und zu veredeln trachten. Unsere höchste sittliche Forderung
ist das Streben nach demjenigen Gemeinwohl, in welchem zugleich das persönliche
Wohl am besten gewahrt ist.
7.
Wir sind zu einer Gemeinde zusammengetreten, denn nur aufgrund einer
einheitlichen, gesunden Organisation ermöglicht sich ein kräftiges,
gemeinnütziges Wirken und eine praktische Lösung unserer Aufgabe der religiösen
Reform. Es handelt sich dabei wesentlich um Volksbildung, und somit um die
höchsten Güter unseres Lebens, die wir eben nur gemeinsam erringen, wie
besitzen können.
8.
Unsere Gemeinschaft hat zunächst den Zweck, durch praktische
Einrichtungen und Maßnahmen den Mitgliedern möglichsten Schutz vor
Gewissenszwang zu gewähren und Gelegenheit zur allseitigen geistigen Ausbildung
zu geben, insbesondere die Belehrung und Erziehung unserer Kinder in unserem
Geiste durchzusetzen. Unser Endzweck aber ist die allgemeine Befreiung von
jeder inneren und äußeren religiösen Vergewaltigung, in der wir eines der
mächtigsten Hemmnisse des sittlich-religiösen, wie des politischen und sozialen
Fortschritts erkennen.
9.
Wiewohl sich die Gemeinde gegenwärtig mit den vorstehenden Grundsätzen
in Übereinstimmung weiß, so erachtet sie es doch für ihr Recht, wie für ihre
Pflicht, dieselben jederzeit der besseren Erkenntnis gemäß zu ändern.
Angenommen
am 12. Februar 1877.
Etwa um
1877
Käthe Kollwitz
beschreibt
in ihren Lebenserinnerungen eine Situation aus ihrer Kindheit, die sich etwa um
die oben angegebene Zeit ergeben haben muss.
„Ich will wirken in dieser Zeit“
Auswahl aus den Tagebüchern und Briefen
von Käthe Kollwitz,
Hrsg. Dr. Hans Kollwitz,
Ullstein Verlag; 1993
zitiert in „Wege ohne Dogma“
Juni 2002
Julius
Rupp zählt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Gründergeneration Freier
Gemeinden. Als Begründer der Freien Gemeinde Königsberg hatte er dort das Amt
des Predigers inne. Sein Schwiegersohn, Karl Schmitt, übernahm in dieser
Funktion später seine Nachfolge.
Schmitts
Tochter war die später über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gewordene
Künstlerin Käthe Kollwitz (1867 – 1945).
Mit
ihren zeit- und sozialkritischen Werken war die Grafikerin, Malerin und Bildhauerin
seinerzeit als Künstlerin umstritten, denn ihre Werke waren einer realistischen
Darstellung mehr verpflichtet als den ästhetisch-künstlerischen Ansprüchen der
damaligen Kunstsachverständigen.
Dass
Käthe Kollwitz über ihren Großvater Julius Rupp und ihren Vater Karl Schmitt
eine freireligiöse Erziehung genossen hat, und sicher auch aus dieser Prägung
heraus ihr soziales Engagement zu erklären ist, gehört noch heute zu den eher
unbekannten, weil nicht publizierten Fakten ihres Lebens.
In
ihren Erinnerungen ist zu lesen:
Ich
bin als fünftes Kind der Eltern geboren ... Bis zu meinem neunten Jahre wohnten
wir auf dem Weidendamm. Immer haben wir Kinder mit Sehnsucht daran
zurückgedacht. Es gab unendliche Spielgelegenheiten und viele Abenteuer auf den
Höfen ... Ich konnte brüllen, dass es unerträglich war ... Kam der Bock zu
Hause über mich, so hatten die Eltern die Methode, mich allein in eine Stube zu
sperren, bis ich mich ausgebrüllt hatte. Geschlagen wurden wir nie.
Im Ganzen
war ich ein stilles, schüchternes Kind und auch ein nervöses.
Später
traten an Stelle dieser Anfälle von Eigensinn, die sich in Gestrampel und
Gebrüll äußerten, Verstimmungen, die Stunden und Tage anhalten konnten ... Wir
zogen jetzt in die Königstraße in eines der schönsten neuen vom Vater gebauten
Häuser.
Für
mich war Benjamins Tod noch mit besonders drückenden Seelen-umständen
verbunden. Ich hatte von den Eltern sehr früh die Schwabschen Sagen geschenkt
bekommen, und ich glaubte an die griechischen Götter. Ich wusste wohl, es gibt
einen christlichen „lieben Gott“, aber ich liebte ihn nicht, er war mir ganz
fremd ... ich saß auf dem Boden, hatte mir mit Klötzchen einen Tempel gebaut
und war dabei, der Venus zu opfern.
Da ging die Tür auf ... Der Vater hatte mit dem Arm die Mutter umfasst ... und
der Vater sagte, dass unser kleiner Bruder gestorben sei. Sofort wusste ich:
Das ist die Strafe für meine Ungläubigkeit; jetzt rächt sich Gott dafür, dass
ich der Venus opfere ... und der Großvater Rupp trat herein.
etwa um 1880
Magdeburger Grundsätze
aus:
„Der Humanist“
4/1970
dort als etwa um 1880 entstanden angegeben
1.
Wir wollen eine Gemeinschaft sein, welche die Pflege der Religion und
Sittlichkeit bezweckt. Jede Parteipolitik ist innerhalb unserer Gemeinschaft
ausgeschlossen.
2.
Wir sehen die Vernunft als die oberste Richtschnur für alles menschliche
Denken an und können auch in religiöser Beziehung nur das anerkennen, was sich
vor ihr als wahr erweist.
3.
Wir achten deshalb die Wissenschaft und sind stets bestrebt, uns mit
ihrer Hilfe in unserer religiösen und sittlichen Erkenntnis weiterzubilden.
4.
Die Religion ist uns die innerste Angelegenheit des menschlichen
Herzens, deshalb verwerfen wir jeden Glaubens- und Gewissenszwang.
5.
Die Bibel achten wir als die Urkunde der jüdischen und christlichen
Religion, wir sehen in ihr aber ein menschliches, kein göttliches Buch; daher
besitzt sie für uns keine Autorität in religiösen und sittlichen Dingen.
6.
Von einer Gottheit wissen wir nichts und lehnen darum jeden bestimmten Gottesglauben
ab, besonders verwerfen wir den Wunderglauben, der mit der Gesetzmäßigkeit der
Natur in Widerspruch steht.
7.
Wir lassen uns nicht auf ein Jenseits verweisen, wir Menschen können
allein auf dieser Erde nach dem Guten streben und hier unser Glück suchen.
8.
Die Geschichte zeigt uns, dass alles Gute, das die Menschheit heute
besitzt, durch menschliche Kraft zustande gekommen ist, deshalb können wir das
Gute, das wir wollen, nur durch unser eigenes sittliches Streben erreichen.
9.
Gut handeln wir, wenn wir wünschen können, dass alle Menschen ebenso
handeln möchten wie wir; gut ist, was dem Wohle des Einzelnen und dem der
Gesamtheit dient.
10.
Unsere Religion ist somit Glaube an das Gute und Wille zum Guten.
1884
Religion
Eduard Baltzer
(gestorben am 4.06. 1887 im 73. Lebensjahr)
Im 70. Lebensjahr skizziert
1. Unter Religion ist „Treu und Glauben“ des
guten Gewissens zu verstehen, also das Allerheiligste des Menschenherzens und
der Menschenseele, das in jedem unbedingt zu schätzen und zu pflegen ist.
2. Der Irrtum des Gewissens ist nicht strafbar;
nur die aus dem Irrtum fließende Tat, wenn sie mit den bestehenden Gesetzen kollidiert, kann
strafbar werden.
3. Religion ist das stärkste soziale
Bindemittel geistiger Art, und deshalb möglichst zu pflegen und zu läutern.
4. Religion und folgeweise die religiöse
Gemeinschaft ist am sichersten zu prüfen an den sittlichen Grundsätzen, die sie
bekennt und betätigt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!“.
5.
Je mehr religiöse Gemeinschaften und Bünde die sittlichen Prinzipien
oben anstellen, desto mehr werden sie dem Frieden dienen und zur freien
Eintracht mit dem Evangelium Jesu und mit dem Staat gelangen.
1884
Zweck und Ziel
des Deutschkatholizismus
Georg Schneider
Vortrag gehalten am 9. März 1884
Am Stiftungsfest der freireligiösen Gemeinde
zu Wiesbaden
Als
vor nun 39 Jahren eine kleine Anzahl von Männern, angeregt durch das
götzendienerische Treiben Arnoldis, des Bischofs zu Trier und in
Übereinstimmung mit dem begeisterten und begeisternden Appell von Johannes
Ronge an alle Deutschen- und Christenherzen, in hiesiger Stadt zusammentraten,
um dem Beispiel anderer Städte und Provinzen folgend, im Widerspruch gegen
maßlose Ausschreitungen der römisch-katholischen Kirche, eine neue religiöse
Gemeinschaft zu bilden, neu in Ansehung der Reinheit und Lauterkeit ihrer
Grundsätze, die sich dem apostolischen Zeitalter der christlichen Kirche oder
der Lehre Jesu unmittelbar selbst entnahm – da ahnte man noch nicht, dass damit
der erste Schritt getan war zu einer Bewegung, die man sich längst gewöhnt hat,
die Reformation des 19. Jahrhunderts zu nennen, eine Bewegung, die im
Unterschied zu der Reformation des 16. Jahrhunderts nimmer still gestanden ist,
noch jemals stille stehen wird, und die trotz vielseitiger aber fälschlicher
Behauptungen in Kirchenkreisen, Konversationsbüchern und von Seiten
missgönnender Geistlicher Gott zu Ehren, der Menschheit zum Ruhm und zu unser
aller Freude lebt, blüht und gedeiht.
Es
war ein kleiner Anfang, der damals gemacht wurde; gemacht zumeist von kleinen
Leuten des Bürger- und Gewerbestandes unter keineswegs günstigen Bedingungen,
unter Missgunst, Verdächtigung und Verfolgung, an Orten sonst weltlichen
Zwecken dienstbar, mit wenigen Mitteln. Es war wie zu Beginn des Christentums.
Unscheinbare Männer, sonst nicht gekannt und niemals genannt, traten auf, fern
von den staatlichen Kultusstätten jüdischen oder heidnischen Glaubens, den
unbekannten Gott zu verkündigen und die Menschen zu lehren, ihn, der da Geist
ist, anzubeten im Geist und in der Wahrheit.
Der
Ernst jener Männer, welche von ihrer Überzeugung getragen und geleitet, ihrer
selbst nicht achtend, vor keiner Schmach zurückschreckten, der tiefe Gehalt der
neuen Botschaft, die Tatsächlichkeiten des
vorhandenen Bedürfnisses nach einem neuen, lauteren Geist, ließen all
jene Bedenken und Missstände gering erscheinen; die gute Sache wuchs und ehe
drei Jahrhunderte vorüber sind, hat das Christentum den obersten Thron der Welt
erklommen.
Es
soll diese nahe liegende Parallele dazu dienen, uns für unsere Sache, die noch
auf nicht weiter als 4 Dezennien zurückblickt, aufs Neue mit freudigem Mut zu
begeistern, uns anzufeuern zu erneutem und immer emsigerem Streben; soll die
Erschlaffung, wo sie droht, beseitigen; soll die Gleichgültigkeit, wo sie
eingeschlichen ist, bannen; soll das Bewusstsein, dass wir einen guten Kampf
kämpfen, stärken; soll die Hoffnung, dass wir obsiegen werden, beleben; soll
uns alle der Zuversicht und der Gewissheit unseres endlichen Sieges froh werden
und sprechen lassen: „Es muss uns doch gelingen.“
Die
Bewegung des Jahres 1844 war zunächst eine rein katholische Angelegenheit,
hervorgerufen durch einen katholischen Priester, weiter geführt durch
katholische Christen, die der Mutterkirche wegen Überschreitung ihrer
Befugnisse den Gehorsam glaubten versagen zu müssen.
Die
Berechtigung des offenen Widerspruchs erzwang ihm jedoch eine vielseitige
Anerkennung und Billigung auch bei Christen protestantischen Bekenntnisses, und
so hat auch unsere Gemeinde der Freunde manchen gefunden, und viele Beweise
betätigter Freundschaft namhaft machen können.
Dass
die römisch-katholische Kirche der Ausgangspunkt unserer Bewegung ist, hat ihr
den Namen des Deutschkatholizismus gegeben; ein Name, für viele freilich ein
Stein des Anstoßes, aber doch nur ein Name, der mit dem Kern der Sache, mit
unserem Wollen und Wünschen nichts zu tun hat, da er den Grundgedanken, in dem
wir Freigemeindler uns eins fühlen – den Gedanken der freien Religiosität oder
der religiösen Freiheit - nicht ausspricht. Schon längst setzen sich auch
unsere Gemeinden nicht mehr nur aus ursprünglich katholischen Elementen
zusammen, und es ist bemerkenswert, wie die jetzt Lehrenden in unseren
verschiedenen Gemeinden fast ausnahmslos der evangelischen Kirche angehört
haben.
Es ist ein
allen reformatorischen Bewegungen, also auch der deutschkatholischen, eigener
Zug, dass sie aus der Negation hervorgingen; wir haben dies genauer
gelegentlich der Lutherfeier im vergangenen Jahr dargetan, und gezeigt, wie es
sich zunächst immer nur um Abstellung verschiedener Missbräuche handelte, um
Zurückführung der Machtbefugnisse aus einer angemaßten Höhe zu dem
ursprünglichen Stand und daran anschließend um Beseitigung von Veraltetem und
Überlebtem. So will auch Christus sein Werk aufgefasst wissen nicht als
Stiftung einer neuen Religion, sondern nur als eine Reformation des Judentums;
denn er war nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen[1];
aber dazu bedurfte es eines mannhaften Einschreitens, um alle Unsauberkeit, allen
Irrtum, alle Falschheit zu beseitigen, einer umfassenden Tempelreinigung, wie
sie die Evangelisten des neuen Testaments gewissermaßen als eine plastische
Darstellung der geistigen Mission des Meisters in Israel in der bekannten
Tempelgeschichte darstellen[2].
Ein
anderes allen Reformationsbestrebungen gemeinsames Moment ist, dass seitens der
Gegner der Bewegung allenthalben der Versuch gemacht wurde, die ursprünglich
rein religiösen Absichten mit politischen zu verquicken. Die Juden gaben sich
alle erdenkliche Mühe, Jesus, da er ihnen unbequem wurde, als einen Feind der
römischen Oberbotmäßigkeit darzustellen; sie kennen die Verlegenheiten, welche
das kommunistische Unterfangen eines Thomas Müntzer und Genossen [zur Folge
hatte], dann welche Ungelegenheiten der Bauernkrieg einem Luther bereitete, und
die 40er Jahre unseres Jahrhunderts sind Zeugen, wie die freireligiösen
Bestrebungen Veranlassung zu politischen Verdächtigungen wurden. Es bedurfte
einer langen Zeit und kostete viel Mühe, bis die Grundlosigkeit dieser
Anfeindungen dargetan und die eigentliche Absicht der Bestrebungen klar
gestellt wurde.
Die
besondere Beschaffenheit dieses Tages, als des Geburtstags unserer Gemeinde,
macht es uns zur Pflicht, zu unserer eigenen Läuterung und zu gegenseitiger Aufmunterung
uns wieder einmal dasjenige zu vergegenwärtigen, was die reformatorische
Bewegung des 19. Jahrhunderts verfolgt, um einerseits uns des Ziels unserer
Bestrebungen aufs Neue lebhafter bewusst zu werden, andererseits aber zur
Klarstellung der uns heiligen Sache bei denen, die vor der Hand uns noch ferne
stehen.
Also
was wollen wir?
Jeder
unserer Sache Fernstehende folgt einer allgemeinen aber unrichtigen Anschauung,
wenn er uns als Sektierer, unsere Gemeinde als eine besondere Sekte bezeichnet,
welche, bei der jetzt wenigstens staatlich allgemeinen Toleranz geduldet, ihren
Bestrebungen obliegen kann. Auch in dieser Beziehung geht es uns nicht besser
als den ersten Christen, die von dem römischen Imperium nicht anders als
jüdische Sektierer betrachtet wurden – doch mit mehr Recht als heute wir. Denn
jene, die Erfüllung und Vergeistigung des Judentums durch Jesu Lehre
verkündigend, verpflichten durch ein feierliches Gelöbnis auf den Namen Gottes
des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und die symbolische Taufe
die Bekenner zur
Glaubenseinheit mit ihnen,
eine Glaubenseinheit, die
gegenüber dem jüdischen Glauben nunmehr als christlicher Glaube auftritt.
Es ist das
Wesen der Sekte die bewusste Einheit und Gleichheit der Glaubensvorstellungen,
die Verpflichtung dauernd in derselben zu verharren und zwar gegenüber einer
größeren und kompakteren Einheit, die sich Kirche nennt. So in England
gegenüber der einen anglikanischen Kirche die Menge der Sekten, von denen jede
einzelne bei ihren Gliedern die Gleichheit der religiösen Anschauung als
Bedingung der Zugehörigkeit betrachtet.
Das
Grundwesen der Sekte ist Zwang; der Glaubenszwang freier Gemeinden ist –
Freiheit. Die Folge solchen Zwanges ist die Notwendigkeit eines Bekenntnisses,
und das Vorhandensein eines Bekenntnisses bedingt die Verpflichtung der
Einzelnen auf dieses Bekenntnis. Das Bekenntnis aber entsteht dadurch, dass
eine Majorität über die Wahrheit und Richtigkeit seines Inhaltes entscheidet.
Indem wir alles, was in diesen Sätzen ausgesprochen ist, negieren, befreien wir
uns trotz unserer Verschiedenheit von der Landeskirche und, trotz der geringen
Anzahl unserer Bekenner, von dem Vorwurf der Sektiererei und sind wir, sofern
es sich um das christliche Bekenntnis handelt, keine christliche Sekte, denn –
wir wollen Christen sein.
Christen
zu sein, den christlichen Namen zu tragen, ist eine Willensäußerung der
deutsch-katholischen Gemeinde hiesiger Stadt, die ihren Ausdruck schon in den 5
Sätzen gefunden hat, welche die erste konstituierende Versammlung als Grundlage
für die Gemeindebestrebungen anführt: „Die
Wahrung des christlichen Namens für unsere Gemeinschaft.“
Ob
wir ein Recht dazu haben, Christen zu heißen, kann sich nur erweisen, wenn wir
unsere religiösen Anschauungen dargelegt und gezeigt haben, was uns vom
Christentum übrig geblieben ist, ob wir die Hauptsache desselben behalten und
nur das Nebensächliche von der Hand weisen.
Lassen
Sie mich als Voraussetzung aller folgenden Ausführung und als ersten Grundsatz
für unsere Gemeinschaft den Satz vorausschicken: “Die Deutschkatholiken sind ohne bestimmtes Bekenntnis.“
Der
mit der Entwicklung unserer Gemeinde Vertraute wird beim Anhören dieses Satzes
nicht umhin können, uns der Inkonsequenz und der Untreue gegenüber unseren
eigene Forderungen zu bezichtigen; wurde doch seinerzeit die Wahrung des
christlichen Namens für die Gemeinde begründet durch die Beibehaltung des so
genannten apostolischen Symbolum.
Allein wir
betrachten diesen Vorwurf nicht als solchen, vielmehr sehen wir in der
Beseitigung des im ersten Augenblick der
Entstehung unserer Gemeinden noch beibehaltenen Bekenntnisses nur eine Stufe in
der Weiterentwicklung unserer religiösen Anschauungen, wonach wir es jetzt
jedem Einzelnen überlassen, in religiösen Dingen sich selbst zu bestimmen.
Wir wollen freie religiöse Selbstbestimmung, darum glauben wir jedwedes Bekenntnis
entbehren zu können. Wir halten es als eine Schmälerung menschlichen Rechts und
menschlicher Freiheit, ja als eine Unmöglichkeit, bei der unendlichen Glaubensverschiedenheit
unsere Anhänger auf ein bestimmtes Bekenntnis zu verpflichten und zu verlangen,
dass die Überzeugung Soundsovieler nun auch ihre Überzeugung sein solle – ohne
aber darum den in Überzeugung lebenden konfessionellen Christen die gebührende
Achtung zu versagen.
Es
liegt in der Natur der Sache, dass unter solchen Umständen nur ein allmähliches
Wachstum der freien Gemeinden zu erwarten ist. Freie Selbstbestimmung ist nicht
jedermanns Sache und die Macht der Gewohnheit, die Anhänglichkeit an die
angeborene Religion und bei dem gemütvollen Menschen eine gewisse Scheu vor
einem Religionswechsel ist trotz der üppig wuchernden Ungläubigkeit unter
Gebildeten und Ungebildeten noch übergroß.
Also jedes
christliche Bekenntnis wollen wir missen und dennoch Christen sein? Gewiss,
meine andächtigen Zuhörer.
Es
hat Christen gegeben, ehe es auch nur ein christliches Bekenntnis gab, und
jetzt hat man die Wahl unter vielen. Macht doch die evangelische Lehre, die
Zugehörigkeit zur wahren christlichen Kirche, zu der so genannten unsichtbaren
Kirche, nicht von dem Bekenntnis abhängig! Das Bekenntnis ist nur etwas
äußerliches, ist der kürzeste Ausdruck für die christliche Lehre, die wir die
unsere nennen, deren Gehalt wir zu erkennen trachten, nach der zu handeln wir
als unsere Lebensaufgabe ansehen.
Sind
wir nun, da wir den Bekenntniszwang abgestellt haben, ohne Glauben? Keineswegs!
Auch wir halten jene drei Stücke des ältesten christlichen Symbols fest, auch wir glauben an Gott, an Jesus von Nazareth, an
die Wirksamkeit des ewigen Geistes, nur dass wir es dem Einzelnen
überlassen, sich von allen Dreien die Vorstellung zu machen, die seinem Wesen,
seinen Anschauungen und Begriffen adäquat ist. Eines aber halten wir besonders
fest. So lange die religiösen Vorstellungen und Begriffe in das Reich
menschlichen Willens und Erkennens fallen, lehren wir – Widerspruchslosigkeit mit den Ergebnissen
menschlichen Erkennens und erstreben wir – Aussöhnung unserer religiösen
Vorstellungen mit den Ergebnissen der Wissenschaft. Wo unser Wissen
aufhört, hören auch wir auf, bestimmte Lehren zu geben, so in Anbetracht Gottes und seines Wesens, über
Unsterblichkeit und das zukünftige Geschick der Welt.
Es
kann hier nicht meine Absicht sein, unseren Glauben im Einzelnen näher zu erörtern;
das muss die Aufgabe besonderer Vorträge bleiben. Um nur das Wichtigste
auszuführen; wir glauben an Gott, als ein
unpersönliches Wesen, das uns aller Welt Grund und Ursache ist, der Inbegriff
alles Lebens und Seins, des Guten und Vollkommenen, die lebenschaffende und
erhaltende Kraft voll Weisheit und Verstand. Wir halten fest an dem unvergleichlichen
Vorbild, das uns Jesus von Nazareth, der Meister in Israel gegeben hat, und
streben ihm nach; wir fühlen uns und die ganze Welt durchdrungen, belebt und
beseelt von dem ewigen Geist, den wir als einen Geist der Weisheit und
Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens pflegen und betätigen.
Mit
einem Wort: Wir betrachten als Grundlage für
unsere religiösen Vorstellungen die christliche Lehre.
Dass
wir trotz alledem im Widerspruch mit der positiven Kirche stehen, hat seinen
Grund darin, dass wir unter christlicher Lehre nicht diejenige verstehen, die
von Christus ein für allemal festgestellt und bis auf den Buchstaben normiert
ist; sondern eine Reihe von religiösen Anschau-
ungen und Vorstellungen, von Christus seinen Jüngern gegenüber gelegentlich
geäußerten und von diesen je nach Auffassung des Einzelnen der Nachwelt
überliefert, - eine Reihe von Vorstellungen, die auch wir und ein Jeder in seiner
Weise und in Übereinstimmung mit seinen Anschauungen und denen seiner Zeit
übernehmen, unbekümmert darum, ob andere dieselben Vorstelllungen ebenso oder
anders fassen, also:
Wir wollen die christliche Lehre, aber aufgefasst in
geistiger Freiheit.
Die
Tatsache, dass im Laufe von achtzehnhundert Jahren Anschauungen und Begriffe
über die Welt und die Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen andere, ja oft die
entgegengesetzten geworden sind, lässt uns noch einen zweiten Vorbehalt bei
Übernahme der christlichen Lehre geltend machen, nämlich den, mit den Waffen
des Verstandes und der Vernunft sie auf ihren bleibenden Gehalt hin zu prüfen,
das Veraltete und Überlebte auszuscheiden, das Bleibende und Ewigwahre aber zu
behalten und zu beherzigen; mit bestimmten kurzen Worten:
Wir wollen die christliche Lehre, aber geläutert durch
Wahrheit und Vernunft.
Sage
niemand, dass bei freier Auffassung und vernunftgemäßer Läuterung der
christlichen Lehre wenig oder nichts mehr übrig bliebe. Im Gegenteil, was jene
kritische Arbeit von der christlichen Lehre ausscheidet, ist zumeist nur das
Nebensächliche und Äußerliche; es bleibt – der Kern aller Religion, eine edle
Sittlichkeit. Eine Sittlichkeit, die nicht nach kalten, äußeren Motiven
handelt, eine Sittlichkeit, die das Gute tut, nicht um des Lohnes
willen, und das Böse
nicht meidet aus Furcht vor Strafe,
sondern
die Sittlichkeit – das gut, edel, hilfreich und fromm sein wollen aus Religion.
Eine Religion hat für uns keinen Wert, wenn sie sich nicht betätigt, und die Kenntnis
auch der christlichen Lehre ist zwecklos, wenn sie sich nicht in Taten mächtig
erweist.
Nun
wir wollen festhalten an der christlichen
Lehre und sie nach dem Vorbild unseres unvergleichbaren Vorbildes Jesu von
Nazareth betätigen in selbstloser Menschenliebe. Auch unser erstes
Gebot ist: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst[3].
Soviel von
unserer Lehre. Nun noch ein kurzes Wort über die Verfassung unserer Gemeinden.
War die Gleichstellung aller in Sachen der Lehre allgemeine Voraussetzung, so
kommt sie in der Gemeindeverfassung zur praktischen Geltung.
Nirgends
ist der Idee des allgemeinen Priestertums eine größere Möglichkeit zu ihrer
Verwirklichung geboten, als in den freien Gemeinden; bahnte die evangelische
Kirche die Abstellung jener unchristlichen Scheidung zwischen Priestern und
Laien bereits an, so ist die Tatsache doch erst in den freien Gemeinden
geworden, die mit ihrer Verfassung bis zu den Tagen der urchristlichen Kirche
zurückgegangen ist, die in freier Wahl die sich ergebenden Ämter einzelnen
Mitgliedern der Gemeinde überträgt, ohne ihnen darum eine Sonderstellung oder
gar eine übergeordnete Stellung einzuräumen. So jemand will dein Herr sein, er
sei dein Knecht. Dieses Wort der Schrift versucht die freie Gemeinde zu
betätigen.
Zusammenhängend
mit dieser Verwerfung des priesterlichen Standes ist die Auffassung der beiden
von uns beibehaltenen Sakramente, Taufe und Abendmahl. Wir haben sie als alte
ehrwürdige Gebräuche der urchristlichen Vergangenheit übernommen, freilich ohne
ihren sakramentalen Charakter, Kraft welches nach kirchlicher Lehre die
Verwaltung derselben nur geweihten Priestern zustehe.
Wir
taufen bei der Aufnahme in unsere Religionsgemeinschaft, wo es gewünscht wird, und
wir feiern mit der geweihten Jugend das Herrenmahl zum Gedächtnis an Jesus von
Nazareth, uns dabei aufs Neue seines Vorbildes erinnernd und uns selbst der
Nachfolge gemahnend.
Auf
diesem Wege hoffen wir dem gedachten Ideal einer allgemeinen Menschheitsreligion
näher zu kommen. In solcher Weise wollen wir Christen sein, glauben wir wahres
Christentum, das wir von wahrem Menschentum nicht unterscheiden, zu betätigen.
So ist auch die Frage über Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Religion
in unseren freien Gemeinden entschieden und bejahend beantwortet worden.
Möglich,
dass auch wir, dem allgemein Menschlichen unterworfen, irrten, so soll man doch
in Anerkennung unseres Strebens und bei unserer Übereinstimmung mit den
köstlichsten Lehren des Christentums uns die Achtung nicht versagen, unseren
Bestrebungen kein Hindernis zu bereiten. Die Zeit schreitet rüstig fort; der
Freiheit Schwingen werden größer und größer. Der Geist der Wahrheit wirkt mit
Macht; des Lichtes Strahlen leuchten mehr und mehr. „Die freie Gemeinde ist der Gedanke unseres Jahrhunderts, denn sie ist
der Gedanke der freien sich selbst erlösenden Menschheit!“ Ihr, im
Ideal, gilt das Wort des Dichters:
Frisch
auf, frisch auf, du junger Aar,
Frisch
auf zum gold´nen Sonnenlichte!
Aus
deinen Augen hell und klar
Strahl
eine neue Weltgeschichte.
Frisch
auf, frisch auf und halte Wacht
Ob
unsrer Zukunft hohem Tore,
Auf
dass die alte Geistesnacht
Nie mehr
den lichten Tag umflore!
Frisch
auf, frisch auf und trag es fort,
Ein
Gottesbote, durch die Erde,
Des
freien Geistes, freies Wort,
Dass
es zur Tat lebendig werde!
1884