Freireligiöses Quellenbuch 1.

 

1862

Verfassung der freireligiösen Gemeinde zu Berlin

 

Geschichte der

 Freireligiösen Gemeinde Berlin

(1845 - 1945),

erschienen 1981

 

§ 1

Der Zweck unserer Gemeinde ist die selbständige, von den Einflüssen der Kirche und des Staates freie Pflege des religiösen Lebens unter dem Schutze der gesetzlichen Religionsfreiheit.

§ 2

Die Religion besteht nach Auffassung der Gemeinde nicht in Lehrsätzen, Gebräuchen und Priestertum, welchen, als eine den Menschen gegenüber stehenden göttlichen Offenbarung, man sich gläubig unterwerfen müsste; sie besteht vielmehr im eigenen innersten Geistesleben, welches, zur sittlichen Herrschaft sich erhebend, die Grundlage für das ganze Tun und Lassen des Menschen wird.

Die Religion in dieser praktischen Gestalt ist vor allem anderen die Treue gegen unsere Überzeugung von Rechten und Pflichten. Um zu einer solchen Überzeugung zu gelangen, bedürfen wir der Erkenntnis der Menschennatur und unseres Verhältnisses zum Weltall überhaupt und zur Menschheit insbesondere.

Die Treue gegen  diese Überzeugung  wird uns  das Bewusstsein der Übereinstimmung mit sich selbst und dadurch das Gefühl des inneren Friedens als die wahre Seligkeit verleihen. So wird die Religion aus einem abgeschlossenen Glauben an eine bestimmte Vorstellung von Gott und dessen vor Alters getroffenen Veranstaltung, ein gegenwärtiges Leben in Gott, den sie vorzugsweise in dem Geiste des Wahren und Guten und in dessen weltbeherrschender Macht offenbart findet.

§ 3

Daraus ergeben sich die praktischen Grundsätze,

·       dass zur klaren Durchführung des religiösen Lebens freie Selbstbestimmung für jeden unentbehrlich ist;

·       dass nicht bloß Duldung (Toleranz), sondern unbedingte Anerkennung voller Religionsfreiheit gegenseitig zu üben ist, und

·       dass die Einigung der die Menschheit trennenden Religionsparteien in dem höheren Bewusstsein des geistig selbständigen und freien Menschentums zu erstreben ist.


 

§ 4

Damit weiß sich die Gemeinde in geschichtlichem Zusammenhang mit dem Erkenntnisgang der Menschheit, von welchem das religiöse Bedürfnis getragen und geläutert wird. Die Gemeinde erkennt ihre Auffassung der Religion und ihr Streben als die notwendige Folge des religiö-

sen Fortschritts, den wir im Alten und Neuen Testament vorfinden, und

sieht namentlich in dem letzteren die Aufgabe und Verinnerlichung der Religion und der daraus folgenden Vereinigung aller Menschen in wahrer Liebe vorgezeichnet.

§ 5

Hinsichtlich des gegenwärtigen Zustandes der Religion macht die Gemeinde sehr bestimmt den Unterschied zwischen Religion und Kirche. Um vergeistigt sich die Kirche zur freien Religionsgemeinde, die einzig und allein auf der Macht des Geistes beruhen will. Der freie Zusammentritt zu Religionsgemeinschaften ist die einfachste, tatsächlich vom Volk selbst frei vollzogene Verwirklichung der so viel verlangten „Trennung der Kirche vom Staat“.

§ 6

Die Gemeinde sucht ihren Zweck mittels folgender Einrichtungen zu erreichen.

1.              Erbauung für Geist und Herz in feierlichen Versammlungen, vorzugsweise durch religiös-sittlichen Vortrag;

2.              Vorträge, Vorlesungen, Besprechungen über Religionsfragen oder aus wissenschaftlichen Gebieten mit Beziehung auf Religion;

3.              Religionsunterricht für Kinder;

4.              Religiöse Feier bei Familienereignissen, jedoch nur, wenn eine solche gewünscht wird. Vorkommenden Falls muss die Erfüllung etwa auf sie bezüglich gesetzlicher Bestimmungen(namentlich die Eintragung von Geburten und Eheschließungen in ein mit öffentlicher Glaubwürdigkeit gesetzlich ausgestattetes Register) vorausgegangen sein. Sakramente in der kirchlichen Bedeutung gibt es für uns nicht.

§ 7 – 10

Betrifft Regularien, die nichts über die Auffassungen der Gemeinde zum Freireligiössein aussagen.                                                                                     L. Geis

 


 

1872

Unterscheidungslehren und Grundgedanken

der freireligiösen Gemeinden

von Wilhelm Hieronymi

Pfarrer der Deutschkatholischen Gemeinde Mainz

 

 

Die Mitglieder unserer Religionsgemeinschaft sind aus den alten Gemeinschaften oder Kirchen [aus]geschieden. Sie müssen daher nicht nur selbst wissen, warum sie das getan [haben], sie müssen auch Rede und Antwort geben können denen, die danach fragen. Die Antwort liegt zwar in allen unseren Reden und Schriften, allein diese sind nicht in den Händen der Fragenden, auch sind unsere Schriften, gleich denen des alten Bibelbuches, nach der Verschiedenheit der Verfasser verschieden. Der Hinweis auf diese Schriften ist daher nicht eine befriedigende Antwort.

Da wir aber gemeinschaftliche Grundsätze haben, so muss es doch auch möglich sein, dieselben kurz zusammengedrängt auszusprechen.

Das längst gefühlte Bedürfnis und eine Anregung von außen waren es, was mich bestimmte zu dem Versuch einer Antwort auf die Frage:

Wie sich unsere Religionsgemeinschaft von den alten Kirchen unterscheidet?

 

 

 

1.       Die Verfassung der alten Religionsgemeinschaften oder Kirchen beruht auf Autorität und Gehorsam.

Die unsrige auf Freiheit und Selbstbestimmung; die alten sind unfrei, wir sind frei in Verfassung und Lehre. „Freie Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten“ ist der erste Grundsatz unserer Verfassung.

Erläuterung: In den alten Kirchen ist es die persönliche Autorität, welche regiert der Papst, die Bischöfe oder der Landesherr und die Konsistorien. Die Gemeinden sind diesen Behörden gegenüber unmündig und rechtlos.

Bei uns ist der Gesamtwille der Gemeinde der Ursprung aller Anordnungen. Die Gemeinde wählt sich ihre Lehrer und Vorsteher (selbst]. Dieselben sind daher nicht Herren und Gebieter, sondern die Beauftragten, die Diener der Gemeinde.


 

Unsere Prediger sind nicht göttlich berufene Priester, Seelenhirten und Seelsorger, sondern Wortführer und Lehrer in der Gemeinde. Sie sind nicht gebunden an überlieferte Satzungen und Buchstaben, sondern an Überzeugung und Gewissen. Der Unterschied von Geistlichen und Laien hat bei uns aufgehört.

Die einzelnen Mitglieder unserer Gemeinschaft sind verbunden durch die Gemeinde. Die Gemeinden sind untereinander verbunden durch Landesversammlungen und die Bundesversammlung aller Gemeinden in Deutschland.

Durch diese unsere freie Verfassung sind wir nicht nur im Einklang mit den Freiheitsbestrebungen unserer Zeit, sondern auch mit den ersten christlichen Gemeinden, welche eine solche Verfassung besaßen, derselben aber im Laufe der Jahrhunderte durch ihre Priester und Bischöfe beraubt wurden.

2.       Die alten Religionsgemeinschaften leiten den Ursprung ihrer Lehren aus einer übernatürlichen göttlichen Offenbarung ab, wir aus der natürlichen menschlichen Vernunft.

Erl.: Alle Religionen sind ohne Zweifel Erzeugnisse der menschlichen Vernunft und Geisteskraft.

Sie sind begründet worden durch Religionsstifter. [Es waren] weise Männer des Altertums. Diese Männer waren zumeist durch ihre Geistesgaben schon vor der Menge ihrer Zeitgenossen ausgezeichnet, aber noch mehr schienen sie ihren Nachkommen erhaben und erlangten [dadurch] endlich ein göttliches Ansehen. Man hielt die von ihnen überlieferten Lehren, welche der unwissenden, des Lesens und Schreibens unkundigen Menge zum Teil unverständlich waren, nicht mehr für menschliche Weisheit, sondern für göttliche Wahrheiten und Offenbarungen göttlicher Geheimnisse.

Die Priester förderten diesen Glauben der Völker, weil sie dadurch als Verwalter göttlicher Geheimnisse und als „Diener des göttlichen Wortes“ selbst in höherem Licht erschienen.

Der Offenbarungsglaube ist daher nichts anderes als ein Irrtum der Völker über den Ursprung der Religion. Dieser Glaube der Völker an den übernatürlichen Ursprung und an die unmittelbar göttliche Offenbarung der Religion ist aber einer der verderblichs-ten Irrtümer, welche die Menschheit je getragen hat. Denn, wenn die Religion unmittelbar von Gott geoffenbart ist, so kann es nur eine wirkliche Offenbarung [und damit] nur einen wirklichen Glauben geben.

Und es ist [nur] natürlich, dass jedes Volk seine Religion für diesen göttlichen, allein wahren und seligmachenden Glauben hielt und den  der anderen  verdammte.  Daher erhob sich  denn  unter  den Völkern und den Parteien endloser Streit über die rechte göttliche Offenbarung und den wahren Glauben. Ein Streit, welcher bei der Rohheit der Völker und der Herrschaft ihrer Priester zu Verfolgungen [sowie] zu zahllosen Glaubensmorden und Glaubenskriegen geführt hat.

In den alten Kirchen besteht dieser Glaube an die göttliche Offenbarung der Religion noch fort und wird öffentlich in Schule und Kirche gelehrt, obgleich Millionen denkender Zeitgenossen diesen Glauben nicht mehr teilen.

Wir haben diesen Glauben gänzlich aufgegeben. Wir sind zurückgekehrt vom Glauben zum Denken, [also] von der Offenbarung zur Vernunft. Wir sind zur Vernunft [und damit] zu uns selbst gekommen.

3.       Die Lehre der alten Religionsgemeinschaften ist fortschrittslos und unwandelbar, die unsere ist fortschreitend und entwicklungsfähig.

Erl.: Aus dem Glauben an den unmittelbar göttlichen Ursprung der Religion ergibt sich folgerichtig auch der Gedanke, dass die Religion, wie von Gott geoffenbart, vollkommen und fertig sei. Daher müsse sie unwandelbar stets dieselbe bleiben. Der Mensch dürfe an diesem göttlichen Gnadengeschenk nichts ändern [oder] bessern, [und] dass [jede] Änderung und [Ver]besserung Ketzerei, [also ein] Abfall vom Glauben und [damit eine] Empörung wider die gottgeoffenbarte Wahrheit sei.

Diesem Gedanken gemäß suchte nun die Priesterschaft den Glauben in seiner alten Gestalt oder, wie sie sagte, die „Reinheit der Lehre“ zu erhalten. Verbündet mit der Staatsmacht, bestrafte sie die Ketzerei mit Feuer und Schwert [und] schuf Inquisition und Scheiterhaufen.

Während aber die Religionslehre oder der Glaube der Völker unwandelbar feststand, schritt die Lebenserfahrung und die Erkenntnis der Völker fort. Es entwickelte sich neben dem Gauben die Wissenschaft. Und so entstand der heutige Zwiespalt im Geistesleben der Völker, der unmittelbare Widerspruch zwischen dem stillstehenden Glauben und der fortschreitenden Erkenntnis. [Es entstand der Widerspruch] zwischen Religion und Wissenschaft.

Wir haben diesen Widerspruch aufgehoben.

 

 


 

4.       Das Wesen der Religion der alten Religionsgemeinschaften ist der Glaube. Das Wesen unserer Religion ist Erkenntnis.

Erl.: Im hohen Altertum war noch kein Unterschied zwischen dem religiösen Glauben der Völker und ihrer Lebenserfahrung [bzw.] ihrer Erkenntnis [oder] ihrem Wissen. Ihr Wissen war ihr Glaube und ihre Religion. Die Religionsbücher der alten Völker umfassten das ganze Gebiet der damaligen Vorstellungen von der Welt, der Natur [und] dem Menschenleben. Sie erhalten die dunklen Anfänge aller heutigen Wissenschaften.

Das Alte Testament erzählt die Geschichte, die Gesetze, die Dichtungen  [Psalmen],  die Reden  [Propheten],  [ja]  überhaupt  die Überreste der Literatur des israelischen Volkes. Da aber die Priester zugleich die Gelehrten der Völker waren und diese Lehren niedergeschrieben haben, so wurden die überlieferten Lehren der Vorzeit gleichsam das Eigentum der Priester und verwandelten sich (so] in religiöse Satzungen und Dogmen. Die Priester verlangten Glauben an diese Lehren, und dem unwissenden, nicht selbst denkenden Volk fiel es nicht schwer, das, was die Priester lehrten, für wahr zu halten und zu glauben. Der Glaube wurde zum Wesen der Religion. Und da der Glaube an die alten Lehren und Vorstellungen, zumal in unserer Zeit, nur noch den Unwissenden, welche die neuzeitlichen Lehren nicht kennen, möglich ist, so fördern noch die heutigen Priester und Religionsgelehrten unter dem Namen der Religion die Unwissenheit und wollen „die Wissenschaft zur Umkehr“ zwingen. Sie verkünden den Glauben der Toten und verdammen die Erkenntnis der Lebendigen.

Das hat bei uns aufgehört. Wir gebrauchen das Wort Glaube nur da, wo eine eigene Wahrnehmung und ein Wissen nicht möglich ist, also von geschichtlichen Überlieferungen oder von Vorstellungen, welche der Erfahrung und dem Wissen unerreichbar sind. Wir verlangen nicht Glaube, sondern Erkenntnis und freies eigenes Denken. Unsere Religion ist unsere Überzeugung. Der Glaube bekehrt, die Erkenntnis belehrt. Des Glaubens Herrschaftsmittel sind Gebote und Satzungen, der Erkenntnis Lehrmittel sind Gründe und Beweise.

5.       Die alte Religionslehre gründet sich auf die alte Weltanschauung, die unsrige auf die neue.

Erl.: Da die alte Weltanschauung, wie sie zur Zeit Moses und zu Christi Zeiten unter den Völkern herrschend war, noch heute in den Volksschulen gelehrt wird, so ist bekannt:


 

Der Himmel ist ein festes Gewölbe, die Sterne daran [die] Himmelslichter, die Erde eine Scheibe und feststehend [und] die Sonne das „große“ Licht, über die Erde sich bewegend. Über die Erde [ist] der Himmelsraum, darin die Götter, die Engel und die Seeligen, unter der Erde die Unterwelt und die Verdammten.

Dagegen die neue Weltanschauung: Das Weltall ist ein unendliches Ganzes, voll Leben und Bewegung. Die Sterne sind Weltkörper, größer zum Teil, vielleicht auch schöner als unsere kalte, lichtlose Erde. Die Erde ist eine Kugel in ordnungsvoller Bahn um die Sonne kreisend.

Die alte Weltanschauung beruht auf dem täuschenden Augenschein, die neue auf Erforschung und wissenschaftlicher Erkenntnis. Die Natur erscheint in der alten Weltanschauung als ein wüstes regelloses Reich voll Wunder und Zauber, voll Engel, Dämonen und Teufel; in der neuen [dagegen] als ein ordnungsvolles, nach ewigen göttlichen Gesetzen [sich] wandelndes System des Daseins.

Des „Glaubens liebstes Kind ist das Wunder“. Das Kind der Erkenntnis ist das Naturgesetz. Die alte Weltanschauung ist schon vor dreihundert Jahren gefallen, und da die meisten Lehrsätze der alten Religionslehre auf diese alte Weltanschauung gegründet sind, so sind auch diese alten Lehren für jeden einzelnen Zeitgenossen gefallen und unmöglich geworden, unmöglich selbst für ein unterrichtetes Kind. Unmöglich ist z. B. der Glaube an eine Himmelfahrt da, wo kein Himmel mehr ist. Unmöglich ist jeder Glaube an ein Wunder da, wo man die ewige Ordnung der Natur verstanden hat. Der Blick in das unendliche lebensvolle Weltall, welches uns die neuere Wissenschaft eröffnet hat, ist größer (und] erhebender als der Blick der alte Völker in die beschränkte Welt ihres Glaubens.

Die neuzeitliche Religion, wie sie in den Wissenschaften gegründet ist und wie wir sie zum Verständnis des Volkes zu bringen
suchen, ist nicht nur wahrer, sondern auch erhebender und tröstlicher als die Religionen der alten Welt. Das Licht der Erkenntnis ist heilsamer und erfreulicher als das Dunkel des Glaubens.

6.       Der Zweck der alten Religionsgemeinschaften liegt im Himmel; der Zweck der neuen liegt in dem Erdenleben. Die Priester der alten Kirche sind Seelenhirten und Seelsorger, die Prediger unserer Gemeinden sind Volkslehrer.

Erl.: Was ist die alte Kirche [und] was will sie?


 

Sie ist nach ihrer eigenen Erklärung eine Heils- und Erlösungs-anstalt. Sie will ihre Mitglieder für den Himmel erziehen und vorbereiten. [Sie] will ihnen durch Glauben an ihre Lehren, durch die Anbetung Gottes und die Übung der frommen Bräuche, der Sakramente und Heilsmittel die Vergebung der Sünden und die ewige Seligkeit erwerben. Die Kirche ist eine Vorbereitungsanstalt auf Erden für den Himmel [und] eine Versicherungsanstalt der ewigen Seligkeit.

Nachdem nun aber jener Himmel der Götter und der Seligen vor dem Geistesblick der Völker hinweg genommen ist, muss die Religion notwendigerweise vom Himmel zurückkommen zur Erde, d. h. die neuzeitliche Religionsgemeinschaft ist eine Erziehungs- und Bildungsanstalt für die Erde. Ihr Zweck ist, die Menschen durch Unterricht und Lehre zu veredeln, sie vernünftiger, sittlicher und dadurch glücklicher zu machen und das Zusammenleben der Menschen in ein Reich des Friedens und der Brüderlichkeit zu verwandeln (und] die Menschen fortschreitend zu erlösen.

7.       Die alten Religionsgemeinschaften betrachten die Erlösung der Menschen als eine einmal geschehene Tatsache, wir betrachten dieselbe als ein fortschreitendes Geschehen. Die alte Kirche will den Menschen erlösen von gedachten und geglaubten, wir von wirklichen Übeln.

Erl.: - Nach der Kirchenlehre ist Jesus Christus der alleinige Erlöser. Er erschien als Gottessohn im Fleisch, ward Mensch, trat zur Zeit des römischen Kaisers Augustus im jüdischen Land auf, ließ sich von den Juden martern und kreuzigen [und] besänftigte dadurch den Zorn Gottes. Er trug als Unschuldiger die Strafe der schuldigen Menschen und erlöste dadurch die Menschen, [jedoch] nicht alle, sondern nur die „kleine Zahl der Auserwählten“, welche den rechten Glauben haben.

Die Erlösung der Kirchengläubigen liegt also in der Vergangenheit, in einem Punkt der Zeit, an einem Ort des Raums. Dahin schauen sie gläubigen Blickes zurück, glauben an die Erlösung und handeln nicht für dieselbe. Die Welt bleibt [nämlich] wie sie war, ungebessert, unerlöst. Und von welchen Übeln will die Kirche sie erlösen? Von der Erbsünde, Hölle, Teufel und ewiger Verdammnis, also von Übeln, welche sie selbst zuvor erdacht hat.

Dagegen streben wir  die Menschen zu erlösen von wirklichen Übeln, von Unwissenheit, Aberglauben und Rohheit und von den Übeln des geistunterdrückenden Priestertums. Und diese Erlösung geschieht nicht plötzlich und auf einmal, nicht wunderbar und zauberhaft, sondern fortschreitend und immer in natürlicher Wiese. [Sie geschieht] nicht durch Glauben und Hoffen, sondern durch unser Tun, durch unser Arbeiten und Mitwirken. Die Erlösung [ist] eine fortschreitende Selbsttat der Menschheit.

Der Entwicklungsgang der Menschheit [ist] ein Aufgang zum Licht.

8.       Die alten Religionsgemeinschaften betrachten die Welt als eine Maschine, einen Mechanismus. Wir betrachten dieselbe als ein unendliches lebensvolles Ganzes, einen Organismus.

Erl.: - Das Weltall ist ein Unendliches. Das Unendliche kann der Mensch nicht ausdenken; er muss seine Vorstellung stets entlehnen von dem Endlichen und Wahrnehmbaren.

Die alte Religion entlehnt ihre Vorstellungen von einer Maschine, einem menschlichen Kunstwerk. Sie lehrt, Gott habe im Anfang der Dinge die Welt aus Nichts geschaffen, durch einen einmaligen Schöpfungsakt. Die Welt gehe nun nach den von dem Schöpfer in sie gelegten Kräfte wie ein Uhrwerk ihren Gang. Der Schöpfer lebe, wie ein menschlicher Künstler, nicht in, sondern neben und außer dem Werk. Er beaufsichtige die Welt und leite ihren Gang nach seiner Vorsehung. „Gott regiert die Welt“. Zuweilen greift Gott aber auch ausnahmsweise in den Gang der Dinge ein. Ein solch unmittelbarer Eingriff in die Weltordnung ist ein Wunder. Das Wunder ist allen alten Religionen gemeinsam.

Dagegen erscheint uns die Welt als ein geordnetes System des Daseins, ein Organismus, bewegt und beseelt durch ein innewohnendes unendliches und ewiges Leben. Die Schöpfung ist nicht ein einmaliges Geschehen, sondern ein fortwährendes und ewiges Geschehen, eine stetige Entwicklung, ein ewiges Werden und Anderswerden. Nur das Einzelne hat Anfang und Ende seiner Erscheinung, das Ganze ist ewig.

Der Gedanke einer Schöpfung aus Nichts ist ein Irrtum, ebenso wie der Gedanke einer Rückkehr ins Nichts. Die schöpferische Macht und Kraft des Weltalls, das Leben, die Seele, den Geist des Alls – wir nennen es mit dem Wort der Religion, mit dem Wort der Völker: Gott.

9.       Die alten Religionen denken Gott als ein für sich seiendes, von der Welt getrenntes, persönliches Wesen. Wir denken ihn als das der Welt innewohnende schöpferische Leben, das Allwesen des Lebens.

Erl.: - Der Name und das Wort „Gott“ ist von den Priestern aller Zeiten und aller Völker oft missbraucht worden. Im Namen und


 

„zur größeren Ehre Gottes“ haben christliche Priester des Mittelalters ihre schwärzesten Verbrechen an der Menschheit begangen.
Deshalb vermeiden manche Denker der Neuzeit das Wort „Gott“ und wählen vielfach andere Bezeichnungen. Keine ist genügend, um das unendliche Wesen des Lebens ausreichend zu bezeichnen.
Aber selbst diejenigen, welche man Atheisten nennt, haben einen Gottesbegriff, und sei auch nur „der Stoff“ ihre Gottheit.

Jeder Mensch weiß, dass er sich nicht selbst ins Leben gerufen [hat], dass er nicht infolge des eigenen Willens lebt, nicht aus eigenem Willen stirbt [und] nicht aus eigenem Willen Schmerz und Leid erduldet. [Jeder spürt], dass es also eine Macht gibt, in der „wir leben, weben und sind“. Wer das weiß und fühlt, der „glaubt an Gott“, ja er weiß Gott, mag er jene ewige Macht nun Jehova, Brahma, Allah, Gott [oder] Natur nennen. Es ist Name, und jeder denkt sich diesen Begriff nach der eigenen Geistesfähigkeit und Denkkraft.

Wir denken Gott nicht als ein von der Welt getrenntes Einzelwesen. Wir denken ihn als das Allwesen, das unendliche Leben des Weltalls, welches alles Einzelleben aus sich erzeugt und in sich zurücknimmt, denn das Weltall erscheint uns als ein lebendiges unendliches Ganzes. Das „Allwesen“, das soll nicht heißen, dass wir dieses sichtbare Weltall selbst Gott nennen, denn der Begriff Gott ist ein Ursächlichkeitsbegriff, ein abstrakter, wie der Begriff Kraft.

Was wir sinnlich wahrnehmen, ist immer nur eine Erscheinung [oder] die Wirkung. Die Ursache denken wir. Wir sehen (nur] die Veränderungen [und] die Bewegung in der Körperwelt. Was sie hervorbringt, nennen wir Kraft. Wir sehen die organischen Verwandlungen einer Pflanze, was sie hervorbringt, nennen wir das Leben der Pflanze.

Was die Kraft, was das Leben ist, kein Glaube, keine Weisheit offenbart es uns. Wir sehen immer nur die Offenbarungen, [d. h.] die Erscheinungen der Kraft und des Lebens. Doch sehen wir auch, dass die Kraft nie ohne Stoff, das Leben nie ohne Organismus ist. Und obwohl wir wissen, was die Kraft oder was das Leben ist, so sind wir doch durch das Denkgesetz unseres Geistes auf die Begriffe getrieben. Selbst diejenige altneue Philosophie, welche man Materialismus nennt, weil die den Stoff, die Materie der Körperwelt, als das Grundwesen aller Dinge ansieht, ist genötigt, zu dem Begriff Stoff noch den anderen Begriff Kraft hinzuzunehmen, sonst bleibt ihr „Stoff“ tot. Stoff und Kraft, beides sind abstrakte Begriffe. Die Materialisten glauben zwar, sie wüssten, was der Stoff [der Stoff an sich] ist, weil sie ihn sähen. Sie wissen es nicht, trotz aller chemischen Elemente. Sie sehen den Stoff nicht, trotz aller Vergrößerungsgläser. Was sie sehen, ist immer nur Erscheinung des Stoffes, ist Körper.

Es gibt keine kläglichere Philosophie als diejenige, welche sich einbildet, sie sei Naturwissenschaft und wisse demgemäß, was der Stoff ist, indem sie sagt, der Stoff bestehe aus Atomen oder unteilbar kleinsten Teilchen, welche durch ihre Annäherung oder Trennung das ganze wunderbare System des Lebens, selbst die Erscheinungen des Selbstbewusstseins [bzw.) des Gedankens erzeugten.

Der Begriff eines unteilbar kleinsten Teilchens ist ein logischer Widerspruch, ein Unsinn. Die altneue philosophische Lehre, dass der Stoff nur zu einer bestimmten Grenze teilbar sei, ist ebenso schwach als etwa die Behauptung, dass der Raum des Weltalls nur bis zum nächsten Nebelfleck des Himmels reiche. Dagegen ist die Chemie als Wissenschaft der Erscheinungen und ihrer Gesetze vollkommen berechtigt, die Hypothese oder Annahme der Atome festzuhalten. Chemische Atome oder Stoffe, welche diese Wissenschaft nicht mehr in einfachere auflösen kann, gibt es.

Aber das Ewige, das Unendliche, im Großen wie im Kleinen, ist unvorstellbar [und] daher nicht Gegenstand der empirischen oder erfahrungsgemäßen Naturwissenschaft. Doch ob[gleich] wir weder wissen, was der Stoff, noch was die Kraft ist, so sehen wir sie doch stets vereinigt. Ihr Zusammensein erzeugt das ganze ungetrennte Dasein. So wie Stoff und Kraft stets vereinigt sind, so [auch) Gott und die Welt. Die Welt [ist deshalb] nie ohne Gott und Gott nie ohne die Welt. Gott ist die Welt, er ist das schöpferische Leben, das Leben, welches in zahllosen Einzelleben sich offenbart. Daher mit anderen Worten noch:

10.   Die alte Religionslehre beruht auf dem Gedanken der Zweiheit des Daseins (Dualismus), die neue auf dem Gedanken der Einheit (Monismus).

Erl.: - Der Gedanke der Zweiheit zieht sich durch die ganze Welt- und Lebensbetrachtung der alten Religion. Gott, ein Wesen für sich, er hat die Welt geschaffen. Die Welt, ein Wesen für sich, sie wird von Gott regiert. Der Leib des Menschen, ein selbständiges Wesen, der Geist, ein [eben]solches selbständiges Wesen. Der Leib [ist] die Wohnung, der Geist [der] Bewohner des Leibes.


 

Die Geistlichen, ein Stand für sich, sind eine andere Art Menschen als die Laien. Die heiligen Dinge sind andere als die profanen und unheiligen. Die Lehren der Religion oder Theologie sind andere als die Lehren der Weltweisheit oder Philosophie.

Leib und Geist, beide Wesenheiten, allerdings in ihren Erscheinungsformen höchst verschieden, allein sie bilden doch ein Ganzes – den Menschen. Und obgleich diese Vereinigung uns unerklärlich ist, ist sie wirklich. Und so verschieden Stoff und Kraft zu sein scheinen, sie sind stets vereinigt und müssen in ihrem Grundwesen eines sein. So ist denn auch Gott und Welt als unendliche Einheit des Daseins zu denken. Auch der alte Glaube lehrt, Gott sei unendlich und die Welt sei unendlich; also zwei unendliche Wesenheiten nebeneinander. Das ist ein Widerspruch, weil das eine Unendliche das andere beschränken müsste. Sie können daher nicht aus[einander] oder nebeneinander, sondern nur in[einander] und miteinander gedacht werden.

Leib und Geist, Stoff und Kraft, Gott und Welt [sind] in ihren Erscheinungsformen so verschieden und doch [sind sie] zu wunderbarer, unergründlicher Einheit verbunden. Dass sie es sind, wissen wir, aber wie sie es sind, begreifen wir nicht, weil wir nicht wissen, was sie sind, weil wir nur die flüchtige Erscheinung der Dinge, nicht [aber] ihr ewiges Wesen schauen können, weil unsere schwachen Sinne nur die Oberfläche der Dinge wahrnehmen. Wir sehen die Körper, aber denken die Kraft. Wir glauben an sie. Wir sehen die Welt, aber wir denken Gott. Wir glauben an ihn.

11.   Die ältesten Religionen denken ihre Götter als räumlich beschränkte, körperliche, menschenähnliche Wesen. Die christliche Kirche lehrt: Gott ist „ein“ Geist. Wir sagen: Gott ist Geist oder der Geist d. h. die ewige Wahrheit der Geisteswelt, die Vernunft des Weltalls.

Erl.: - Wie wir die Grundwesenheit der Körperwelt und allen körperlichen Erscheinungen Stoff nennen, so nennen wir die Grundwesenheit der Geisteswelt und aller geistigen Erscheinungen Geist. Die Gedanken und Selbstbewusstsein erzeugende Macht nennen wir Geist. Stoff und Geist sind in gleicher Weise abstrakte Vorstellungen von gleicher philosophischer Bedeutung. Wir kennen beide nicht in ihrem Wesen, sondern nur in ihren wahrnehmbaren Offenbarungen. Der ewige Stoff offenbart sich in zahllosen körperlichen Gebilden, der ewige Geist in zahllosen Geisteswesen. Wir können das Ewige, das Unendliche, nicht denken und müssen unsere Vorstellungen, wie wir schon sagten, immer dem Endlichen entlehnen. Das höchste Wesen, das wir kennen, ist der Mensch und das Höchste in dem Menschen ist der Geist.


 

Daher können wir sagen: Gott ist Geist. So heißt das: Wir entlehnen unsere Vorstellungen von dem Menschengeist. In dem Menschen sehen wir Stoff und Geist in wunderbarer, unerforschlicher Weise vereint, und nach diesem Bild denken wir uns das Weltall. Der Mensch, die kleine Welt (der Mikrokosmos), das Weltall, die unendliche Welt (der Makrokosmos). Der menschliche Geist erscheint und demnach als eine Offenbarung des ewigen Geistes, ein Lichtstrahl aus dem ewigen Licht [und] die menschliche Vernunft (als] eine Erscheinung der ewigen Vernunft.

Das Weltall ist ein Vernunftreich. Wäre nicht Vernunft im Weltall, so wäre die Vernunft nicht in uns, die wir ein flüchtiges Gebilde der Weltkräfte sind. Wäre nicht im Weltall Licht, wie könnte unser Auge Licht sehen? Die Naturgesetze sind vernünftige Gesetze. Nicht rohe, sinnlose Kräfte sind es, welche dieses ordnungsvolle, wunderbare System des Daseins im Großen und im Kleinen gestalten. Im Weltall ist Sinn und Verstand. Wäre es nicht so, so könnte unsere Wissenschaft nicht Gesetze, d. h. Verstand, im Weltall finden, dann gäbe es keine menschliche Wissenschaft. Wir haben die Wissenschaft der Mathematik, weil ihre Regeln gleichsam am Himmel geschrieben stehen. Jedes Naturgesetz, welches der menschliche Geist ergründet, ist gleichsam ein Auffinden des Urgedankens, und alles, was die menschliche Kunst bildet, ist ein Nachbilden der Urgebilde. Im Weltall ist Sinn und Verstand, weil Sinn und Verstand in uns [ist].

Dass der Zufall oder das Spiel sinnloser Kräfte dieses wunderbare System des Daseins erzeugte, glauben wir ebensowenig, als wir glauben, der Zufall oder die Anziehungskraft habe die Lettern eines sinnvollen Buches zusammengeführt und diese Reihe von Zeichen erzeugt. „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, da kann sich kein Gebild gestalten!“. In dieser Vernünftigkeit des Weltalls liegt auch das, was der alte Glaube die Vorsehung nennt.

12.   Die alten Religionen glauben an die ewige Dauer der geistigen Persönlichkeit des einzelnen Menschen. Wir können diesen Gedanken nur als unbewiesenen Glauben, als Hoffnung betrachten. Dagegen erkennen wir die ewige Dauer der Wesenheit des Geistes.

Erl.: - Allen flüchtigen und vergänglichen Erscheinungen des Daseins liegt, wie wir erläutert haben, ein Ewiges, ein Bleibendes zugrunde. Alles schwindet, alles stirbt, und doch auch alles bleibt.

Der Tod ist nicht Vernichtung, sondern nur Verwandlung. Vergänglich ist die Erscheinung der Dinge, ewig [hingegen] das Wesen derselben. Das ewige Wesen der Körperwelt, wie wir eben besprochen haben, nennen wir den Stoff; seine Gebilde und  Erscheinungsformen sind die Körper.  Alle Körper, selbst die dauerhaftesten, sind vergänglich. Der Stoff aber, das gedachte Grundwesen der Körperwelt, ist „unsterblich“, wie die alten und neuen Philosophen erklären und unser eigenes Denken es bestätigt.

Kein Atom, kein Hauch, kein Lichtstrahl kann aus der Unendlichkeit des Weltalls verloren gehen, er entschwindet unserer Wahrnehmung, aber er wird nicht vernichtet. Ja selbst die Kraft, wie die neueren Forscher lehren, bleibt, und jede Kraftäußerung dauert in Gestalt der Wärme fort. Dasselbe was wir sagen müssen von der Grundwesenheit der Körperwelt, vom Stoff, dasselbe müssen wir sagen von der Grundwesenheit der Gedankenwelt, vom Geist.

Aber von der „Unsterblichkeit des Stoffs“ reden die neueren Philosophen, von der Unsterblichkeit des Geistes reden die alten: beide mit gleichem Recht. Denn wie allen flüchtigen und körperlichen Erscheinungen ein Ewiges und Bleibendes zugrunde liegt, so auch allen flüchtigen Gedankenerscheinungen. Das Dasein des Gedankens und der Geisteswelt ist nicht minder wirklich als das Dasein der Körper und der Stoffwelt.

Während alles wirklich ist, der Stoff und die Kraft, soll diejenige Kraft in uns, welche in Verbindung mit dem Stoff die Empfindungen und Gedanken erzeugt, soll [also] das Geisteslicht allein nichtig und unwirklich sein und zurückkehren ins Nichts?

Und doch ist der Geist oder die gedankenerzeugende Kraft in uns höher und erhabener als jede andere Naturkraft, denn sie erzeugt die höchste Erscheinung des Daseins, das Wissen vom Dasein [und] das Selbstbewusstsein. Dass der selbstbewusste, die Dinge und sich selbst erkennende Gedanken nichts weiter als eine Bewegung im Gehirn, dem Fleischklumpen [ist], das glauben wir  ebensowenig als etwa, dass die Bewegung des Telegrafendrahtes die Elektrizität sei.

[Wenn] wir sagten: Der Stoff ist ewig und unsterblich, [jedoch] kein Gebilde des Stoffs [und ist damit auch] kein Körper, so müssen wir auch sagen: Der Geist ist unsterblich [jedoch] keine Erscheinung des Geistes, [also auch] keine Persönlichkeit, kein Ich.

Wem es daran liegt, seine geistige Persönlichkeit, sein Ich, welches durch die körperlichen Organe und die besonderen Lebensschicksale des Einzelnen bedingt ist, durch alle Ewigkeiten fortzuführen, der muss sich an den Glauben halten und die Theologie.

Uns  ist  es  genug  zu wissen: wir gehören einem unendlich lebevollen Weltall an.  Aus  ihm wurden  wir, in  ihm leben wir,  in ihm bleiben wir.  Der Tod ist nicht Vernichtung,  er ist Verwandlung. Ewig fließt des Lebens unerschöpflicher Quell.

13.   Die Lehren der alten Religionsgemeinschaften beruhen vorherrschend auf der Geistestätigkeit der Fantasie und Einbildungskraft, die neuen auf dem Verstand und der Denkkraft.

Erl.: - Wie im heranwachsenden Kind die dichtende und bildende Einbildungskraft früher erwacht als der denkende und prüfende Verstand, so [erscheint es uns] auch in den sich entwickelnden Völkern. Die alten Völker, wie die Dichter [auch] noch heute, personifizierten, d. h. sie dachten abstrakte Begriffe im Bild der Persönlichkeiten. Die Naturkräfte wurden personifiziert [und] sie wurden zu Persönlichkeiten, zu Göttern.

Die monotheistischen Religionen dachten das schöpferische und bildende Weltleben als eine Person, [als] einen persönlichen Gott im Himmel. Der mittelalterliche Kirchenglaube ist ein Gemisch von Fantasievorstellungen und abstrakten Begriffen. Noch die heutige Theologie bewegt sich in dem Widerspruch, da sie lehrt, Gott sei eine Person, [also] ein persönlicher Gott, und auch, Gott sei allgegenwärtig. Wenn er wahrhaft allgegenwärtig ist, so ist er eben nicht persönlich, [dann] ist er kein Ich, denn das Ich entsteht erst im Gegensatz gegen andere Personen. „Gott ist allgegenwärtig!“, kann nur heißen, er ist das Allwesen des Geistes, das Ewige, und alle zahllosen Persönlichkeiten sind Offenbarungen des Allwesens.

Die Priester bedürfen aber eines persönlichen Gottes, weil ein solcher Gott im Himmel der Engel und auf Erden der Priester als seiner Diener bedarf, die ihn lobpreisen zur Vermehrung seiner Ehre und ihn gegen seine Feinde verteidigen, während der Allgegenwärtige alles selbst bewirkt.

Wie der altertümliche Glaube, so macht es die Poesie und Dichtung noch heute, sie personifiziert. Da singt und klingt es heute überall von der Germania, sie ist ein schönes, kräftiges Weib. Niemand hat sie [je] gesehen, und doch hat sie die „Wacht am Rhein“ gehalten, und sie ist wirklich, [denn] sie ist das deutsche Vaterland. So ist es mit dem persönlichen Gott der Gläubigen, er ist wirklich. Er ist die personifizierte Schöpferkraft, das Leben der Welt.

14.   Die christliche Rechtgläubigkeit glaubt an Jesus Christus als einen Gott, der prüfende Verstand denkt ihn als einen Menschen.

Erl.: - Der  Christusgott  der  Theologie  ist  eben  nichts  anderes als  eine  altertümliche  Personifikation  der  Gottheit,  und  zwar eine solche,  welche sich an einen in der Vorzeit gelebt habenden Menschen anschließt, den sie vergöttert. Jesus von Nazareth, der Reformer, der Messias und Erlöser der Juden, ward bald zum Heiland der Welt und endlich zum „wahren Gott vom Vater in Ewigkeit geboren“. Solche Inkarnationen oder Menschwerdungen der Gottheit finden sich in vielen alten Religionen, und ausgezeichnete Menschen der Vorzeit wurden in der Erinnerung der Völker Söhne der Götter oder selbst Götter.

Von der Vergötterung eines noch lebenden Menschen bietet uns in neuester  Zeit ein Beispiel in der Unfehlbarkeit des Papstes, einer Inkarnation des Heiligen Geistes oder vielmehr des römischen Priestergeistes. Wer noch auf dem Standpunkt dieses unglaublichen Glaubens steht, wer da noch glauben kann, dass die unendliche, die ewige Gottheit zu einem einzelnen Menschen werden könne, der lebt nicht in der Erkenntnis der Gegenwart, sondern in der Mythologie der Vorzeit. Er hat fehlenden Verstand ersetzt durch Theologie. Mit der Theologie zu streiten, finden wir uns nicht bewogen.

15.   Die christliche Rechtgläubigkeit stellt den Heiligen Geist dar als einen besonderen dienstbaren Geist der Priesterschaft. Wir denken ihn als Geist der Menschheit, als Geist der Wahrheit und des Lichts, als den Paraklet oder „Tröster“, der nach der Verheißung Jesu seine Jünger in alle Wahrheit leiten soll.

Erl.: - Die alten Völker dachten die Gottheit als eine Persönlichkeit im Himmel. Auf Erden sahen sie diese Gottheit nicht. Auf Erden sahen sie nur eine  allwaltende schöpferische Kraft. Diese, im Gegensatz zum Leib Gottes, nannten sie den Atem, den Hauch
[oder] den Geist Gottes.

Gott der Weltschöpfer war im Himmel, aber der Geist Gottes „schwebte auf den Gewässern der finsteren Tiefe“. Und wo dieser Geist Gottes in der sittlichen Welt, in den Geistesgaben der Menschen [oder] in der Begeisterung der Propheten wirksam war, da nannten sie ihn den Heiligen Geist. Diesen Geist Gottes personifizierte nun die dichtende Theologie und machte ihn zu einer besonderen Art Gottheit, zu einer zauberhaften göttlichen Kraft. Und diese Kraft nahmen die Priester besonders für sich in Anspruch, teilten sich dieselbe gegenseitig mit durch Zeremonien und Händeauflegen. Dieser priesterliche Heilige Geist offenbart sich aber leider nur zu oft durch priesterlichen Hochmut und durch Verfluchung Andersgläubiger.


 

Wir glauben nicht an ihn. Aber wir glauben an den sittlichen Gesamtgeist der Menschheit, jenen Geist, der die Menschen treibt, nach Wahrheit und Licht zu trachten, der die Erfahrungen und Erkenntnisse der Menschheit sammelt, sie von einem Geschlecht auf das andere überträgt, sie stets vermehrt zu einem großen Geistesschatz der Menschheit, zur Wissenschaft.

16.   Der Kultus des Gottesdienstes der alten Religion ist vornehmlich Zeremonie, heilige Bräuche und Anbetung. Unser Kultus ist ein sittliches Leben. Die Sakramente oder Heilsmittel der Kirche sind zauberhafte, übernatürliche Bräuche. Unser Heilsmittel sind Belehrung, Erziehung, Unterricht.

Erl.:- Die alten Völker dachten die Götter nicht nur in menschlicher Gestalt, sondern auch behaftet mit menschlichen Wünschen, Begierden und Leidenschaften. Die Götter waren aber mächtige Wesen und Oberherren der Menschen. Daher fürchteten diese die Götter. Und daher suchten sie das Wohlgefallen der Götter zu gewinnen, weihten ihnen Anbetung, Verehrung und Dienst [und] brachten ihnen Opfer, Gaben und Gelübde. [Sie] priesen sie durch Lobgesänge und wendeten sich an sie im Gebet und Flehen. Das Wesen der alten Religion ist Gottesfurcht im eigentlichen Sinne des Wortes. Und da die Priester die Diener der Götter und die Kundigen ihrer Geheimnisse waren, so gehörte zur Gottesfurcht auch Priesterfurcht und Priesterverehrung.

In diesem Sinn hat die denkende Neuzeit keinen Gottesdienst und keinen Kultus mehr. Die ewige und unendliche Gottheit ist über menschlichen Dienst erhaben. Der Mensch kann ihre Ehre nicht mehren oder mindern; er kann sie durch Gebet und Flehen nicht rühren. Und wie einst die Opfer, so haben auch die Sakramente oder zauberhafte fromme Bräuche zur Verehrung der Gottheit unter uns aufgehört.

Durch unseren „Gottesdienst“ dienen wir uns selbst. Er hat den Zweck der Belehrung, der Erbauung und Gemütserhebung [sowie] der sittlichen Besserung. Wir verwerfen nicht feierliche Bräuche, wo sie sinnvoll sind und schön, aber sie dienen nur als Sinnbilder sittlicher Gedanken.

Das Wesen der neuzeitlichen Religion ist nicht mehr Gottesfurcht und Scheu vor den Göttern, sondern die Entwicklung des Göttlichen in uns [also] Veredlung des Herzens und Erleuchtung des Verstandes.


 

17.   Das Altertum personifizierte die Kräfte der Natur und betete sie als Gottheiten an. Wir suchen dieselben zu verstehen, zu begreifen und zwingen sie zu unserem Dienste. Wir machen sie zu Helfern und Dienern unseres Lebens.

Erl.: - Die oberste Gottheit der alten Völker [waren] die Kraft des Blitzes und des Donners. Wir haben sie in den Telegraphen zum Eilboten unserer Gedanken gemacht. Und die Macht des Feuers und des Wassers muss für uns arbeiten, muss tausend Räder und Maschinen in Bewegung setzen, muss die frühere Sklavenarbeit der Menschen verrichten. Sie muss uns in den dampfbespannten Wagen wie auf Adlerschwingen in die Ferne tragen.

Deshalb ist das Wort der Schrift erfüllt, dass der Mensch der Herr der Erde sei. Der Mensch, der die Gottheit in den weiten Räumen des Himmels gesucht hat, hat sie, die allgegenwärtige, endlich nahe bei sich gefunden. Er hat sie gefunden im eigenen Geist, dem Licht aus dem ewigen Licht.

18.   Das Sittengesetz der alten Religionen stellt sich dar als das Machtgebot eines außerweltlichen Gottes; das Sittengesetz der neuen Sittenlehre erscheint als die Forderung des eigenen menschlichen Herzens.

Erl.: - Du sollst dies tun, sollst jenes lassen, so spricht man zu einem Kind, dessen eigene Vernunft noch nicht entwickelt ist. Und genauso sprachen die Gesetzgeber der alten Religionen zu den Völkern: „Du sollst“, denn so gebietet es der Herr, dein Gott. Der Rechtsbegriff war in den alten, rohen Völkern noch nicht entwickelt, die Furcht vor den Göttern musste den Gesetzgebern helfen.

Daher stellten sie ihre Gesetze nicht sowohl als gesellschaftliche Notwendigkeiten, sondern als Gebote Gottes dar. Wenn aber das Kind erwachsen ist, dann lehrt man es zu verstehen, was gut und was recht ist, und es erkennt dann, was das eigene Herz gebietet.

19.   Der Antrieb zur Sittlichkeit liegt nach den alten Religionen in dem Gedanken des Lohns oder der Strafe, nach der neuen Lehre in der Liebe zum Guten selbst.

Erl.: - Wenn du deinem Mitmenschen liebreich und gefällig bist, wenn du in der Not ihm hilfst, (so] wird er dir dankbar sein. Sollte er aber erfahren, du hättest das alles getan aus Verlangen nach Lohn bei Gott, so wird des Nächsten Dankbarkeit und der Wert deines Tuns verschwinden. Und wenn du das Böse unterlässt aus Furcht vor der göttlichen Strafe, so bist du dennoch böse.


 

Nein, das Gute tun aus Liebe zum Guten, es tun, weil man selbst gut ist, das Gute auch dann tun, wenn es einem Gefahr und Nachteile bringt, das Böse lassen, weil man es hasst, es [auch] zu lassen, selbst wenn es Vorteil und Lohn verheißt, das ist wirkliche Sittlichkeit.

Wer aus Sucht nach Lohn [oder] aus Furcht vor göttlicher Strafe handelt, der mag ein Frömmler sein. Aber er ist weder fromm noch tugendhaft. [Er] ist ein Lohndiener, der auf das Trinkgeld wartet oder ein Sklave, der die Peitsche fürchtet.

Hoffen wir, dass dieser Begriff von Sittlichkeit, wie er längst von allen Denkenden erkannt wird, auch in unseren Staaten und Schulen zur Geltung gelangen wird, damit die Zucht- und Strafhäuser durch gute Schulen mehr und mehr überflüssig werden. Gut aber werden die Schulen erst dann sein, wenn sie von der Kirche getrennt sind.

20.   Die alten Religionen suchen die sittliche Pflicht der Menschenliebe vornehmlich zu betätigen durch Almosen. Die neuzeitliche Religion sucht jene Pflicht zu betätigen durch solche gesellschaftlichen Einrichtungen, welche das Almosen entbehrlich machen.

Erl.: - Alle Religionen der Vorzeit stellen das Almosengeben als religiöse Pflicht dar. Es ist auch überall da notwendig, wo die gesellschaftlichen Zustände der Völker ungeordnet und unvollkommen sind.

Das Almosen ist eine natürliche Betätigung des menschlichen Mitgefühls, allein es ist anerkanntermaßen ein übles Heilmittel der Armut. Es entwürdigt den Empfänger des Almosens und unterhält mit dem Armen auch die Armut und den Müßiggang. Darum ist das Bestreben der Neuzeit darauf gerichtet, solche Einrichtungen, Verbindungen und Vereine zu schaffen, durch welche der drückende Unterschied zwischen arm und reich möglichst ausgeglichen wird [und] durch welche jeder arbeitsfähige Mensch in den Stand gesetzt wird, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu erlangen. [Auch muss es möglich sein], dass der Arbeitsfähige und Hilflose durch gesellschaftliche Hilfe erhalten werde, so dass jeder Einzelne seines Lebens Halt und Trost in der Gesellschaft findet.

Solche Einrichtungen sind möglich. Sie sind auch in ihren Anfängen schon vorhanden und werden sich fortschreitend entwickeln, doch nur nach Maßgabe des Fortschritts unseres gesamten gesellschaftlichen Zustands und namentlich im Fortschritt der Volksbildung. Die sozialen Bestrebungen der Neuzeit, richtig verstanden, sind sittlicher und religiöser Natur.


 

Allein, wer da glaubt, dass solche Einrichtungen plötzlich und auf einmal geschaffen werden könnten, wer von einer plötzlichen Umwandlung der menschlichen Gesellschaft träumt, der ist ein Schwärmer und wird seine Hoffnung ebenso getäuscht sehen wie die alten religiösen Apostel ihre Hoffnung auf das Himmelreich. Und wer zur Verwirklichung seiner sozialen Ideen die Gewalttat und die Leidenschaft der Menschen anfacht, der sät Unheil und wird solches ernten. Das Menschenleben ist ein steter Kampf gegen Übel, und jeder Fortschritt ist ein Freiwerden von einem Übel. Wenn das eine verschwunden ist, dann zeigt sich schon ein anderes. Noch kämpfen wir gegen sehr alte Übel. Noch sehen wir, wie die Völker einander gegenüber stehen, gerüstet mit Mordwaffen, als ob sie nicht gesittete Menschen, sondern allzumal Räuber seine.

Noch sehen wir, wie sich die Völker auf blutigen Schlachtfeldern einander gegenseitig morden, ihre Städte und Dörfer zerstören und die Früchte ihrer Arbeit vernichten. Und der ganze Überschuss, der Gewinn des Fleißes, welcher der Bildung, dem Unterricht, der Verschönerung und Erleichterung des Daseins, der Bekämpfung der Armut gewidmet sein sollte, er wird selbst im Frieden verschlungen durch die Waffenrüstungen.

Noch kämpfen wir um politische Freiheit, als ob wir Sklaven wären, deren höchstes Gut die Freiheit ist, als ob die Freiheit bei einem vernünftigen Zustand der Gesellschaft nicht selbstverständlich, nicht der vernünftige und natürliche Zustand wäre.

Noch sehen wir, wie in unseren Volksschulen und in der Kirche unter dem Namen der Religion die alte Weltanschauung der Völker aus Moses Zeiten mit ihrem Glauben und Aberglauben gelehrt wird, wie dagegen die in vielhundertjähriger Geistesarbeit errungenen Ergebnisse der Wissenschaft vernachlässigt und verachtet werden.

Noch sehen wir, wie manche Machthaber, priesterlich wie weltlichen Standes, das freie Denken und die Vernunft fürchten und die Unwissenheit als Regierungsmittel befördern.

Wer bei solchen Zuständen von einer plötzlichen idealen Umwandlung der Gesellschaft träumen kann, der muss schon tief schlafen, um die Wahrheit nicht zu sehen.

 

Wer aber diese Wirklichkeit sieht, der erkennt auch bei der neuzeitlichen Teilung der Arbeit die spezielle und besondere Aufgabe unserer freireligiösen Gemeinden:


 

-             Befreiung des Volkes aus der bisherigen Geistesunmündigkeit,

-             Kampf gegen geistliche und weltliche Geistesunterdrückung,

-             Führung des Volkes aus dem Dunkel des Kirchenglaubens zum Licht vernünftiger Erkenntnis.

-             Schaffung einer freien Religion auf Grundlage der heutigen Wissenschaft.

Das ist die Aufgabe, die schwere und umfassende Aufgabe unserer Religionsgemeinschaft. Und damit arbeiten wir an der Grundwurzel aller politischen und sozialen Reform und Besserung. Denn wenn die Zustände der Gesellschaft besser werden sollen, so müssen vor allem die Menschen besser, einsichtsvoller und vernünftiger werden. Die Menschen zu bessern ist die Arbeit der Aussaat, bessere gesellschaftliche Zustände sind die Frucht. Die Aussaat geschieht vornehmlich in der Schule, die Kirche soll zur Schule der Erwachsenen werden. Mag sich ein jeder von uns nach Neigung und Wissen an sozialistischen und politischen Vereinen beteiligen, die Aufgabe unserer Gemeinden als Gesellschaften ist eine religiös-kirchliche, eine Bildungsaufgabe.

Wer unsere Gemeinden von dieser seit mehr als einem Vierteljahrhundert betriebenen Arbeit abziehen will, wem diese Arbeit nicht erfreulich oder zu langweilig ist, wer unsere Gemeinden in unmittelbar politische oder sozialistische Vereine umwandeln will, der will ernten, wo nicht gesät ist; der zieht unsere Gemeinden ab von dem Arbeitsfeld, zu welchem sie berufen sind. Er missbraucht sie und verwirrt unsere Bestrebungen und unsere Ziele.

Nachschrift: „Grundgedanken der freireligiösen Gemeinden“ habe ich die obige Darstellung genannt, doch stets mit Rücksicht auf den unter uns bestehenden Grundsatz der freien Selbstbestimmung.

[Es] sind daher zunächst meine Gedanken [und] das Ergebnis meiner freien Selbstbestimmung. Sie beeinträchtigen die freie Selbstbestimmung meiner Genossen nicht. Sie sind [auch] nicht ein Glaubensbekenntnis im alten Sinne des Wortes, weil das Wesen unserer Gemeinschaft nicht ein festgestellter Glaube, sondern das freie Denken und die Erkenntnis ist.

Jahrtausende haben die Religionen des göttlichen Offenbarungsglaubens die Völker beherrscht, und ihr Glaubenszwang hat den Fortschritt unterdrückt [und] hat Sekten und Parteien ohne Zahl geschaffen.

Die Religion der Erkenntnis wird die Getrennten versöhnen.


 

Der Grundsatz der freien Selbstbestimmung ist zwar nur ein formaler, negativer Satz, [denn] er sagt nicht, wozu wir uns in freier Selbstbestimmung bestimmt haben. Allein jener Grundsatz ist demnach zunächst der praktisch nötigste. Er bezeichnet den Gegensatz gegen den bisherigen Zwang [und] er gibt der Vernunft ihre Freiheit und ihr ewiges Recht zurück. Er bezeichnet das Ende des vieltausendjährigen Glaubenszwangs [sowie] das Ende aller Glaubensunterdrückung und Glaubensforderungen. Jeder Offenbarungsglaube ist seiner Natur nach Zwangsglaube, und der Zwang erzeugt Parteien und Sekten und Streit. Die Freiheit ist Friede.

Ende

Hinweis: Die Schrift weicht insofern vom Original ab, weil Rechtschreibung und Interpunktion modernisiert wurde, die Diktion blieb weitestgehend (also nicht immer) erhalten.

Überall dort, wo der Text in eckigen Klammern [...] gefasste Worte aufweist, handelt es sich um Hinzufügungen des Bearbeiters. Sie dienen ausschließlich der besseren Lesbarkeit; sie wurden zum Beispiel überall dort vorgenommen, wo übermäßig lange Sätze die inhaltliche Klarheit gefährdeten. Deshalb konnte auf die Beifügung von Hilfswörtern nicht verzichtet werden.

Alle in runden Klammern (...) stehenden Worte sind originale Hinzufügungen von Wilhelm Hieronymi.


 

1873

 

Wie es zur Aufschrift über dem Eingang des Friedhofs der Berliner Freireligiösen Gemeinde kam

 

aus:

„Geschichte der

Freireligiösen Gemeinde Berlin 1845 – 1945“

Herausgeber: Freigeistige Gemeinschaft

(Freireligiöse Gemeinde) Berlin

Verlag Humanitas, Dortmund, 1981

 

Bis zum Jahre 1893 (?) war unser Friedhof öffentlich, d. h., es war Nichtmitgliedern möglich, ihre Angehörigen, auch wenn diese nicht Mitglied der Gemeinde waren, auf unserem Friedhof zu beerdigen. Es ergab sich daraus der Übelstand, dass die Angehörigen von solchen Toten häufig Inschriften auf die Grabsteine setzen ließen, welche den Ansichten der Gemeindemitglieder direkt entgegen standen.

Im Frühjahr 1873 war beschlossen worden, zwischen den Hauptpfeilern des Eingangs zum Friedhof ein Schild anbringen zu lassen mit der Aufschrift „Begräbnisplatz der Freireligiösen Gemeinde“. Über die Benutzung der Innenseite des Schildes entbrannte nun ein lebhafter Meinungsstreit, und aus den oben angeführten Gründen wurde beschlossen, hier eine Inschrift anzubringen, welche den Grundsätzen der Gemeinde entspräche. Von Herrn Schäfer war hierzu der Spruch:

„Wir fürchten und hoffen vom Jenseits nichts mehr,

Auf Besserung des Diesseits steht unser Begehr.“

vorgeschlagen und von der Gemeindeversammlung angenommen worden. Hinterher sah man aber ein, dass, wenn man vom Jenseits nichts mehr erhofft, damit der Glaube an ein Jenseits noch nicht aufgehoben ist, und so wurde auf Antrag des Dr. Jacobson der Beschluss, diesen anzubringen, wieder aufgehoben. Inzwischen waren verschiedene Vorlagen eingegangen; unter anderem von Herrn Rother folgender Spruch:

„Versöhne die Lebenden,

Die Toten sind tot;

Träume kein Auferstehen.“

Es wurde nun eine Kommission eingesetzt, und diese einigte sich in der Mehrheit auf folgenden Vers, dessen Verfasser auch Herr Rother war:

„Schafft hier das Leben gut und schön,

Kein Jenseits ist, kein Auferstehn.“


 

Die Minorität schlug vor:

„Was wir an Liebe uns erwerben,

Das dauert fort, wenn wir auch sterben.“

Beide Vorschläge wurden der Gemeinde unterbreitet und im Dezember 1873 wurde der von der Kommission mit Mehrheit ausgewählte Spruch [„Schafft hier...“] auch von der Gemeindeversammlung angenommen und prangt seit dieser Zeit auf der Innenseite des Schildes über dem Eingang unseres Friedhofes.

Unter dem Sozialistengesetz musste er eine Zeitlang durch Bretter verdeckt werden; er hat schon damals und seither noch manches Mal den Zorn aller Mucker hervorgerufen. Ihnen kann man nur entgegen halten: Betretet unseren Friedhof nicht, dann braucht ihr euch über den Spruch nicht zu ärgern.


 

1876

Die zehn Sittengebote der freien Religionsgemeinschaft

 

aus:

Johannes Ronge

„Die Religion als Anlage, Lehre und Leben“

 

 

1.       Liebe Gott, d. h. suche Gottes Wesen und Walten in der Natur und in der Menschheit immer mehr zu verstehen. Bemühe Dich, Dein geistiges Wesen von den göttlichen Ideen der ewigen Vernunft, Liebe, Gerechtigkeit und Schönheit zu durchleuchten und strebe, Gottes Gesetzen in Natur- und Geistesreich gemäß zu leben.

2.       Achte und ehre die Natur als Gottes ewiges Reich und Offenbarung, d. h. lerne die Natur immer mehr kennen in ihren Gedanken und Zwecken wie in ihrer Entwicklung und benutze ihre Kräfte und Gaben für Deine und Deiner Mitmenschen Beglückung und Vervollkommnung, denn nur so wird Gottes Reich auch Dein Reich.

3.       Liebe und achte alle Deine Mitmenschen, auch die Dir feindlich gesinnten, wegen ihrer Menschenwürde und Bestimmung, d. h. halte ihre Freiheit, ihre Ehre, ihre Rechte, ihr Eigentum und ihr Leben heilig. Stehe ihnen bei in geistigen und materiellen Nöten und schädige und missbrauche sie nicht für selbstsüchtige Zwecke.

4.       Achte Deine Menschenwürde hoch und heilig, d. h. lerne Dich selbst, Deinen Geist und Körper, deren Gesetze und Harmonie immer mehr kennen. Bilde Dich und lebe dieser Erkenntnis gemäß und erniedrige Dich nie durch Lüge und Laster, nie durch schlechte Gesinnung und böse Handlungen.

5.       Schließe die Ehe nur bei gegenseitiger Liebe und Achtung, geleitet durch Vernunft und für einen höheren Lebens- und Berufszweck.
Betätige und erhöhe Liebe und Achtung in der Ehe und halte sie heilig durch Treue.

6.       Eltern liebt und achtet Eure Kinder als Euch anvertraut vom Schöpfer für hohe Daseinszwecke. Erzieht sie an Geist und Körper für ihren Beruf, seid ihnen Vorbild und Ratgeber, auf dass sie selbst glücklich und Euch, dem Vaterland und der Menschheit zur Freude und Ehre leben mögen, und macht sie nicht und lasst sie nicht machen zu Werkzeugen der Selbstsucht und Herrschsucht.
Kinder achtet und ehrt Vater und Mutter und gehorcht ihnen als von Gott bestimmten Schützern und Lehrern mit reinem Herzen und seid ihnen dankbar in Gesinnung, in Wort und Tat.


 

7.       Erzieht und bildet, Ihr Lehrer, die Kindheit und Jugend im Geiste der Liebe und Achtung als der Familie, dem Vaterland, der Menschheit und Gottheit gehörig, gemäß den göttlichen Gesetzen im Wesen der Menschen. Seid ihnen Vorbild und betrachtet sie als bestimmt, die Träger  und  Vertreter  einer  höheren  Stufe der Bildung, Kultur undFreiheit zu sein.

8.       Arbeite und erfülle Deine Berufspflichten mit Liebe und aus freier Bestimmung, weil rechtes Schaffen und Arbeiten Dich beglückt, veredelt, geistig und körperlich gesund erhält, Dir Selbständigkeit, Achtung und Mittel verschafft und Dich zum ewigen Schöpfer emporhebt.

9.       Liebe und achte Dein Volk und Vaterland, d. h. erfülle Deine Pflichten für den Staat, indem Du dessen materielle und geistige Entwicklung, gemäß der sittlichen Kulturaufgabe Deiner Nation, förderst und wenn nötig Gut und Leben einsetzt für die Selbständigkeit, die Rechte und Freiheit und die wahre Ehre Deiner Nation. Achte aber auch die Selbständigkeit, die Rechte und Ehre anderer Völker und wirke dafür, dass die Gesetze der Humanität siegreich werden über Unterdrückung und Krieg.

10.   Achte die Religion als der Seele heiligste Kraft und als höchstes geistiges Kleinod, wodurch der ewige Schöpfergeist Dich und alle Glieder der großen Menschheitsfamilie zu seinem Ebenbild, zu Brüdern und Erben seines Reiches gemacht [hat].     
Durchleuchte diese Kraft fort und fort mit dem Licht der fortschreitenden Vernunft und Wissenschaft, mag sie als heilige Ahnung des Göttlichen, als Sehnsucht nach ewiger Wahrheit und ewigem Leben oder als Liebe für Gerechtigkeit, Glück und Tugend aus der Tiefe Deines geistigen Wesens aufsteigen. Lass die göttlichen Ideen der Religion Dich leiten und vertraue ihnen, auch wenn oft rätselhaft Deine Geschicke und dunkel Deine Lebenswege [Dir erscheinen mögen].

 


 

1877

Verfassung der Freireligiösen Gemeinde zu Berlin

 

„Menschenthum“,

Nr. 10. 17. März, 1886, Gotha,

Sonntagsblatt für Freidenker

- Organ des „Deutschen Freidenker-Bundes“ - ,

Herausgeber Dr. August Specht.

und

Geschichte der

 Freireligiösen Gemeinde Berlin

(1845 - 1945),

erschienen 1981

 

 

Was will die Freireligiöse Gemeinde?

1.       Wir nennen unsere Gemeinde zur Unterscheidung von anderen Religionsgemeinschaften eine freie. Unser leitender Grundsatz ist: „Freie Selbstbestimmung gemäß der fortschreitenden Vernunft und Wissenschaft auf allen Gebieten des Lebens.“

2.       Diese Freiheit behaupten wir einerseits in der unbeschränkten Selbstverwaltung aller Gemeindeangelegenheiten, andererseits als persönliche Gedanken- und Gewissensfreiheit, d. i. das Recht, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in letzter Instanz sein eigener Richter zu sein. Die notwendige Ergänzung bzw. Voraussetzung dieser Freiheit erblicken und erstreben wir in der unbedingten Lehr- und Lernfreiheit.

3.       Wir fordern diese Freiheit nicht nur für uns, sondern als gleiches Recht für alle. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit der Selbstbeschränkung und Selbstbeherrschung für den Einzelnen, der nur so weit frei sein kann, als er nicht die gleichberechtigte Freiheit seiner Mitmenschen beeinträchtigt. Die Überwindung des Konfessionalismus mit seinen verderblichen Vorurteilen und Vorrechten, auch im politischen und sozialen Leben, ist nur durch die gleiche Freiheit möglich.

4.       Unsere Gemeinde ist eine religiöse; doch verstehen wir unter Religion nicht irgendeine Beziehung zu einem außerweltlichen, übernatürlichen Wesen (Gott oder Teufel) und Leben (Himmel oder Hölle), sondern das mehr oder weniger bewusste, ewig menschliche Streben nach einem harmonischen Verhältnis zu der uns umgebenden Welt aufgrund unserer eigenen inneren Harmonie, d. h. unserer Wahrhaftigkeit und Gewissensfreiheit.

5.       Die Quellen der Religion sind uns die Natur und Vernunft, welche, wie alles, unter dem Gesetz der Bewegung und Entwicklung stehen, weshalb uns die Religion nach ihrer theoretischen Seite nicht irgendein feststehender (positiver) Glaube, sondern vielmehr das Streben nach allseitiger, tieferer Erkenntnis ist. Für die Pflege desselben erachten wir die Priester und Theologen mit ihren Mythen und Mysterien für entbehrlich, ja hinderlich.

6.       Nach ihrer praktischen Seite ist uns Religion wesentlich Sittlichkeit, wie sie sich vornehmlich in den menschlichen, d. h. sozialen und politischen Verhältnissen ausprägt, weshalb wir dieselben nach ihrer Gesetzmäßigkeit mehr und mehr begreifen und zu veredeln trachten. Unsere höchste sittliche Forderung ist das Streben nach demjenigen Gemeinwohl, in welchem zugleich das persönliche Wohl am besten gewahrt ist.

7.       Wir sind zu einer Gemeinde zusammengetreten, denn nur aufgrund einer einheitlichen, gesunden Organisation ermöglicht sich ein kräftiges, gemeinnütziges Wirken und eine praktische Lösung unserer Aufgabe der religiösen Reform. Es handelt sich dabei wesentlich um Volksbildung, und somit um die höchsten Güter unseres Lebens, die wir eben nur gemeinsam erringen, wie besitzen können.

8.       Unsere Gemeinschaft hat zunächst den Zweck, durch praktische Einrichtungen und Maßnahmen den Mitgliedern möglichsten Schutz vor Gewissenszwang zu gewähren und Gelegenheit zur allseitigen geistigen Ausbildung zu geben, insbesondere die Belehrung und Erziehung unserer Kinder in unserem Geiste durchzusetzen. Unser Endzweck aber ist die allgemeine Befreiung von jeder inneren und äußeren religiösen Vergewaltigung, in der wir eines der mächtigsten Hemmnisse des sittlich-religiösen, wie des politischen und sozialen Fortschritts erkennen.

9.       Wiewohl sich die Gemeinde gegenwärtig mit den vorstehenden Grundsätzen in Übereinstimmung weiß, so erachtet sie es doch für ihr Recht, wie für ihre Pflicht, dieselben jederzeit der besseren Erkenntnis gemäß zu ändern.

 

Angenommen am 12. Februar 1877.

 


 

Etwa um 1877

 

Käthe Kollwitz

beschreibt in ihren Lebenserinnerungen eine Situation aus ihrer Kindheit, die sich etwa um die oben angegebene Zeit ergeben haben muss.

 

„Ich will wirken in dieser Zeit“

Auswahl aus den Tagebüchern und Briefen

von Käthe Kollwitz,

Hrsg. Dr. Hans Kollwitz,

Ullstein Verlag; 1993

zitiert in „Wege ohne Dogma“

Juni 2002

 

 

Julius Rupp zählt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten der Gründergeneration Freier Gemeinden. Als Begründer der Freien Gemeinde Königsberg hatte er dort das Amt des Predigers inne. Sein Schwiegersohn, Karl Schmitt, übernahm in dieser Funktion später seine Nachfolge.

Schmitts Tochter war die später über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gewordene Künstlerin Käthe Kollwitz (1867 – 1945).

Mit ihren zeit- und sozialkritischen Werken war die Grafikerin, Malerin und Bildhauerin seinerzeit als Künstlerin umstritten, denn ihre Werke waren einer realistischen Darstellung mehr verpflichtet als den ästhetisch-künstlerischen Ansprüchen der damaligen Kunstsachverständigen.

Dass Käthe Kollwitz über ihren Großvater Julius Rupp und ihren Vater Karl Schmitt eine freireligiöse Erziehung genossen hat, und sicher auch aus dieser Prägung heraus ihr soziales Engagement zu erklären ist, gehört noch heute zu den eher unbekannten, weil nicht publizierten Fakten ihres Lebens.

 

In ihren Erinnerungen ist zu lesen:

Ich bin als fünftes Kind der Eltern geboren ... Bis zu meinem neunten Jahre wohnten wir auf dem Weidendamm. Immer haben wir Kinder mit Sehnsucht daran zurückgedacht. Es gab unendliche Spielgelegenheiten und viele Abenteuer auf den Höfen ... Ich konnte brüllen, dass es unerträglich war ... Kam der Bock zu Hause über mich, so hatten die Eltern die Methode, mich allein in eine Stube zu sperren, bis ich mich ausgebrüllt hatte. Geschlagen wurden wir nie.

Im Ganzen war ich ein stilles, schüchternes Kind und auch ein nervöses.


 

Später traten an Stelle dieser Anfälle von Eigensinn, die sich in Gestrampel und Gebrüll äußerten, Verstimmungen, die Stunden und Tage anhalten konnten ... Wir zogen jetzt in die Königstraße in eines der schönsten neuen vom Vater gebauten Häuser.

Für mich war Benjamins Tod noch mit besonders drückenden Seelen-umständen verbunden. Ich hatte von den Eltern sehr früh die Schwabschen Sagen geschenkt bekommen, und ich glaubte an die griechischen Götter. Ich wusste wohl, es gibt einen christlichen „lieben Gott“, aber ich liebte ihn nicht, er war mir ganz fremd ... ich saß auf dem Boden, hatte mir mit Klötzchen einen Tempel gebaut und war dabei, der Venus zu opfern.
Da ging die Tür auf ... Der Vater hatte mit dem Arm die Mutter umfasst ... und der Vater sagte, dass unser kleiner Bruder gestorben sei. Sofort wusste ich: Das ist die Strafe für meine Ungläubigkeit; jetzt rächt sich Gott dafür, dass ich der Venus opfere ... und der Großvater Rupp trat herein.

 


 

etwa um 1880

Magdeburger Grundsätze

 

aus:

„Der Humanist“

4/1970

dort als etwa um 1880 entstanden angegeben

 

 

1.            Wir wollen eine Gemeinschaft sein, welche die Pflege der Religion und Sittlichkeit bezweckt. Jede Parteipolitik ist innerhalb unserer Gemeinschaft ausgeschlossen.

2.            Wir sehen die Vernunft als die oberste Richtschnur für alles menschliche Denken an und können auch in religiöser Beziehung nur das anerkennen, was sich vor ihr als wahr erweist.

3.            Wir achten deshalb die Wissenschaft und sind stets bestrebt, uns mit ihrer Hilfe in unserer religiösen und sittlichen Erkenntnis weiterzubilden.

4.            Die Religion ist uns die innerste Angelegenheit des menschlichen Herzens, deshalb verwerfen wir jeden Glaubens- und Gewissenszwang.

5.            Die Bibel achten wir als die Urkunde der jüdischen und christlichen Religion, wir sehen in ihr aber ein menschliches, kein göttliches Buch; daher besitzt sie für uns keine Autorität in religiösen und sittlichen Dingen.

6.            Von einer Gottheit wissen wir nichts und lehnen darum jeden bestimmten Gottesglauben ab, besonders verwerfen wir den Wunderglauben, der mit der Gesetzmäßigkeit der Natur in Widerspruch steht.

7.            Wir lassen uns nicht auf ein Jenseits verweisen, wir Menschen können allein auf dieser Erde nach dem Guten streben und hier unser Glück suchen.

8.            Die Geschichte zeigt uns, dass alles Gute, das die Menschheit heute besitzt, durch menschliche Kraft zustande gekommen ist, deshalb können wir das Gute, das wir wollen, nur durch unser eigenes sittliches Streben erreichen.

9.            Gut handeln wir, wenn wir wünschen können, dass alle Menschen ebenso handeln möchten wie wir; gut ist, was dem Wohle des Einzelnen und dem der Gesamtheit dient.

10.        Unsere Religion ist somit Glaube an das Gute und Wille zum Guten.


 

1884

Religion

 

Eduard Baltzer

(gestorben am 4.06. 1887 im 73. Lebensjahr)

Im 70. Lebensjahr skizziert

 

1.    Unter Religion ist „Treu und Glauben“ des guten Gewissens zu verstehen, also das Allerheiligste des Menschenherzens und der Menschenseele, das in jedem unbedingt zu schätzen und zu pflegen ist.

2.    Der Irrtum des Gewissens ist nicht strafbar; nur die aus dem Irrtum fließende Tat, wenn sie mit den  bestehenden Gesetzen kollidiert, kann strafbar werden.

3.    Religion ist das stärkste soziale Bindemittel geistiger Art, und deshalb möglichst zu pflegen und zu läutern.

4.    Religion und folgeweise die religiöse Gemeinschaft ist am sichersten zu prüfen an den sittlichen Grundsätzen, die sie bekennt und betätigt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen!“.

5.     Je mehr religiöse Gemeinschaften und Bünde die sittlichen Prinzipien oben anstellen, desto mehr werden sie dem Frieden dienen und zur freien Eintracht mit dem Evangelium Jesu und mit dem Staat gelangen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 

1884

Zweck und Ziel

des Deutschkatholizismus

 

Georg Schneider

Vortrag gehalten am 9. März 1884

Am Stiftungsfest der freireligiösen Gemeinde

zu Wiesbaden

 

 

Als vor nun 39 Jahren eine kleine Anzahl von Männern, angeregt durch das götzendienerische Treiben Arnoldis, des Bischofs zu Trier und in Übereinstimmung mit dem begeisterten und begeisternden Appell von Johannes Ronge an alle Deutschen- und Christenherzen, in hiesiger Stadt zusammentraten, um dem Beispiel anderer Städte und Provinzen folgend, im Widerspruch gegen maßlose Ausschreitungen der römisch-katholischen Kirche, eine neue religiöse Gemeinschaft zu bilden, neu in Ansehung der Reinheit und Lauterkeit ihrer Grundsätze, die sich dem apostolischen Zeitalter der christlichen Kirche oder der Lehre Jesu unmittelbar selbst entnahm – da ahnte man noch nicht, dass damit der erste Schritt getan war zu einer Bewegung, die man sich längst gewöhnt hat, die Reformation des 19. Jahrhunderts zu nennen, eine Bewegung, die im Unterschied zu der Reformation des 16. Jahrhunderts nimmer still gestanden ist, noch jemals stille stehen wird, und die trotz vielseitiger aber fälschlicher Behauptungen in Kirchenkreisen, Konversationsbüchern und von Seiten missgönnender Geistlicher Gott zu Ehren, der Menschheit zum Ruhm und zu unser aller Freude lebt, blüht und gedeiht.

Es war ein kleiner Anfang, der damals gemacht wurde; gemacht zumeist von kleinen Leuten des Bürger- und Gewerbestandes unter keineswegs günstigen Bedingungen, unter Missgunst, Verdächtigung und Verfolgung, an Orten sonst weltlichen Zwecken dienstbar, mit wenigen Mitteln. Es war wie zu Beginn des Christentums. Unscheinbare Männer, sonst nicht gekannt und niemals genannt, traten auf, fern von den staatlichen Kultusstätten jüdischen oder heidnischen Glaubens, den unbekannten Gott zu verkündigen und die Menschen zu lehren, ihn, der da Geist ist, anzubeten im Geist und in der Wahrheit.

Der Ernst jener Männer, welche von ihrer Überzeugung getragen und geleitet, ihrer selbst nicht achtend, vor keiner Schmach zurückschreckten, der tiefe Gehalt der neuen Botschaft, die Tatsächlichkeiten des  vorhandenen Bedürfnisses nach einem neuen, lauteren Geist, ließen all jene Bedenken und Missstände gering erscheinen; die gute Sache wuchs und ehe drei Jahrhunderte vorüber sind, hat das Christentum den obersten Thron der Welt erklommen.

Es soll diese nahe liegende Parallele dazu dienen, uns für unsere Sache, die noch auf nicht weiter als 4 Dezennien zurückblickt, aufs Neue mit freudigem Mut zu begeistern, uns anzufeuern zu erneutem und immer emsigerem Streben; soll die Erschlaffung, wo sie droht, beseitigen; soll die Gleichgültigkeit, wo sie eingeschlichen ist, bannen; soll das Bewusstsein, dass wir einen guten Kampf kämpfen, stärken; soll die Hoffnung, dass wir obsiegen werden, beleben; soll uns alle der Zuversicht und der Gewissheit unseres endlichen Sieges froh werden und sprechen lassen: „Es muss uns doch gelingen.“

Die Bewegung des Jahres 1844 war zunächst eine rein katholische Angelegenheit, hervorgerufen durch einen katholischen Priester, weiter geführt durch katholische Christen, die der Mutterkirche wegen Überschreitung ihrer Befugnisse den Gehorsam glaubten versagen zu müssen.

Die Berechtigung des offenen Widerspruchs erzwang ihm jedoch eine vielseitige Anerkennung und Billigung auch bei Christen protestantischen Bekenntnisses, und so hat auch unsere Gemeinde der Freunde manchen gefunden, und viele Beweise betätigter Freundschaft namhaft machen können.

Dass die römisch-katholische Kirche der Ausgangspunkt unserer Bewegung ist, hat ihr den Namen des Deutschkatholizismus gegeben; ein Name, für viele freilich ein Stein des Anstoßes, aber doch nur ein Name, der mit dem Kern der Sache, mit unserem Wollen und Wünschen nichts zu tun hat, da er den Grundgedanken, in dem wir Freigemeindler uns eins fühlen – den Gedanken der freien Religiosität oder der religiösen Freiheit - nicht ausspricht. Schon längst setzen sich auch unsere Gemeinden nicht mehr nur aus ursprünglich katholischen Elementen zusammen, und es ist bemerkenswert, wie die jetzt Lehrenden in unseren verschiedenen Gemeinden fast ausnahmslos der evangelischen Kirche angehört haben.

Es ist ein allen reformatorischen Bewegungen, also auch der deutschkatholischen, eigener Zug, dass sie aus der Negation hervorgingen; wir haben dies genauer gelegentlich der Lutherfeier im vergangenen Jahr dargetan, und gezeigt, wie es sich zunächst immer nur um Abstellung verschiedener Missbräuche handelte, um Zurückführung der Machtbefugnisse aus einer angemaßten Höhe zu dem ursprünglichen Stand und daran anschließend um Beseitigung von Veraltetem und Überlebtem. So will auch Christus sein Werk aufgefasst wissen nicht als Stiftung einer neuen Religion, sondern nur als eine Reformation des Judentums; denn er war nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen[1]; aber dazu bedurfte es eines mannhaften Einschreitens, um alle Unsauberkeit, allen Irrtum, alle Falschheit zu beseitigen, einer umfassenden Tempelreinigung, wie sie die Evangelisten des neuen Testaments gewissermaßen als eine plastische Darstellung der geistigen Mission des Meisters in Israel in der bekannten Tempelgeschichte darstellen[2].

Ein anderes allen Reformationsbestrebungen gemeinsames Moment ist, dass seitens der Gegner der Bewegung allenthalben der Versuch gemacht wurde, die ursprünglich rein religiösen Absichten mit politischen zu verquicken. Die Juden gaben sich alle erdenkliche Mühe, Jesus, da er ihnen unbequem wurde, als einen Feind der römischen Oberbotmäßigkeit darzustellen; sie kennen die Verlegenheiten, welche das kommunistische Unterfangen eines Thomas Müntzer und Genossen [zur Folge hatte], dann welche Ungelegenheiten der Bauernkrieg einem Luther bereitete, und die 40er Jahre unseres Jahrhunderts sind Zeugen, wie die freireligiösen Bestrebungen Veranlassung zu politischen Verdächtigungen wurden. Es bedurfte einer langen Zeit und kostete viel Mühe, bis die Grundlosigkeit dieser Anfeindungen dargetan und die eigentliche Absicht der Bestrebungen klar gestellt wurde.

Die besondere Beschaffenheit dieses Tages, als des Geburtstags unserer Gemeinde, macht es uns zur Pflicht, zu unserer eigenen Läuterung und zu gegenseitiger Aufmunterung uns wieder einmal dasjenige zu vergegenwärtigen, was die reformatorische Bewegung des 19. Jahrhunderts verfolgt, um einerseits uns des Ziels unserer Bestrebungen aufs Neue lebhafter bewusst zu werden, andererseits aber zur Klarstellung der uns heiligen Sache bei denen, die vor der Hand uns noch ferne stehen.

Also was wollen wir?

Jeder unserer Sache Fernstehende folgt einer allgemeinen aber unrichtigen Anschauung, wenn er uns als Sektierer, unsere Gemeinde als eine besondere Sekte bezeichnet, welche, bei der jetzt wenigstens staatlich allgemeinen Toleranz geduldet, ihren Bestrebungen obliegen kann. Auch in dieser Beziehung geht es uns nicht besser als den ersten Christen, die von dem römischen Imperium nicht anders als jüdische Sektierer betrachtet wurden – doch mit mehr Recht als heute wir. Denn jene, die Erfüllung und Vergeistigung des Judentums durch Jesu Lehre verkündigend, verpflichten durch ein feierliches Gelöbnis auf den Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes und die symbolische  Taufe  die   Bekenner  zur  Glaubenseinheit  mit  ihnen,  eine  Glaubenseinheit, die gegenüber dem jüdischen Glauben nunmehr als christlicher Glaube auftritt.

Es ist das Wesen der Sekte die bewusste Einheit und Gleichheit der Glaubensvorstellungen, die Verpflichtung dauernd in derselben zu verharren und zwar gegenüber einer größeren und kompakteren Einheit, die sich Kirche nennt. So in England gegenüber der einen anglikanischen Kirche die Menge der Sekten, von denen jede einzelne bei ihren Gliedern die Gleichheit der religiösen Anschauung als Bedingung der Zugehörigkeit betrachtet.

Das Grundwesen der Sekte ist Zwang; der Glaubenszwang freier Gemeinden ist – Freiheit. Die Folge solchen Zwanges ist die Notwendigkeit eines Bekenntnisses, und das Vorhandensein eines Bekenntnisses bedingt die Verpflichtung der Einzelnen auf dieses Bekenntnis. Das Bekenntnis aber entsteht dadurch, dass eine Majorität über die Wahrheit und Richtigkeit seines Inhaltes entscheidet. Indem wir alles, was in diesen Sätzen ausgesprochen ist, negieren, befreien wir uns trotz unserer Verschiedenheit von der Landeskirche und, trotz der geringen Anzahl unserer Bekenner, von dem Vorwurf der Sektiererei und sind wir, sofern es sich um das christliche Bekenntnis handelt, keine christliche Sekte, denn – wir wollen Christen sein.

Christen zu sein, den christlichen Namen zu tragen, ist eine Willensäußerung der deutsch-katholischen Gemeinde hiesiger Stadt, die ihren Ausdruck schon in den 5 Sätzen gefunden hat, welche die erste konstituierende Versammlung als Grundlage für die Gemeindebestrebungen anführt: „Die Wahrung des christlichen Namens für unsere Gemeinschaft.“

Ob wir ein Recht dazu haben, Christen zu heißen, kann sich nur erweisen, wenn wir unsere religiösen Anschauungen dargelegt und gezeigt haben, was uns vom Christentum übrig geblieben ist, ob wir die Hauptsache desselben behalten und nur das Nebensächliche von der Hand weisen.

Lassen Sie mich als Voraussetzung aller folgenden Ausführung und als ersten Grundsatz für unsere Gemeinschaft den Satz vorausschicken: “Die Deutschkatholiken sind ohne bestimmtes Bekenntnis.“

Der mit der Entwicklung unserer Gemeinde Vertraute wird beim Anhören dieses Satzes nicht umhin können, uns der Inkonsequenz und der Untreue gegenüber unseren eigene Forderungen zu bezichtigen; wurde doch seinerzeit die Wahrung des christlichen Namens für die Gemeinde begründet durch die Beibehaltung des so genannten apostolischen Symbolum.

Allein wir betrachten diesen Vorwurf nicht als solchen, vielmehr sehen wir in der Beseitigung  des im ersten Augenblick der Entstehung unserer Gemeinden noch beibehaltenen Bekenntnisses nur eine Stufe in der Weiterentwicklung unserer religiösen Anschauungen, wonach wir es jetzt jedem Einzelnen überlassen, in religiösen Dingen sich selbst zu bestimmen.

Wir wollen freie religiöse Selbstbestimmung, darum glauben wir jedwedes Bekenntnis entbehren zu können. Wir halten es als eine Schmälerung menschlichen Rechts und menschlicher Freiheit, ja als eine Unmöglichkeit, bei der unendlichen Glaubensverschiedenheit unsere Anhänger auf ein bestimmtes Bekenntnis zu verpflichten und zu verlangen, dass die Überzeugung Soundsovieler nun auch ihre Überzeugung sein solle – ohne aber darum den in Überzeugung lebenden konfessionellen Christen die gebührende Achtung zu versagen.

Es liegt in der Natur der Sache, dass unter solchen Umständen nur ein allmähliches Wachstum der freien Gemeinden zu erwarten ist. Freie Selbstbestimmung ist nicht jedermanns Sache und die Macht der Gewohnheit, die Anhänglichkeit an die angeborene Religion und bei dem gemütvollen Menschen eine gewisse Scheu vor einem Religionswechsel ist trotz der üppig wuchernden Ungläubigkeit unter Gebildeten und Ungebildeten noch übergroß.

Also jedes christliche Bekenntnis wollen wir missen und dennoch Christen sein? Gewiss, meine andächtigen Zuhörer.

Es hat Christen gegeben, ehe es auch nur ein christliches Bekenntnis gab, und jetzt hat man die Wahl unter vielen. Macht doch die evangelische Lehre, die Zugehörigkeit zur wahren christlichen Kirche, zu der so genannten unsichtbaren Kirche, nicht von dem Bekenntnis abhängig! Das Bekenntnis ist nur etwas äußerliches, ist der kürzeste Ausdruck für die christliche Lehre, die wir die unsere nennen, deren Gehalt wir zu erkennen trachten, nach der zu handeln wir als unsere Lebensaufgabe ansehen.

Sind wir nun, da wir den Bekenntniszwang abgestellt haben, ohne Glauben? Keineswegs! Auch wir halten jene drei Stücke des ältesten christlichen Symbols fest, auch wir glauben an Gott, an Jesus von Nazareth, an die Wirksamkeit des ewigen Geistes, nur dass wir es dem Einzelnen überlassen, sich von allen Dreien die Vorstellung zu machen, die seinem Wesen, seinen Anschauungen und Begriffen adäquat ist. Eines aber halten wir besonders fest. So lange die religiösen Vorstellungen und Begriffe in das Reich menschlichen Willens und Erkennens fallen, lehren wir – Widerspruchslosigkeit mit den Ergebnissen menschlichen Erkennens und erstreben wir – Aussöhnung unserer religiösen Vorstellungen mit den Ergebnissen der Wissenschaft. Wo unser Wissen aufhört, hören auch wir auf, bestimmte Lehren zu geben, so in Anbetracht Gottes und seines Wesens, über Unsterblichkeit und das zukünftige Geschick der Welt.


 

Es kann hier nicht meine Absicht sein, unseren Glauben im Einzelnen näher zu erörtern; das muss die Aufgabe besonderer Vorträge bleiben. Um nur das Wichtigste auszuführen; wir glauben an Gott, als ein unpersönliches Wesen, das uns aller Welt Grund und Ursache ist, der Inbegriff alles Lebens und Seins, des Guten und Vollkommenen, die lebenschaffende und erhaltende Kraft voll Weisheit und Verstand. Wir halten fest an dem unvergleichlichen Vorbild, das uns Jesus von Nazareth, der Meister in Israel gegeben hat, und streben ihm nach; wir fühlen uns und die ganze Welt durchdrungen, belebt und beseelt von dem ewigen Geist, den wir als einen Geist der Weisheit und Wahrheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens pflegen und betätigen.

Mit einem Wort: Wir betrachten als Grundlage für unsere religiösen Vorstellungen die christliche Lehre.

Dass wir trotz alledem im Widerspruch mit der positiven Kirche stehen, hat seinen Grund darin, dass wir unter christlicher Lehre nicht diejenige verstehen, die von Christus ein für allemal festgestellt und bis auf den Buchstaben normiert ist; sondern eine Reihe von religiösen Anschau-
ungen und Vorstellungen, von Christus seinen Jüngern gegenüber gelegentlich geäußerten und von diesen je nach Auffassung des Einzelnen der Nachwelt überliefert, - eine Reihe von Vorstellungen, die auch wir und ein Jeder in seiner Weise und in Übereinstimmung mit seinen Anschauungen und denen seiner Zeit übernehmen, unbekümmert darum, ob andere dieselben Vorstelllungen ebenso oder anders fassen, also:

Wir wollen die christliche Lehre, aber aufgefasst in geistiger Freiheit.

Die Tatsache, dass im Laufe von achtzehnhundert Jahren Anschauungen und Begriffe über die Welt und die Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen andere, ja oft die entgegengesetzten geworden sind, lässt uns noch einen zweiten Vorbehalt bei Übernahme der christlichen Lehre geltend machen, nämlich den, mit den Waffen des Verstandes und der Vernunft sie auf ihren bleibenden Gehalt hin zu prüfen, das Veraltete und Überlebte auszuscheiden, das Bleibende und Ewigwahre aber zu behalten und zu beherzigen; mit bestimmten kurzen Worten:

Wir wollen die christliche Lehre, aber geläutert durch Wahrheit und Vernunft.

Sage niemand, dass bei freier Auffassung und vernunftgemäßer Läuterung der christlichen Lehre wenig oder nichts mehr übrig bliebe. Im Gegenteil, was jene kritische Arbeit von der christlichen Lehre ausscheidet, ist zumeist nur das Nebensächliche und Äußerliche; es bleibt – der Kern aller Religion, eine edle Sittlichkeit. Eine Sittlichkeit, die nicht nach kalten, äußeren Motiven handelt, eine Sittlichkeit, die das Gute tut, nicht um des  Lohnes  willen,  und  das Böse  nicht meidet  aus  Furcht vor Strafe,


 

sondern die Sittlichkeit – das gut, edel, hilfreich und fromm sein wollen aus Religion. Eine Religion hat für uns keinen Wert, wenn sie sich nicht betätigt, und die Kenntnis auch der christlichen Lehre ist zwecklos, wenn sie sich nicht in Taten mächtig erweist.

Nun wir wollen festhalten an der christlichen Lehre und sie nach dem Vorbild unseres unvergleichbaren Vorbildes Jesu von Nazareth betätigen in selbstloser Menschenliebe. Auch unser erstes Gebot ist: Du sollst Deinen Nächsten lieben wie dich selbst[3].

Soviel von unserer Lehre. Nun noch ein kurzes Wort über die Verfassung unserer Gemeinden. War die Gleichstellung aller in Sachen der Lehre allgemeine Voraussetzung, so kommt sie in der Gemeindeverfassung zur praktischen Geltung.

Nirgends ist der Idee des allgemeinen Priestertums eine größere Möglichkeit zu ihrer Verwirklichung geboten, als in den freien Gemeinden; bahnte die evangelische Kirche die Abstellung jener unchristlichen Scheidung zwischen Priestern und Laien bereits an, so ist die Tatsache doch erst in den freien Gemeinden geworden, die mit ihrer Verfassung bis zu den Tagen der urchristlichen Kirche zurückgegangen ist, die in freier Wahl die sich ergebenden Ämter einzelnen Mitgliedern der Gemeinde überträgt, ohne ihnen darum eine Sonderstellung oder gar eine übergeordnete Stellung einzuräumen. So jemand will dein Herr sein, er sei dein Knecht. Dieses Wort der Schrift versucht die freie Gemeinde zu betätigen.

Zusammenhängend mit dieser Verwerfung des priesterlichen Standes ist die Auffassung der beiden von uns beibehaltenen Sakramente, Taufe und Abendmahl. Wir haben sie als alte ehrwürdige Gebräuche der urchristlichen Vergangenheit übernommen, freilich ohne ihren sakramentalen Charakter, Kraft welches nach kirchlicher Lehre die Verwaltung derselben nur geweihten Priestern zustehe.

Wir taufen bei der Aufnahme in unsere Religionsgemeinschaft, wo es gewünscht wird, und wir feiern mit der geweihten Jugend das Herrenmahl zum Gedächtnis an Jesus von Nazareth, uns dabei aufs Neue seines Vorbildes erinnernd und uns selbst der Nachfolge gemahnend.

Auf diesem Wege hoffen wir dem gedachten Ideal einer allgemeinen Menschheitsreligion näher zu kommen. In solcher Weise wollen wir Christen sein, glauben wir wahres Christentum, das wir von wahrem Menschentum nicht unterscheiden, zu betätigen. So ist auch die Frage über Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Religion in unseren freien Gemeinden entschieden und bejahend beantwortet worden.

Möglich, dass auch wir, dem allgemein Menschlichen unterworfen, irrten, so soll man doch in Anerkennung unseres Strebens und bei unserer Übereinstimmung mit den köstlichsten Lehren des Christentums uns die Achtung nicht versagen, unseren Bestrebungen kein Hindernis zu bereiten. Die Zeit schreitet rüstig fort; der Freiheit Schwingen werden größer und größer. Der Geist der Wahrheit wirkt mit Macht; des Lichtes Strahlen leuchten mehr und mehr. „Die freie Gemeinde ist der Gedanke unseres Jahrhunderts, denn sie ist der Gedanke der freien sich selbst erlösenden Menschheit!“ Ihr, im Ideal, gilt das Wort des Dichters:

Frisch auf, frisch auf, du junger Aar,

Frisch auf zum gold´nen Sonnenlichte!

Aus deinen Augen hell und klar

Strahl eine neue Weltgeschichte.

Frisch auf, frisch auf und halte Wacht

Ob unsrer Zukunft hohem Tore,

Auf dass die alte Geistesnacht

Nie mehr den lichten Tag umflore!

Frisch auf, frisch auf und trag es fort,

Ein Gottesbote, durch die Erde,

Des freien Geistes, freies Wort,

Dass es zur Tat lebendig werde!

 

1884



[1]  Matth. 5, 17

[2]  Mark. 11, 15 - 17

[3] Lukas 10, 27