Freireligiöses Quellenbuch 1.

1857

Die Religion der Tatsachen

 

Leberecht Uhlich

„Die Religion der Tatsachen“

Selbstverlag,1857

 

Tatsachen reden - das weiß die Welt und richtet sich danach. Die Politik fügt sich und vergisst ihre ewigen Verträge, wenn eine geächtete Familie kaiserliche Machtvollkommenheit wieder erringt; das Handwerk weiß es, und ändert dem gemäß Werkzeug und Arbeitsweise; die Wissenschaft muss darüber ihre berühmtesten Lehrbücher fallen lassen.

Tatsachen wirken auf uns durch unsere Sinne. Durch Auge und Ohr und die fühlenden Fingerspitzen, durch Messen und Wägen überzeugt man sich, dass sie wirklich sind und dass man richtig aufgefasst hat.

Die Religion aber, so nimmt man gewöhnlich an, hat mit etwas zu tun, das weit über alle sinnliche Wahrnehmung hinaus liege. Darum ist es seit Jahrtausenden hergebracht, in der Religion Glauben zu fordern, zu fordern, dass dem Glauben der Vorrang gegeben werde, wenn die Tatsachen zu widersprechen scheinen, und wer dieser Forderung gehorcht, dem müssen die Tatsachen als etwas Geheimes, Unedles, Rohes vorkommen, das billig verstummen müsse, wenn die Religion, das Erhabene, das Heilige redet.

Aber zu allen Zeiten hat es Menschen gegeben, welchen das nicht einleuchtete. Sie glaubten den Tatsachen mehr als dem, was ihnen die Religion durch ihre Sprecher, Bücher oder Satzungen sagte. Sie wandten sich von der Religion ab und nannten sie, wenn sie zu sagen wagten, was sie dachten: Täuschung, oder mit milderem Ausdruck: Einbildung. Das rief auf der anderen Seite heftigen Widerstand hervor. Je mehr dort die Religion als das Reine, edle, erhabene betrachtet wurde, das über allen Dingen und Tatsachen schwebe, desto mehr mussten diese Ungläubigen für rohe und arge Menschen angesehen werden, welche nieder gehalten werden müssten, wenn nicht alles Edlere und Heilige im Menschen Gefahr laufen sollte.

 

Hatten sie nicht recht, diese Wächter und Verteidiger des Heiligtums? Sind es nicht eben die Tatsachen, welche uns täglich, wenn wir nicht auf der Hut sind, in den Staub der Gemeinheit und des Unrechts nieder ziehen wollen? Und sind es nicht die Tatsachen des Alltagslebens, welche uns durch ihre Wucht drücken, durch ihre harten Ecken stoßen, durch ihren Stachel schmerzlich verletzen, so dass wir alle nötig haben, zu etwas, das über ihnen steht, aufzublicken, um nicht Mut und Frieden zu verlieren.

Dem sei nun wie ihm wolle, das ist eine Tatsache, dass es heutigen Tages nicht mehr, wie sonst, einzelne Denker sind, welche dem Zeugnis der Tatsachen mehr Glauben beimessen als den Stimmen, die sich namens der hervorgebrachten Religionen vernehmen lassen, sondern dass ihre Zahl zu vielen Tausenden angewachsen ist. Diese Tatsache bezeichnen die Gläubigen mit der Klage: Die Menschen hätten keine Religion mehr.

 

Aber ist denn das wirklich ein Gegensatz: Tatsachen auf der einen Seite, Religion auf der andere?

Ist die Tatsache des Gemeine, Religion das Edle und Heilige? Ist die Tatsache das Sinnliche, Leibliche, der schlechte Staub, über welchem die Religion der belebende Geist schweben muss, so dass, recht bedacht, eigentlich nur die Religion das Wirkliche vorhält, während die Tatsachen, genau betrachtet, nur Rauch und Nebel sind?

So scharf und eifrig auch die Sprecher der Religion in hergebrachter Weise beides auseinander halten und die Tatsachen herabsetzen, so sehr machen sie sich dennoch selbst gerade mit den Tatsachen zu schaffen. Je weniger sie heutigen Tatsachen eine Stimme einräumen, desto mehr wissen sie alte Tatsachen hervorzuheben.

In jenen Tatsachen, dass Moses vierzig Tage auf dem Wolken umhüllten Sinai war, an jene, dass Jesus von Nazareth einige Jahre lehrte, heilte und am Kreuz starb, an jene, dass deutsche Fürsten Luthers und ihre Überzeugung auf dem Reichstag zu Augsburg in Sätze fasste, knüpfen sie alles Heil. Mit großem Eifer erzählen sie alte Tatsachen, die einst wider die bekannten Gesetze der Natur geschehen sein sollten, und wollen darauf ein ganzes Lehrgebäude von Vorstellungen, Geboten und Verheißungen gründen.

Da ist also der Unterschied zwischen ihnen und den Gegnern nur der, dass die letzteren sich nicht bloß auf alte, sondern auf alle Tatsachen, neu und alt, berufen und jeder dasselbe Recht zusprechen, dass ihre Stimme gehört werde; dass sie aber alte Tatsachen mit dem Maßstab messen, welchen die Beobachtung der Natur und das Studium der Geschichte an die Hand gibt, und ohne Scheu verwerfen, was sich nach diesem Maßstab als unmöglich oder als irrtümlich aufgefasst ergibt.

Und was ist es denn, was in dem einen Land der einen, in einem anderen Land der anderen entgegengesetzten Religion zur öffentlichen Stimme verhilft? Die geistige Macht der Wahrheit, das heilige und geheimnisvolle Walten der unsichtbaren Gottheit? - Es ist die Tatsache, dass in Österreich heute noch der Protestantismus herrschen würde, wenn seine früheren Kaiser ihn nicht mit Gewalt unterdrückt hätten. Es ist die Tatsache, dass in anderen deutschen Landen in wenigen Jahrzehnten die angeerbte katholische Religion darum verschwand, weil der protestantische Fürst sie verbot und seinem Verbot Nachdruck zu geben wusste.

Und heutzutage ist die Tatsache, dass in manchem Land niemand amtlicher Sprecher der Religion werden kann, wenn er nicht die Verpflichtung übernimmt, dieselbe in bestimmter alter Fassung zu lehren; dass er nicht im  Amt belassen wird, wenn er dieser Fassung widerspricht, dass auf den Universitäten die Stimme freier Forschung in der Religion verstummt, weil ein so Sprechender nicht angestellt wird. Es ist Tatsache, dass das offene Bekenntnis zu der Religion der Vernunft in manchem Land für jeden bürgerliche Nachteile nach sich zieht, ja dass die offene Verkündigung derselben geradezu verboten ist, so dass man die dort herrschende Religion, so sehr sie sich auf Übersinnlichkeit beruft, mit vollem Fug eine Religion gegenwärtiger allbekannter Tatsachen nennen kann. O wie oft, wo die Lippen von hohen Werten überflossen, sind es die fühlbaren und greifbaren Tatsachen des Geldes, des Amtes, der Gunst, die man haben wollte oder nicht missen mochte, gewesen, welche hinter diesen Worten als wahre Ursache standen!

 

Sagen wir es schlicht heraus: Alle Religion ruht ebenso wie jedes andere Reich menschlicher Gedanken, Bestrebungen und Tätigkeiten auf Tatsachen und kann auch gar nicht anders.

Die Religion der freien Vernunft aber, welche in dieser Zeit mühsam um ihr Dasein kämpft, welche sich an den meisten Stellen begnügen muss, in einzelnen Gemütern, in einzelnen Familien, in einzelnen Freundeskreisen ihren stillen Platz zu haben, welche, wo ihr ein öffentliches Leben gestattet ist, noch mit sehr schmalem Recht vorlieb nehmen muss, die Religion der freien Vernunft bekennt es offen, dass sie nur auf Tatsachen ruht, auf Tatsachen, die alle Welt kennt und untersuchen kann und soll. Und stellt es als eines ihrer wichtigsten Gebote auf, die Tatsachen allzumal, alte und neue, äußere und innere, scharf anzusehen und aus der besseren Erkenntnis derselben das, was als Religion im Herzen lebt, fortwährend zu berichtigen. Sie verweist das, was sich nicht auf Tatsachen stützt, in das Reich der Vermutungen, die dem Menschen unbenommen sind, aber nicht zur Religion gehören. Die Religion der freien Vernunft will Religion der Tatsachen sein durch und durch.

 

Was ist denn Religion?

Nicht wahr: Die Anerkennung einer Macht, vor der sich das Herz beugt, weil es dieselbe hoch über sich erblickt, der es sich unterzuordnen gedrungen fühlt, indem es sein höchstes Wohl, sein tiefstes Wehe von dieser Macht ableitet. Man denke sich den Religionsgenossen jedes Namens, jeder Bildungsstufe bei seiner frommen Übung, die Seele gerichtet auf seinen Gott oder auf einen seiner Götter, auf seinen Jesus oder Mohammed oder Buddha, aufschauend zu seinem Gottes- oder Heiligenbilde, oder anschauend wie der Neger zu dem Berg,  Baum, der ihm göttlich ist.

 

Man denke sich den Chinesen, der den Namen Gottes gar nicht hat, in seinem Tempel, wo er unter dem Namen des Himmels eine heilige Weltordnung verehrt; man stelle sich den selbständigen europäischen Denker unserer Zeit vor, der sich das heilige Gesetz seines Lebens klar macht: In allen lebt die Anerkennung einer erhabenen Macht, vor der sich die Seele beugt und der Gedanke und das Gefühl, dass sie ihr Leben dieser Macht unterordnen müssen.

Das also ist das Wesen der Religion, und das ist in uns geblieben, nachdem wir viel abgestreift haben, was uns als Religion anerzogen und gelehrt wurde. Das finden wir als einen Grundzug der Menschennatur in uns, den wir umso lebendiger und tiefer empfinden, je mehr uns das störende Beiwerk beseitigt ist. Nun, diese Macht, die wir in uns spüren und von der wir annehmen, dass sie auch außer uns da ist, muss sie sich denn nicht in den Dingen kund geben?

Gott nennen die Sprachen der Völker in den verschiedensten Klängen die Macht, und die Religionslehrer nennen Gott den Allmächtigen, Allwaltenden, Allgegenwärtigen, der alles in allem ist. Also alles, was uns umgibt, die Tatsachen eben, die durch Auge oder Ohr und Gefühl auf uns einwirken, müssen sie nicht Kundgebungen dieser Macht sein, und müssen sie mit dem, was sie dem aufmerksamen Beobachter kund geben, nicht recht haben?

Wenn die Religion nicht Einbildung, sondern Wahrheit sein will, so muss sie Religion der Tatsachen sein, und wenn sie wirklich einen lebendigen Gott hat, so muss sie das Ergebnis dessen sein, was alle die unzähligen Tatsachen der Welt und des Lebens täglich in die denkende Seele hineinreden. Was dem aber widerspricht, das muss, und wenn es noch so laute Sprecher hätte, verstummen und muss aus der Seele entweichen, wenn es auch mit eisernen Klammern befestigt wäre.

 

Da ist die Welt. Da ist diese ungeheure Fülle von Dingen, von deren Unübersehbarkeit noch keine Ahnung vorhanden war, als Salomo gepriesen ward, weil er alle Gewächse kenne von der Zeder auf Libanon
bis zum Ysop auf der Mauer.

Da strecken sich diese gewaltigen Ländermassen zwischen den Meeren dahin, von denen man noch keine Vorstellung hatte, als man das Zwanzigstel der Erde, [nämlich] die Länder um das Mittelmeer, die Welt nannte.

Da ist der Himmel, dieser ungeheure Raum voller Weltenheere, unter denen die Erde wie ein einzelnes Sandkorn ist, und jene alte Vorstellung davon, aus welcher das Wort floss: “Die Himmel erzählen die Ehre Gottes.“, ist gegen den wirklichen Himmel wie der Gedankenvorrat eines dreijährigen Kindes gegen den des Mannes.

Da ist der Grashalm, die Wiesenblume, die Eiche; da ist der Vogel in den Lüften, das Tier, das sich zutraulich an meine Füße schmiegt, das Geschöpfchen, das kaum sichtbar am Halm empor kriecht; da ist das Wasser, das bald als Dunst, als Regen, als Quell und Strom und Meer seinen Kreislauf hält, da ist die Luft, die sich in lindem Wehen und brausenden Stürmen ausgleicht, da sind die Welten, die in großen Bahnen umeinander kreisen.

Ist das, wenn ich darauf mein Auge ruhen lasse, wenn ich mir klar mache, was ich denn gesehen habe, wenn ich das Wesen, das Gesetz, die Entstehung, die Bewegung, das Ineinandergreifen dieser Dinge begreife, ist das Naturbetrachtung und nicht Religion? Ist solche Naturbetrachtung nicht vielmehr das einzig denkbare Anschauen und Erkennen der wirklichen Gottheit?

 

Da ist das Große, dessen meine Seele bedarf, um sich davor zu beugen, das Erhabene, das allen Völkern zu allen Zeiten in der Naturbetrachtung entgegen getreten ist und ihre Seele mit Schauern erfüllt hat, da ist’s, nur dass es uns jetzt in unzähligen, genau erkannten Tatsachen so bestimmt vor Auge und Seele tritt, wie noch nie einem Geschlecht vor uns. Da ist die Größe, für die uns alles Maß fehlt, die Erhabenheit, vor der unser Denken selbst ermattet, indem wir in ihr nirgends eine Grenze finden. Da ist die ungeheure Kraft, welche die Weltenbälle rollt und trägt, während sie zugleich den Staub um mein Angesicht wirbelt und in meinem Herzen pocht. Da ist das Leben, welches in allen Dingen webt und wallt, auch im regungslosen Stein in leisen Kräften wirkt, alles, alles in Bewegung erhält, und in allem, was die Menschensprache lebendig nennt, Lebenslust und Lebensgenuss schafft.

 

Da ist Gesetz und Ordnung, mag ich es nun von der Gestalt und Farbe der Blume oder von den Bahnen und Zeiten der Sterne ablesen, mag ich es aus der Zeichnung auf dem Flügel des Schmetterlings oder aus dem Wechsel der Jahreszeiten erkennen. Da ist steter Wechsel der Dinge, Empfangen und Abgeben, Entstehen und Vergehen, Werden und neues Werden überall. Da ist nicht eins, das nicht dem Ganzen diente, nicht eins, das nicht vom Ganzen wieder Dienst empfinge. Und das unzählbare Einzelne in seiner unübersehbaren Mannigfaltigkeit ordnet sich dem betrachtenden Auge zu dem einen großen herrlichen Ganzen zusammen, in welchem auch Störung, Schmerz und Tod Zeichen eines unvergänglichen Lebens und Quelle neuen Daseins und frischer Lebenslust, Dienst für das Ganze und Einzelne sind.

Ich selbst aber bin ein Glied des Ganzen, empfange immer von ihm, gebe immer an dasselbe ab, bin aus ihm hervorgegangen, werde in dasselbe zurücksinken, und die Kraft, die sich allenthalben offenbart, das Gesetz, das in allem waltet, das Leben, das durch alles pulst, trägt und belebt und regiert auch mich.


 

Das alles sind Tatsachen; ich sehe sie, höre sie, kann sie mit meinen Fingern betasten, die schärfste Untersuchung mit den künstlichen Mitteln, welche die neuere Wissenschaft den Sinnen zu Hilfe gegeben hat, bestätigt sie mir, lässt sie mich bis in die geheimsten Werkstätten der Natur und bis in die weitesten Fernen des Weltraums verfolgen, und im Pulsschlag und dem Kräftespiel meines eigenen Lebens finde ich sie wieder.

 

Eine Tatsache ist nicht unter ihnen, aber sie ist nicht minder gewiss als die, die mir in die Sinne fallen. Die Dinge, jedes in seiner Art, sind da, aber sie waren nicht immer da. Der Baum erwächst aus dem Samenkorn, der Schmetterling aus dem Ei, das ein Schmetterling vor ihm gelegt hat. Aber es gab eine Zeit, wo diese Art Bäume und diese Form von Geschöpfen noch nicht war, und vor dieser Zeit gab es eine, wo noch gar kein Baum wuchs und noch gar kein lebendiges Wesen auf Erden sich regte. Die Schichten der Erde, die uns die versteinerten Reste der untergegangenen Tiere und Pflanzen aufbewahrt haben, bis zu den untersten und innersten Schichten, die noch gar nichts weiter aufzubewahren hatten, geben uns Zeugnis davon.

Da steht also vor meinem inneren Auge die Tatsache, das die erhabene Kraft, die jetzt fortzeugend und erhaltend wirkt, einst auch schöpferisch wirkte. Und weiter zurück schweift der Gedanke bis dahin, wo dies schöpferische Wirken zuerst die Erden und die Sonnen ballte; und dann kann die Seele nicht weiter, wie sie keine Grenze findet, wenn sie den Raum zu durchfliegen sucht so findet sie keinen Anfang, wenn sie mit der Zeit dasselbe versucht, und keinen, wenn sie immer Ursache vor Ursache setzt, und nur das eine bleibt ihr: Schauerndes Gefühl vor dem Erhabenen, Unermesslichen, Unendlichen und Unergründlichen, auf dessen Betrachtung sie sich einließ, vor der Macht, die immer da war und ordnend, Form und Leben gebend, waltete. Also ein Gefühl, etwas Innerliches. Aber das ist keine Einbildung, denn Tatsachen, welche alle die schärfste Probe aushalten, sind es, welche diese Gedanken erwecken und mit denen diese Gefühle sich verbinden.

Bemerkung des Editors:

 

An dieser Stelle möchte ich darauf aufmerksam machen, dass die Theorie einer Evolution des Lebens erstmals 1859 durch Charles Darwin publiziert wurde und ab dann, nicht zuletzt aufgrund des erbitterten Widerstands christlicher Apologeten, weltweite Aufmerksamkeit und Verbreitung fand. Auch wenn zuvor die Idee bereits von Lamarck und auch Goethe geäußert worden war, ist es dennoch bemerkenswert, dass der freireligiöser Prediger Leberecht Uhlich den Evolutionsgedanken 1857, also bereits zwei Jahre vor Darwin, als einen Aspekt seiner freireligiösen Frömmigkeit darstellt.

Lothar Geis

 
 

 

 


 


Wir wenden uns zu dem, was uns am nächsten steht, und was uns das nächste, für unsere Betrachtung wichtigste bleibt, so oft es uns auch betrübt und ärgert, den Schwung unserer Gedanken lähmen und das Heiligtum unseres Herzens mit roher Hand antasten will. Das ist die Menschheit.

Die erhabene Ordnung, die uns aus der Natur entgegen leuchtet, scheint hier in regelloser Willkür untergegangen zu sein, und wenn dort selbst die Störung dem Ganzen dienen und auch der Tod neues Leben gebären muss, so scheint in der Menschheit die Störung nur neue schlimmere Störungen hervorzurufen, und Unsinn und Unheil ihren vollen Tummelplatz gefunden zu haben. Aber ich bin selbst ein Mensch; was liegt meiner Betrachtung näher als meinesgleichen, die Menschheit?

 

Greifen wir dann aus dem Gewimmel von Tatsachen in der Menschheit, mit denen jeder Tag uns umgibt, von denen wir von fern und nah Kunde bekommen, über die seit Jahrtausenden die Geschichte Auskunft gibt, zunächst einige heraus, die [zunächst], dass von den ältesten Zeiten her die Menschen Religion gehabt haben. Religion zu haben, ist also ein in der menschlichen Natur gegründetes Bedürfnis. Religion ist etwas naturwüchsiges, so gut als die Baukunst und als die Kunst,  welche den Menschen mit allerlei Schmuck und Zier umgibt. Diese Tatsache aber zeigt große Verschiedenheit in der Religion auf. Seinen Dorfbewohnern, die nicht über die nächsten Berge kommen, kann der Priester wohl glauben machen, dass das, was er lehrt, die Religion der Welt sei, und dass es außerdem nur hie und da noch einen Haufen armer, roher Heiden und einige Verblendete Ungläubige gäbe.

Aber es ist Tatsache, dass ein und dieselbe Religion, das Christentum zum Beispiel von ganzen Völkern in ganz anderer Fassung gehegt wird, dass es neben der Christenheit einhundertfünfzig Millionen Mohammedaner [1857] gibt, dass man in Asien dreihundert Millionen von Anhängern der Buddhareligion [1857] zählt, bei denen eine weit ältere Bildung herrscht, als bei den europäischen Völkern. Und so gibt es noch gar manche Religion in der Menschheit. Die Zahl der Christen mag etwa ein Viertel sämtlicher Bewohner der Erde betragen, die man auf eintausend Millionen [1857] anschlägt.

 

Es ist also Tatsache, dass die Menschen jene ewige Macht, von welcher die Natur Zeugnis gibt, sich auf sehr verschiedene Weise vorstellen und derselben auf sehr verschiedene Weise zu dienen suchen. Und während die Priester dieser verschiedenen Religionen behaupten, nur auf ihre Art des Dienstes und der Vorstellung sehe die Gottheit wohlgefällig und segnend [auf die Gläubigen] nieder, so leuchtet allen die Sonne mit gleichem Licht, trägt die Erde jedem Volk seinen Lebensunterhalt, entzieht sich die ewige Leben und Freude gebende Macht keinem ihrer Kinder,


 

und findet sich gute Tat und frohes Herz bei allen Nationen.

 

Ferner ist es Tatsache, dass in den verschiedenen Völkern zu verschiedenen Zeiten Meister im Denken aufstanden, und was diese als Ordnung der Welt und der Menschheit aufstellten, das nahmen die Völker allmählich an und nannten es Religion.

 

Es ist Tatsache, dass das niemals ohne Kampf geschah, einen Kampf, der manchem Meister selbst das Leben kostete. Ferner ist es Tatsache, dass, wenn endlich solchen Meisters Lehre den Sieg errang, sich auch Missverständnis und Missbrauch einschlich, das Wesentliche vom Unwesentlichen überwuchert ward, und das, was den Völkern Heil sein sollte, sich in den Vorteil einzelner Stände, in ein Zuchtmittel der Regierenden, in eine Domäne der Priester umwandelte.

 

Aber auch das ist Tatsache, dass von Zeit zu Zeit Arbeiter und Kämpfer auftraten, welche das Wesentliche von Wust und Zutat zu reinigen und weiter zu entwickeln suchten.

 

Es ist eine ungeheure Fülle von Tatsachen, welche dies Leben der Menschheit, wie es sich in Tausenden Völkern auf das allerverschiedenste ausprägt, wie wir selbst es beobachten, wie es uns in Reiseberichten aus allen Weltteilen vorliegt, und wie es uns seit vier Jahrtausenden die Geschichte berichtet, welches dieses Leben der Menschheit in sich schließt. Lehrreich sind sie alle; wir heben nur noch einige wenige der wichtigsten heraus.

 

Soweit die Spuren der Geschichte zurück reichen, hat jedes Volk angefangen, wie heute noch das Kind anfängt, mit wenig Kenntnis und wenig Leistung. Manche sind dann beim kleinen Anfang stehen geblieben. So gibt es heutzutage noch außerordentlich dumme und rohe Völker, die nur um wenige Stufen über der Tierheit stehen. Andere haben sich fleißig weiter entwickelt, sind geworden, was wir gebildet nennen, und haben in allerlei Kunst und Wissenschaft viel geleistet. Dabei zeigt sich derselbe Unterschied, den ein Vater an seinen mehreren Kindern wahrnimmt, nämlich dass die Anlagen verschieden ausgeteilt sind. So entwickelte sich beim Volk der Griechen das Schöne zu hoher Vollendung. Bei den Chinesen und Japanern im fernen Osten entwickelte sich der Sinn für Handfertigkeiten so stark, dass sie heute noch in vieler Beziehung unsere Handwerker übertreffen. Bei den Römern war es besonders der Sinn für das Ordnen menschlicher Verhältnisse, für Staatenbildung, der sie auszeichnete und zum Welt beherrschenden Volk machte. Die alten Deutschen  zeichneten sich  durch ein  unbändiges Kraftgefühl  aus, das, im Guten und im Bösen, vor keiner Unternehmung zurückschrak und sie in den Stand setzte, das Römerreich zu zertrümmern.

Die Völker in dem Winkel des mittelländischen Meeres, wo Asien und Afrika grenzt, waren die geborenen Denker über religiöse Dinge, so dass dort die drei wichtigen Religionen, des Judentums, Christentums und der Lehre Mohammeds, des Islams, entstanden. Aber auch das ist Tatsache, dass manches Volk stehen blieb, nachdem es eine bedeutende Stufe der Bildung erlangt hatte. So sehen wir es bei dem alten Bildungsvolk der Inder, überhaupt im Morgenland. Dagegen sind die europäischen Nationen seit Jahrhunderten in fortwährender Entfaltung, und wir selbst leben mitten in einer gewaltigen Bewegung, wo immer ein Fortschritt einen anderen weiteren hervorruft. 

 

Aber auch eine sehr dunkle Schattenseite tritt vor unser Auge, indem wir die unzähligen Trümmer überblicken, welche die Erde bedecken.

Sie sind in Amerika, wo die heutigen Eingeborenen tief, tief unter der Bildungsstufe stehen, von welcher diese Trümmer, Ruinen gewaltiger Städte und Tempel und Paläste Zeugnis geben.

Sie sind in Asien, wo einst blühende Staaten voll Millionen fleißiger Menschen waren, heute wenige Hirtenschwärme die weiten Öden beweiden. Da sind also ganze Völker untergegangen, vertilgt worden, die außer der rohen Kraft nichts hatten, was den Menschen auszeichnet.

Selbst in Europa fehlt solch Herabsinken von einstiger höherer Stufe nicht. Was war Griechenland, was war Sizilien einst und was ist es jetzt! Ist es in unseren Landen anders, so ist das eine nicht anders, dass Blut getränkter Boden überall ist.

Es liegt ein Zug in der Menschheit, vermöge dessen ihre Glieder gegeneinander wüten, wie wilde Tiere es niemals tun. Es braucht ja nur das kurze Wort „Krieg“ ausgesprochen zu werden, um der Seele eine Überzahl der düstersten und abscheulichsten Tatsachen vorzuführen; und wenn man sich dann in eigener Nähe umsieht, und die Erfahrung eines Lebens, das noch nicht lang zu sein braucht, überdenkt, so treten die tausend betrübenden Tatsachen eines stilleren Krieges des Einzelnen gegenüber den einzelnen vor unser Auge, dessen einzelne Züge Lug und Trug, Hinterlist und Grausamkeit, Habgier, Ehrgeiz, Herrschsucht, Unterdrückung und unsägliches Leid heißen.

 

Durch all diese Untat aber und all ihr Elend, so wie durch allen Irrtum der Menschheit in tausendfacher Gestalt seit Jahrtausenden, zieht sich als Grundzug das eine, dass die Menschheit nach Wahrheit, und noch nicht vergeblich, strebt, und dass sie der erkannten Wahrheit gemäß ihr Leben gestaltet; dass sie mit dem Unterschied zwischen wahr und falsch, zweckmäßig und unzweckmäßig zugleich den Unterschied zwi-


 

schen Recht und Unrecht findet und sich gedrungen fühlt, ein Gesetz für Tun und Lassen aufzustellen; dass sie als ihr Heiligtum, als Religion über sich stellt, in all dem vielfach irrt, so dass ihr Weg ein stetes Schwanken von der einen zur anderen Seite, oft auch als Rückschritt erscheint, dass sie aber dennoch, wenn man das Ganze der Zeit und der Menschheit übersieht, allmählich weiter dringt, währenddessen das Ziel, wonach sie ringt, das Wahre, das Rechte, das Glück immer erhabener und schöner von ihrer Seele aufsteigt, sie also auch zu immer weiterem Streben anspornt.

Sei man von den kläglichsten Erfahrungen umgeben; wer sich über die Gefühle, die sie ihm erwecken, erhebt und die Summe der Tatsachen, Geschichte der Menschheit genannt, in einem Blick zusammen fasst, was er sieht, ist nicht anders zu nennen als ein allmähliches Empordringen zur Vollkommenheit.

 

Ist das Einbildung? - Man traut dem freien Denken unserer Zeit zu, dass es den sittlichen Zug in der Menschheit für Einbildung erkläre.

Weil die, welche Auge und Ohr nicht verleugnen, und alten Sagen und Sätzen den Glauben verweigern, indem sie den Sinnen, dem Fernrohr und dem Mikroskop und allen Mitteln, womit der Mensch in die Natur der Dinge eindringt, Glauben schenken, weil diese sich stets auf Tatsachen berufen, so nimmt man an, dass sie nur von dem, was die Sinne berührt, von den Stoffen und ihrer Wechselwirkung etwas wissen wollten, den Geist aber und alles, was geistig ist, leugneten. 

Materialismus heißt das Wort des Vorwurfs, das heutzutage auch manchen von denen schreckt, die längst nicht mehr an die alten frommen Sagen glauben, nun aber bange sind, die Menschheit einer Richtung verfallen zu sehen, wo zuletzt nur noch der Magen der Gesetzgeber der Welt sein würde. Wie kann denn aber freies Denken bei offenem Auge und Ohr und ehrlichem Mund, um auszusprechen, was diese wahrnehmen, wie kann es den Geist leugnen? Empfangen denn nicht alle Sinne tausend Zeugnisse über ihn? Ist er nicht auch Tatsache, wie nur irgend etwas Tatsache ist?

 

Da ist um uns her das Land, das einst Wald bedeckt, Sumpf durchzogen, einzig von Tieren belebt war, nicht anders, als hie und da in fernen Erdteilen sich noch die Einöden finden. Jetzt ragen Städte und Dörfer empor, und zwischen ihnen sind Felder mit Getreide bedeckt, Gärten und Straßen und Baumreihen und eingedämmte Flüsse und Brücken und Wagen und Schiffe und dampfende Schornsteine und allerlei Geräusch der  Arbeit.; und woher? - aus der Werkstatt des Geistes. Das alles ist erst ein Gedanke gewesen hinter einer menschlichen Stirn. Da wurde zuerst in Gedankenarbeit das alles gestaltet, und dann regten sich Hände und trugen das Material zusammen und schufen, was einst nicht da war. Nicht ein Stück Kleidung tragen wir an uns, nicht einen Bissen Speise führen wir zum Mund, nicht die kleinste häusliche Arbeit verrichten wir, ohne dass wir mit Werken des Geistes zu tun hätten.

Das ganze menschliche Leben ist von Tatsachen voll, welche vom Geist, seinem Leben und seiner Kraft Zeugnis geben. Wie groß aber diese Kraft ist, das beweisen Himmel und Erde, die dem mächtigen Geist immer mehr ihre Schätze aufschließen müssen, und die Elemente beweisen es, die er immer besser zu tausendfachem Dienst zu zwingen versteht.

 

Wie kann es einem vernünftigen Menschen einfallen, den Geist zu leugnen, da selbst dieses Leugnen nicht einmal ohne geistige Tätigkeit geschehen kann?

Neben dem Spiel der Kräfte, das wir das Leben nennen und das wir auch die Tiere führen sehen, geht es bei uns Menschen immerfort her, Hand und Hand mit ihm, die Tätigkeit der Gedanken.

Innen wird denkend vorbereitet, was die Hände machen, wohin die Füße schreiten, was die Lippen aussprechen sollen. Die ganze Welt, die durch die Pforten der Sinne hinein leuchtet und klingt, nimmt der Geist in sein Gedankenreich auf, verarbeitet sie da, auf dass er ihr Wesen verstehe und greift dann von dieser Werkstatt wieder in die Welt hinein, dass er sie zu seinen Zwecken umgestalte.

Dabei leitet ihn der Magen und allerlei anderes sinnliches Bedürfen und Begehren, aber es leitet ihn auch das Gesetz, dass er eben durch Gedankenarbeit in sich selbst findet, und je fleißiger und ernster diese Gedankenarbeit ist, desto mehr findet er Gesetze in sich, welche er über die Forderungen des sinnlichen Bedürfens stellt.

So haben  - das ist so gut Tatsache wie irgendeine andere - schon die Völker der Urzeit aus innerer Nötigung nicht anders gekonnt, als dass sie die Gesetze aufstellten: Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht lügen. So sind sie von den Verboten zu den Geboten weiter geschritten: Du sollst den Leidenden helfen, du sollst dem allgemeinen Besten dienen, und zur Krönung: Du sollst die Menschen lieben. Und jeder von uns - das ist Tatsache so gut wie irgend eine - findet innere, dauernde Befriedigung nur dann, wenn er diesen höchsten Gesetzen all die anderen  Regungen und Ansprüche seiner Natur unterordnet.

 

Tatsache ist es, eine der lebensvollsten, sichersten, bei der keine Selbsttäuschung stattfinden kann, wie bei äußeren Tatsachen so oft - schlichte Tatsache ist es, dass ich ein Gewissen habe, dass mich das innerste Wesen meiner Natur treibt, ein guter Mensch zu sein, und dass ich nur, wenn ich das bin und immer mehr werde, zufrieden und selig werden kann, ebenso wie es Tatsache ist, trotz aller lügnerischen und ungerechten und grausamen Treibens in der Menschheit, dass in ihnen

allen das Gewissen Gericht hält und, je nachdem [wie] sie sind, seine Seligkeit oder Unseligkeit austeilt.

 

So hätten wir aus der Betrachtung der Welt, aus der Überschau über die Menschheit und aus der Einschau in uns selbst, wobei wir nur Tatsachen ins Auge fassten und alle Vermutungen und Möglichkeiten beiseite ließen, wir hätten daraus die Haupttatsache gewonnen: Eine lebendige, die Welt erfüllende Macht, Gottheit genannt, ein stetiges Empordringen der Menschheit zur Vollkommenheit, und in jeder Menschenbrust das Gewissen als oberstes Gesetz des Menschenlebens.

 

Und diese drei sind eins; denn jener Grundtrieb in der Menschheit ist ebensowohl eine Kundgebung der Gottheit, als das Gesetz in der Weltenbewegung und im Safttrieb des Grashalms, und mein Gewissen ist nichts anderes, als die Kundgebung des Gesetzes der Menschheit in der einzelnen Brust.

 

Ist das nun Religion? Ja, wenn ich es nicht bloß als Vorstellung in mir trage, sondern es zugleich mein Herz bewegt und meinen Willen regiert; dann lebt es in mir als heilige Macht, der ich mein Leben unterordne, und das ist ja Religion. Was wäre es denn anders? Es ist die Religion der Tatsachen.

 

In der Religion der Tatsachen gelten nicht bloß alte, sondern alle Tatsachen; alte berichtete Tatsachen gelten nur soweit, als sie sich als wahr erweisen.

Jede bewährte Tatsache aber hat darin ihr volles Recht, und wenn bisherige Vorstellungen nicht dazu passen, so müssen sie danach berichtigt werden. Dadurch fällt vieles weg, was bisher als Religion galt, vieles aber wird zur Religion, was bisher nicht dafür galt. Aus allem ergeht die Stimme der Gottheit, aus allem; vernommen aber werden alle diese Stimmen vom Geist im Menschen, und indem er sie prüft, ob er sie recht vernommen habe, so verfährt er nach dem Gesetz der Gottheit, das er in sich findet. Gottheit innen und außen; die Gottheit innen reicht der Gottheit außen die Hand; sie sind eins.

 

Innen aber werden Gedankenreihen angeregt, welche auf Ergebnisse führen, die über alle Tatsachen hinaus liegen. Die Seele sucht sich von der Gottheit eine Vorstellung zu machen, wie sie von allen Dingen Vorstellungen in sich trägt. Auf diese Weise sind die allerverschiedensten Vorstellungen von Gott in den bisherigen Religionen entstanden. Auf diese Weise sind die Gedanken weit über die Schranken der Tatsachen hinaus auf die Vorstellungen von Himmel und Hölle geführt worden.


 

Der Geist selbst aber hat versucht, sich von seinem eigenen Wesen eine Vorstellung zu machen, hat sich abgetrennt von seinem Körper, sich als ein besonderes Wesen gedacht.

Das alles mag er; wer darf dem Geist die Flügel binden? Er mag diese Vorstellungen auch zu seiner Religion rechnen, aber sie sind Gedankendinge, nicht Wirklichkeiten, Vermutungen, nicht Tatsachen; sie sind dann eben nur seine, des einzelnen Menschen Religion.

Haben die bisherigen Religionen sich viel mit solchen Vermutungen zu tun gemacht? Jawohl, weit mehr als mit den Tatsachen; sie haben die Vermutungen über die Tatsachen gestellt, haben gerade in den Vermutungen das Heiligtum, das ewig Gültige gefunden, und gerade daraus sind die verschiedenen Religionen und viel Streit,  viel Sünde und viel Elend entstanden.

 

Was Religion für alle sein soll, das kann nur auf Tatsachen, äußeren und inneren, ruhen, deren Erkenntnis und Beurteilung jedem zugänglich sein muss.

Da aber die Menschheit in steter Entwicklung begriffen ist, also immer mehr Tatsachen und die bisher schon erkannten immer richtig erkennt, auch ihre eigenen Denkgesetze immer besser versteht und anwenden lernt, so kann die Religion auch nie vollendet sein, sondern muss mit der Menschheit zugleich der Vollkommenheit entgegen gehen. So wie sie aber auf Tatsachen ruht, so muss sie sich auch durch Tatsachen bewähren, nämlich durch ein Leben, das ihren Gedanken entspricht, durch ein Leben voll Gerechtigkeit und Liebe, reich an Frieden im Innern und an Segen um sich her.

 

Wohl uns, dass heute schon, wo die Religion der Tatsachen wohl noch lange lange auf die Herrschaft in der Menschheit wird warten müssen, diese Bewährung täglich in unserer Macht steht!

1857

 

 

 

 

 

 

 

 


 

1859

Handbüchlein der freien Religion

 

1859

Leberecht Uhlich

Selbstverlag

Magdeburg

 

Vorrede

1.  Mit diesem kleinen Buche versuche ich in kurzer Zusammenfassung dasjenige zu geben, was mir und vielen Menschen, mit denen ich verbunden bin, Religion ist. Ich bin der Meinung, dass das, was hier gesagt ist, als Überzeugung in dem größten Teil meiner irgend gebildeten Zeitgenossen lebt. Daraus habe ich es abzuschreiben versucht; meine Zutat dabei ist weiter nichts als Ordnung, in welche es gestellt, und der schlichte gemeinverständliche Ausdruck, in welchen es gefasst ist.

 

2.  Will jemand aus dem kleinen Buch erkennen, welches der Inhalt der Religion der jetzigen freien Gemeinden ist, so glaube ich sagen zu können, dass dasselbe der Hauptsache nach diesen Inhalt darbietet. Jeder andere aus freien Gemeinden würde vieles anders dargestellt und anders geordnet haben; aber die Grundgedanken würden auch in seiner Darstellung dieselben sein. Das folgt eben daraus, dass unsere Religion nichts weiter sein will, als der Inbegriff der besten Gedanken, welche das Menschengeschlecht bis heute erworben hat.

 

3.  Will jemand das kleine Buch dem religiösen Unterricht der Kinder zugrunde legen, so kann ich ihm sagen, dass eben dieser Gedankengang mich beim Religionsunterricht von meinen und meiner Freunde Kindern leitet, und kann auch aus langjähriger Erfahrung hinzufügen, dass die Kinder alles, was hier gesagt ist, verstehen und dass es ihnen eine Lust ist, damit beschäftigt zu werden. Ich bitte dann nur - was sich freilich von selbst versteht - dass der Erwachsene vorher genau durchliest und durchdenkt, was er nach Anleitung dieses Büchleins dem Kinde beibringen will. Ich halte jeden Vater, jede Mutter, jeden Ungelehrten dazu fähig, der gesunde Vernunft und ein redliches Herz hat.

 

4.  Mögen einzelne Abschnitte dem Verständnis des kleinen Kindes noch zu viel zumuten; diese werden ohne Schaden aufgehoben werden können, und das reifer gewordene Kind wird sie verstehen. Sollte man zu Vervollständigung des kleinen Buches beim Unterricht ein Spruch- und Versbüchlein wünschen, so bin ich gern bereit, ein solches nachzuliefern.

Uhlich

Magdeburg, Michaelis 1859

Die Welt

1.  Wir wollen uns ein wenig in der Welt umsehen. Das tut ein jeder gern. Der Mensch kann es durch seine Gedanken, auch wenn er in der Stube ist.

 

2.  Wir sehen über uns den Himmel, um uns und unter uns die Erde. Auf dieser ist sehr vieles; da ist das Mineralreich, das Pflanzenreich, das Tierreich.

 

3.  Sind denn wohl die Steine, die Erde unter unseren Füßen wert, dass man sie betrachtet?

Betrachte sie nur, du wirst Merkwürdiges genug an ihnen finden. Da ist der Kalkstein, der im Feuer mürbe wird, dann mit kaltem Wasser begossen ins Kochen gerät. Da ist der Ton, der kein Wasser durchlässt, der geformt und zu Gefäßen gebrannt werden kann. Da ist der Sand, der in heftigem Feuer schmilzt und zu Glas wird. Da ist die fruchtbare Erde, in welcher vieles von früheren verwesten Pflanzen und Tieren steckt. Da ist das Salz, das im Wasser schmilzt und dann zu Kristallen wird. Da sind die Metalle, die uns so viel Nutzen schaffen.

Merkst du wohl, dass jedes dieser Dinge seine besondere Art hat, dass in jedem ein Gesetz steckt?

 

4.  Mehr ziehen die Pflanzen unsere Blicke auf sich. Welch eine Menge, wenn ich nur eine einzige Gegend übersehe! Welch eine Farbenpracht am Grün der Blätter und an den Blüten und Früchten! Welch eine Mannigfaltigkeit, wenn ich nur die Blätter der verschiedenen Gewächse vergleiche! Welch ein wunderbares Leben, in dem aus
dem kleinen Keim des Samenkorns allmählich ein stattlicher Baum wird!

Merkst du, wie auch da alles sein Gesetz hat?

 

5.  Im Tierreich tritt uns endlich volles Leben entgegen. Das kriecht, läuft, fliegt, schwimmt, wohin es will. Welch ein Gewimmel auf der Erde, im Wasser, in der Luft! Jedes Tier, wie wunderbar sein Bau, zusammengesetzt aus Werkzeugen zur Bewegung, zur Ernährung, Atmung! Vom Ei bis zum vollkommen ausgebildeten Wesen, welch wunderbare Entwicklung, über die man sich bloß darum nicht wundert, weil man daran gewöhnt ist! Und in allen Empfindung und des Lebens Lust. Auch beim Tierreich hat alles sein Gesetz.

 

6.  Um uns und über uns ist die Luft, die den ganzen Erdball wie einen Mantel umgibt, die wir atmen, die wir, wenn sie fließt, als Wind empfinden, in der die verschiedene Witterung sich erzeugt. Das Wasser ist in den  Meeren,  zieht in der Luft als  Wolken dahin,  rinnt von den Gebirgen als Bach, Fluss und Strom in das Meer, durchdringt den Boden der Erde, und gehört, wie die Luft, zum Bestehen alles Wachsenden und Lebenden. Der Erdboden selbst unter unseren Füßen besteht aus lockeren und festen Stoffen, aus Erd- und Felsenschichten, und auch vom Erdboden dienen allerlei Stoffe zum Bestehen des Gewächses und der lebendigen Wesen. Wir sehen, wie immer eines dem anderen dient.

 

7.   Die ganze große Erde ist eine Kugel, auf deren Oberfläche ringsum wir Menschen [und] die Tiere wohnen und die Pflanzen wachsen. Im Innern der große Kugel ist Glut, die aus Feuer speienden Bergen hervorquillt und Erdbeben bewirkt. Schon sehr lange besteht der Erdball und hat schon viele Veränderungen durchgemacht. In den Versteinerungen der Felsenschichten sind uns viele Reste früherer Gewächse und Tiere aufgehoben. Man kann sagen, der Erdball habe auch sein Leben, so wie man sagen kann, Luft, Wasser haben ihr Leben, wenn es auch anders ist als das Leben der Tiere und Pflanzen.

 

8.  Noch viele solcher gewaltiger Weltkugeln wie die Erde sind vorhanden. Wir sehen sie als Mond und Sterne leuchten. Die Sonne ist für uns die wichtigste dieser Kugeln, denn um sie herum schwebt die Erde in regelmäßigem Lauf und empfängt von ihr Licht und Wärme. Die meisten Sterne sind auch solche Sonnen, die uns nur wegen ihrer großen Ferne klein erscheinen. Und jede hat auch ihre Art Leben, und dies Leben hat seine Gesetze.

 

9.  Die Welt, das heißt der ganze Inbegriff aller dieser Sonnen- und Erdenkugeln, ist ungeheuer groß, und niemand kann sich Grenzen denken, wo sie aufhören, denn wenn man sich eine Grenze denken wollte, so würde man von selbst fragen: Was ist dahinter? Ebenso kann man sich keinen Zeitpunkt denken, wo die Welt angefangen hätte, und keinen Zeitpunkt, wenn sie aufhören sollte; man würde von selbst fragen: Was war denn vorher? Was ist denn nachher? Dass vorher nichts gewesen wäre, und dass nachher nichts sein würde, dies kann man sich nicht denken. Man nennt das sie Unendlichkeit und die Ewigkeit der Welt. *

 

 

10.In allen Dingen spürt man eine Kraft. An allen Dingen bemerkt man Gesetze. Alles ist in Bewegung. Alles ist in steter Veränderung. Alles

 

 


 


wirkt  aufeinander. Darum kann an sagen: Jedes Ding hat sein Leben, und das große Ganze, das Weltall, hat auch sein Leben, wo jedes mit jedem zusammenhängt.

 

11.Ich selbst, der ich ein  Mensch bin, ich bin aus den Dingen der Welt zusammengesetzt; ich bestehe durch sie, ich löse mich wieder in sie auf, ich bin ein Teil der Welt, sie ist meine Heimat. Darum ist es recht, dass ich sie betrachte und kennen lerne. Das kann ich auch, während es  die  anderen  Wesen  nicht  können; darum soll es mir eine Lust sein.

 

 

Die Menschheit

1.       Wenn es mir eine Lust ist, die Welt und alle ihre Dinge zu betrachten und kennen zu lernen, so ist es mein eigenes Geschlecht, die Menschheit, dessen besonders wert.

 

2.    Es leben jetzt auf der Erde etwa 1288 Millionen Menschen; auf Europa kommen 272 Millionen, auf Asien 755, auf Afrika 200, auf Amerika 59, auf Australien 2 Millionen.

Der Farbe nach gibt es 369 Millionen weiße, 522 Millionen gelbe, 196 Millionen schwarze, 200 Millionen braune [und] 1 Millionen kupferfarbene *

 

3.       Die Menschen sind auch in anderen Stücken außerordentlich verschieden. Sie sind verschieden an Gestalt, an Gesichtsbildung, an Kleidung, Wohnung, Nahrung, Verrichtung. In der Ausbildung ihres Geistes stehen sie auf den verschiedensten Stufen, von der untersten Stufe der Rohheit an, an welcher die wilden Völker Australiens und Amerikas stehen, bis zu der  hohen Stufe der Bildung hinauf, welche die europäischen Völker erstiegen haben.

 

4.       Aber leiblich und geistig haben sie alle gewisse Grundzüge gemein, um deren willen sie sich alle als Glieder einer Familie erkennen müssen. Indem ich von jemand sage: Er ist ein Mensch, so ist damit gesagt: Ich muss ihn als Glied meiner Familie anerkennen und ehren.

5.       Aus der Vergangenheit hat man Nachrichten von der Menschheit bis zu viertausend Jahren zurück. Vermutlich haben aber schon viele Tausende Jahre vorher Menschen gelebt, aber in dem rohen Zustande, in welchem man heute noch wilde Völker findet.

6.       Irgend einmal hat die Menschheit einen Anfang gehabt, das heißt, es ist ein Paar,  oder an verschiedenen Stellen der Erde  je ein Paar


 

entstanden, welches keine Eltern hatten. Wie das geschehen ist, davon haben wir keine Vorstellung, weil seit Jahrtausenden alles, was lebt, von Eltern abstammt.

 

7.       Die Menschen haben alles, was sie jetzt wissen und können, aus sich selbst erkennen müssen; bloß die Fähigkeit zu diesem Erlernen war ihnen  angeboren, so wie ein Samenkorn in seinem Keim die Fähigkeit trägt, sich zu Stempel, Blättern, Blüte, Frucht zu ent-wickeln. Es macht Freude sich vorzustellen, wie die Menschen allmählich sprechen und sich in allerlei Bedürfnissen behelfen lernten. Es macht Freude nachzudenken, wie sie allmählich sich Speise bereiten, sich Kleidung machen, sich Wohnungen bauen, Tiere zähmen, den Acker bearbeiten, Handwerke und Künste ausüben lernten. 

 

8.       Was ein Kind jetzt in wenigen Jahren lernt, darüber hat die Menschheit Jahrtausende lernen müssen. Das ist eben der Menschheit eigen, was keinem Tiergeschlecht eigen ist, dass die Menschen einer Zeit, das, was sie gelernt haben, ihren Nachkommen hinterlassen; diese lernen mehr hinzu und hinterlassen das wieder ihren Nachkommen; und so wird die Menschheit immer reicher an Kenntnis und Tüchtigkeit. Ganz besonders hat dazu die Erfindung der Schrift und dann der Buchdruckerkunst geholfen.

 

9.       Schon in sehr alten Zeiten fingen die Menschen an nachzudenken, nach welchen Grundsätzen sie ihr Leben führen müssten. Diese Grundsätze zusammen nannten sie Religion. Sie merkten eine Macht, die höher stände als sie, der sie gehorchen müssten, von der diese Grundsätze herrührten. Diese Macht nannten sie Gottheit.

 

10.   Die alten Völker haben sich meistens die Gottheit als mehrere Götter gedacht. Man nennt solche Religion die heidnische. Die alten Griechen, die alten Römer, die alten Deutschen hatten solche Religion. Meistens machten sie sich auch Bilder von ihren Göttern. 

 

11.   Sie ersannen sich allerlei, womit sie sich die Gnade der Götter erwerben wollten. Das nannten sie Gottesdienst. Dazu gehörten besonders die Opfer. Für den Gottesdienst erbauten sie sich besondere Häuser, die Tempel. Sie stellten Leute an, die den Gottesdienst besonders ausüben mussten, das waren die Priester.

 

12.   Weiter gekommen an Kenntnis und Tüchtigkeit sind die Menschen besonders durch einzelne Menschen, welche schärfer und richtiger denken konnten und mehr Tatkraft hatten als Millionen anderer.


 

Durch solche Meister sind die wichtigsten Erfindungen und Entdeckungen entstanden; durch solche Meister entstanden auch bessere Religionen.

 

13.   Vor ein paar Tausend Jahren traten mehrere solcher weisen Meister im Morgenland auf. Im fernen Osten, in China, Konfutse. In Indien Menu und Buddha. In Persien Zoroaster. Unter den Juden Moses. Jeder von ihnen hat vortreffliche Lebensgrundsätze ausgesprochen.

 

14.    Für uns der wichtigste unter diesen ist Moses und die von ihm gestiftete jüdische Religion. Seine Lehre ist: ein Gott, der Herr der Welt, dem alles gehorchen muss; Gerechtigkeit ist sein Gebot; auf Gottesfurcht muss die Gerechtigkeit ruhen. Es ist anziehend zu sehen, wie sich das kleine jüdische Volk mitten unter heidnischen Völkern lange unvermischt erhielt und sich bis auf den heutigen Tag erhält. Der Gedanke, dass es des Herren ausgewähltes Volk sei, hat kräftig dazu geholfen. Seine Religion ist im Alten Testament der Bibel enthalten.

 

15.   Im jüdischen Volk wurde vor 1800 und etlichen Jahren von armen Eltern Jesus geboren, und in ihm wuchs ein Mensch empor, der alle früheren Meister an Weisheit und Herzensgüte überragte. Er bezeichnete die Gottheit als Vater, die Menschen als seine Kinder, die als eine Familie in Liebe zusammenhalten müssten [und] stellte über allen Gottesdienst die reine Gesinnung, und zeigte den Menschen ein Himmelreich, das sie sich durch Liebe und Herzensreinheit schaffen könnten. Aber die Priester, Schriftgelehrten und Staatsmänner ließen ihn nur wenige Jahre lehren, dann töteten sie ihn am Kreuz.

 

16.   Seine Jünger ermannten sich nach seinem Tode wieder, verbreiteten seine Lehre und stifteten Gemeinden, die man Christen nannte. Einige schrieben später auch nieder, was vom Leben und der Lehre Jesu in ihrer Erinnerung geblieben war. Das ist das Neue Testament der Bibel. Darin ist das Leben Jesu mit vielen Wundern eingeflochten, besonders weil die den verehrten Meister als ein übermenschliches Wesen betrachteten.

 

17.   Dreihundert Jahre lang wurden die Christengemeinden bedrückt, denn die Priester und Staatsmänner des großen Römischen Reiches sahen sie als verkehrte und schädliche Menschen an. Aber ihre Religion war besser als die herrschende, darum erhielten sie sich und vermehrten sich. Endlich nahm ein römischer Kaiser selbst das Christentum an, der Druck hörte auf, das Christentum wurde die herrschende Religion.


 

18.   Nun wurde genau festgesetzt und niedergeschrieben, wie jeder Christ denken müsse. Das nannte man Glaubensbekenntnis. Gleichfalls wurde genau festgestellt, was man bei Zusammenkünften tun müsse; das nannte man Gottesdienst. Leute wurden angestellt, welche den Gottesdienst zu verrichten hatten, und welche darum für heiliger als die anderen angesehen wurden; die nannte man Priester, die anderen: Laien. Die Priester untereinander wurden in eine genaue Ordnung gebracht und ein oberster an ihre Spitze gesetzt; den nannte man Papst. Diese ganze Anstalt aber nannte man die heilige katholische Kirche. Das war alles anders geworden, als Jesus es gemeint hatte. 

 

19.   Sechshundert Jahre nach Jesus stand im Morgenland ein neuer Religionsstifter auf, der da sagte, er wolle das Rechte bringen, was Moses und Jesus vorbereitet hätten; das war Mohammed. Er lehrte einen Gott, dessen Gesandter er sei, forderte in seinem Namen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, und richtete einen einfachen Gottesdienst ein. Er lebte lange genug, um noch den Sieg seiner Religion in seinem Vaterland Arabien zu sehen. Jedoch wurde dieser Sieg zum Teil mit Waffengewalt errungen, und ebenfalls mit Waffengewalt wurde die mohammedanische Religion in den nächsten Jahrhunderten sehr weit in Asien und Afrika und bis nach Europa ausgebreitet.

 

20.   Als eintausend Jahre nach Christus vergangen waren, da war recht viel Unwissenheit und Rohheit in Europa. Man nennt diese Zeit, nebst den Jahrhunderten vorher und nachher, das Mittelalter. Das Christentum, dass sich eine Erlösung der Menschheit nannte, war zu einer Fessel derselben geworden. Aber allmählich kam die Bildung der alten Griechen und Römer durch deren Schriften wieder unter die europäische Menschheit, und immer mehr fingen an, nachzudenken und das Bessere zu erkennen.

 

21.   Mehrere Männer standen auf, um das reinere Christentum herzustellen, sie erlagen aber der großen Gewalt der Kirche; so z. B. Huss, der zu Konstanz verbrannt wurde im Jahr 1415. Luther endlich setzte diese Herstellung, Reformation genannt, durch; mit ihm zugleich Zwingli in der Schweiz, Kalvin in Frankreich. Das war, als man schrieb 1520, 30, 40. Durch alle europäischen Länder drang die Reformation, wurde aber in mehreren durch entsetzliche Grausamkeiten unterdrückt. Die neu erfundene Buchdruckerkunst half die Reformation kräftig auszubreiten, besonders durch die in die Landessprache übersetzten Bibeln.


 

22.   Die Reformatoren stellten nicht die einfache Lehre Jesu her, sondern das Christentum, wie es in den ersten drei Jahrhunderten nach Jesus geworden war, also durchwebt von Wundern und unbegreiflichen Lehren, mit Glaubensbekenntnissen, Gottesdiensten und einem geistlichen Stand. Die Bibel lehrten sie als unfehlbares Gotteswort betrachten, den Glauben an die Versöhnung Gottes durch das Blut Jesu als Grundlage des Christentums. Wegen verschiedener Auslegung von Bibelsprüchen zerspalteten sie sich in die beiden Parteien der Lutheraner und Reformierten, und taten damit der Ausbreitung der Reformation den größten Schaden.

 

23.   Seitdem ist die europäische Menschheit in Kenntnissen und Leis-tungen unaufhaltsam fortgeschritten, alle Länder der Erde sind nach und nach entdeckt worden, auch die Natur ist immer vollständiger erkannt worden. Das hat auch auf die Religion gewirkt, und die Vernunft hat allmählich unter den Lehren der Reformatoren aufgeräumt. Aber seit mehreren Jahrzehnten dringen die Staatsmänner und die Geistlichen darauf, dass das alte Christentum in allen Kirchen und Schulen hergestellt werde. Aus dem Sträuben dagegen sind die freien Gemeinden entstanden, welche wollen, dass das eigene Nachdenken in der Religion ebenso viel gelte, wie in allen anderen menschlichen Dingen.

 

24.   Überblicken wir nun die Geschichte der Menschheit noch einmal im Ganzen, so sehen wir, dass die Menschheit sich geistig ebenso entwickelt  wie der einzelne Mensch. Von einem schwachen Anfang nimmt Erkenntnis und Tüchtigkeit allmählich zu, und jeder Fortschritt zieht einen weiteren Fortschritt nach sich. Das ist also das Gesetz der Menschheit: Sie soll der Vollkommenheit entgegen schreiten. Das tut sie jetzt mit einem Erfolg wie noch nie vorher; nur in der Religion will man diesen Fortschritt hemmen, und viele Tausende glauben wirklich, dass Fortschritt in der Religion Unrecht sei.

 

25.   Wir lernen aus der Geschichte der Menschheit, besonders aus der Geschichte der Religionen, dass es besonders einzelne ausgezeichnete Menschen sind, welche dem Fortschritt Bahn brechen, dass diese gewöhnlich durch die Macht des Hervorgebrachten leiden müssen, dass ihre Sache endlich doch durchdringt, dass aber dann gewöhnlich das, was sie wollten, missverstanden und verderbt wird, so dass immer neue Arbeit und neuer Kampf um den Fortschritt nötig wird.

 


 

Ich

1.    Jetzt will ich mich selbst betrachten. Ist es Recht, die Welt, meine liebe Heimat, kennen zu lernen, ist es Recht, sich Kenntnis von der Geschichte der Menschheit, unserer großen Familie, zu erwerben, so muss es auch Recht sein, sich selbst zu betrachten und kennen zu lernen. Dabei werde ich das Gesetz meines Lebens genauer inne werden, denn alles hat sein Gesetz in sich.

2.    Alles an mir ist der Betrachtung wert. Wenn ich nur einen einzigen Finger betrachte, was ist das für ein wunderbares Gebäude von Knochen, Fleisch, Bändern und Sehnen, Blut und Nerven und Haut! Und alles dies, welch ein wunderbares Leben ist darin! Mein ganzes leibliches Leben aber, was ist das für ein wunderbares Aufnehmen, Verarbeiten und Abgeben der Stoffe, welche mir die Welt darbietet! Die Sinne aber, durch welche die ganze große Welt in meine Seele hineinstrahlt, welche wunderbaren Einrichtungen sind sie? Und alles hat seine natürliche Ordnung, sein Gesetz.

3.    Noch viel wunderbarer aber ist mein inneres Leben, das in Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen besteht. Die Gedanken sind Vorstellungen, Bilder der Dinge, die sich innerlich wie in einem Spiegel abmalen. Mit den Gedanken verknüpfen sich Gefühle, angenehme und unangenehme. Aus Gedanken und Gefühlen werden Bestrebungen, die sich auf dies und jenes richten. Das innere Leben heißt die Seele. Auch die Tiere haben Seele, aber beim Menschen ist sie viel vollkommener, und da nennt man sie auch Geist.

4.    Ich kann alle Dinge der Welt als Vorstellungen in meine Seele tragen, so dass die große Welt der Dinge als eine kleine Welt der Gedanken in mir ist. Diese Gedanken sind in immerwährender Bewegung und folgen einander wie die Wellen in einem Fluss. Das nennt man denken; wenn ich meinen Gedanken eine bestimmte Richtung gebe, so denke ich nach. Durch Nachdenken kann ich auch neue Gedanken gewinnen, welche nicht durch Abspiegelung der Welt in meine Seele gekommen sind. So sind die Erfindungen der Menschen entstanden.

5.    Die Kraft des Nachdenkens nennt man Verstand, und wenn sie sich mit den höchsten Gegenständen des Denkens beschäftigt, Vernunft. Indem ich aufmerke und nachdenke, so fühle ich mich innerlich angetrieben, nach Wahrheit zu streben; das ist also das Gesetz meiner Gedanken. Es fordert, dass die Vorstellungen in meiner kleinen Welt übereinstimmen. Der Irrtum ist mir unangenehm, die Wahrheit ist mir Freude. Darum fragt das Kind so viel; seine Seele dürstet nach Wahrheit.


 

6.    Es ist also in meiner Seele auch Gefühl, das Angenehmes und Unangenehmes empfindet, so gut wie in der Haut Gefühl ist.
Ich habe Gefühl für alles, was angenehm auf meine Sinne wirkt, und nenne das schön; aber ich habe auch Gefühl für das, was in meiner Seele vorgeht; auch das soll einen angenehmen Eindruck auf mich machen. Das Gesetz meiner Gefühle ist: Streben nach dem Schönen.

7.    Es sind also auch Bestrebungen in meiner Seele, und zwar sehr viele. Ich begehre Speise und Trank, Ruhe und Vergnügen, Schutz vor der Witterung, Fernhalten des Schmerzes. Das sind die Triebe, die ich mit den Tieren gemein habe. Aber es sind auch Triebe in mir, die mehr im Geiste wurzeln, so der Trieb nach Besitztum, nach Ehre, nach Tätigkeit. Endlich das schon genannte Verlangen nach Schönheit, nach Wahrheit. All diese Triebe gehören zu meinem Leben, so wie die Triebe im Tier zu dessen Leben, die Triebe in den Pflanzen, von denen diese aber nichts weiß, zu deren Gedeihen gehören.  

8.    Jeder Trieb will seine Befriedigung haben und je mehr man ihm diese gewährt, desto stärker wird er, er wird zur Begierde, zur Leidenschaft. Der Mensch aber findet ein Gesetz in sich, das ihn nötigt zu fragen, ob es auch Recht ist, wenn die Triebe ihn treiben, und wenn er sich selbst so fragt, dann erkennt er, was Recht [und] was Unrecht ist. Wenn er das Rechte tut, dann ist ihm wohl. Recht zu tun ist das Gesetz für meine Bestrebungen. Die innere Stimme, die mir das Gesetz vorhält und mich danach richtet, heißt das Gewissen.

9.    Also, drei Gesetze sind in meiner Seele: Das Gesetz des Wahren, Schönen und Rechten. Je mehr ich sie erfülle, desto mehr wächst Kraft und Lust sie zu erfüllen, und ich werde ein vollkommener Mensch. Niemals aber kann ich sagen, dass ich damit fertig sei; im Wahren, Schönen, Rechten fühle ich mich immer weiter getrieben. Darum kann man diese drei Gesetze in eines zusammen fassen, in das Gesetz der Vollkommenheit. Das ist das Grundgesetz des Menschen und erhebt ihn über alle andere bekannten Wesen.

 

Das Gesetz des Wahren

Das Gesetz des Wahren im Seelenleben

1.    Wenn der neu geborene Mensch einige Monate alt ist, so fängt er an, aufzumerken. Wenn er zu sprechen beginnt, so fängt er an zu fragen. Wenn er merkt, dass ihn sein Aufmerken und Fragen nicht auf das Richtige geführt hat, so wird er verdrießlich. Denn durch das Gesetz seiner Natur ist er auf Wahrheit angewiesen; nach Wahrheit dürstet seine Seele; sie begehrt zu ihrem Gedeihen sowohl der Wahrheit [genau so] wie auch der Leib der Nahrung und der Luft bedarf. Darum hat die Menschheit von jeher nach Wahrheit gestrebt.

2.    Was ist Wahrheit? Die richtige Erkenntnis der Dinge. Wenn ich etwas in der Natur richtig erkenne, so habe ich ein Stück Wahrheit gewonnen. Ebenso, wenn ich das, was unter den Menschen geschieht oder geschehen ist, so erfahre, wie es wirklich war; ebenso, wenn ich mich selbst erkenne, wie ich bin. Mache ich mir von etwas eine Vorstellung, welche anders ist als die Sache, so ist Irrtum in mir. Es ist noch viel Irrtum unter dem Menschen.

3.    Es ist Freude, den Irrtum abzulegen [und] die Wahrheit zu erkennen. Dass so viele Menschen sich das nicht zur Freude rechnen, das ist Verwöhnung. Als Kinder haben sie auch nach Wahrheit gedürstet. Aber über der Sorge für die leiblichen Bedürfnisse haben sie allmählich vergessen, dass ihr Geist auch Bedürfnisse hat; darum fragen sie, wenn sie Gelegenheit haben, an Wahrheit zuzunehmen: „Was habe ich davon?“ und meinen, sie müssten Brot oder Geld davon haben. Das ist eine Frage, mit welcher der Mensch sich selbst erniedrigt.

4.    Trachte nach Wahrheit, weil du ein Mensch bist.

Eigenes Beobachten, Nachdenken, Belehrung durch andere, Bücher bieten dir die Mittel, deine Erkenntnis zu vermehren. Wer seine ganze Jugendzeit oder sein ganzes Leben der Erforschung der Wahrheit widmet, ohne durch andere Beschäftigung davon abgehalten zu werden, der wird ein Gelehrter, und das können nur wenige werden. Aber reich an Wahrheit kann jeder werden, der Auge, Ohr und Seele zeitlebens für die Wahrheit offen erhält. Es ist nicht wahr, dass der Mehrzahl der Menschen, dem Volk, die Wahrheit unzugänglich sei.

5.    Je mehr Wahrheit du in dich aufnimmst, desto mehr kannst du weiterhin aufnehmen. Ein Schrank wird irgendwann einmal von Kleidern gefüllt sein, eine Menschenseele wird nie von Wahrheit überfüllt sein. Mit dem Erkennen wächst die Kraft und die Lust zu erkennen. Die Grenzen, über welche heut deine Erkenntnis nicht hinaus konnte, kannst du vielleicht morgen oder später überschreiten. So hat die Menschheit allmählich an Wahrheit zugenommen, ganz besonders in der neuesten Zeit.

6.    Das Gesetz der Wahrheit ist stärker als mein Belieben. Wenn ich aus Trägheit  einen  Irrtum  festhalte und  aus Furcht die Unwahrheit aussprechen wollte, so würde eine Stimme in meinem Innern sagen: „Es ist doch nicht wahr!“. Die Wahrheit ist eine heilige Macht, welcher niemand widerstreben darf. Darum darf mir auch niemand die Wahrheit [ver]wehren. Die Wahrheit ist frei.

7.    Es gibt drei Reiche, aus denen meine Seele Wahrheit sammeln kann. Das eine ist das Reich der Natur. Darin ist alles der Betrachtung und der Erkenntnis wert. Das andere ist die Menschheit, die einst lebte und die jetzt lebt. Da muss ich behutsam sein, dass ich mit der Wahrheit nicht zugleich Irrtum einsammle. Das dritte ist ganz klein, aber sehr wichtig, das bin ich selbst. Schon in uralter Zeit ermahnten die Weisen: „Erkenne dich selbst!“.

8.    Wer sich gar nicht um Wahrheit bekümmert, der ist roh und bleibt dumm, und damit erniedrigt der Mensch sich selbst. Wer immer nur Neues wissen will zu seiner Unterhaltung, der ist neugierig, und das ist kindisch. Der rechte Mensch ist wissbegierig und sucht die Wahrheit aus den genannten drei Reichen immer vollständig zu erkennen.

 

Das Gesetz des Wahren in seiner höchsten Anwendung

9.    Das Gesetz der Wahrheit treibt mich, dass ich nicht bloß die Dinge erkenne, wie sie sich mir zeigen, sondern dass ich auch in ihr Wesen eindringe. Da zeigt sich mir dreierlei: Stoff, Kraft und Gesetz.

10. Da ist der Stoff, woraus die Dinge bestehen, sei es grober Stoff, wie beim Stein, sei es feiner, wie bei der Luft. Mit jedem Stoff ist eine Kraft verbunden, sei es dass sie kaum merkbar wirkt, wie im Stein die Kraft, welche seine unzähligen Staubteile zusammen hält, sei es dass sie sich mit großer Gewalt zu erkennen gibt, wie die Kraft der Luft im Sturm. Jede Kraft aber wirkt nach fester Ordnung, nach einem Gesetz, das dem Dinge innewohnt. So hat der Sonnenball und das Sandkorn, das Weltmeer und der Wassertropfen, jedes in seiner Art sein Gesetz.

11. In jedem Ding ist Stoff, Kraft und Gesetz auf das Innigste verbunden. Kein Stoff ohne Kraft, keine Kraft ohne Stoff, beides nie ohne Gesetz. In Gedanken kann man sie trennen, in Wirklichkeit sind diese drei eins.

12. Darum ist auch in jedem Ding Leben. Die Sprache nennt nur dasjenige lebendig, was freiwillige Bewegung hat. Aber genauer besehen ist in der ganzen Welt nichts ohne Leben, auch der Staub nicht, in den ein totes Tier zerfällt, denn in jedem Stäubchen wirkt Kraft mit eigentümlichem Gesetz.  So ist auch  nichts in der Welt  ohne Bewegung; bewegt sich’s nicht für sich allein, so bewegt sich’s mit dem Ganzen.

13. Zum Leben gehört Veränderung. Das Tier, die Pflanze verändern sich schnell, die Welten verändern sich langsam, nichts bleibt ewig so wie es ist. Auch was wir Tod nennen, ist bloß eine Veränderung, keine Vernichtung.

14. Indem jedes Ding nach seinem Gesetz sein Leben führt, dient es zugleich dem großen Ganzen. Alles steht im innigsten Zusammenhang; die ganze Welt ist ein wohl geordneter Haushalt, in welchem auch die zeitweise Störung und der Untergang des Einzelwesens zum Bestehen und Gedeihen des Ganzen beiträgt. So schließt sich auch die ungeheure Mannigfaltigkeit der Dinge in Eins zusammen.

15. Wenn wir über den Raum nachdenken, in dem alles sich befindet, so finden wir nach allen Seiten hin keine Grenze, sondern Grenzenlosigkeit. Wenn wir über die Zeit nachdenken, in der alles geschieht, so finden wir [weder] Anfang noch Ende, sondern Ewigkeit. Wenn wir über die Ursächlichkeit nachdenken, durch welche alles als Ursache und Wirkung wie lauter Kettenglieder zusammenhängen, so reichen alle diese Ketten in die Unendlichkeit hinaus. Darum können wir die Welt nicht anders als ewig denken.

16. Wenn wir eine Kette von Wirkungen und Ursachen in Gedanken rückwärts [verfolgen], so kommen wir bei jeder Art von Dingen auf ein Erstes oder mehrere Erste [auch Ursache genannt]. So hat das Menschengeschlecht einmal seinen Anfang genommen, so jede Tierart, jede Pflanzenart, so die Erde, die Sonne. Die Kraft, die heute noch in allem wirkt, hat also in früheren Zeiten als Schöpferkraft gewirkt. Wie [dies] aber [im Einzelnen abgelaufen ist], darüber gibt es keine sichere Erkenntnis. Aber Stoff und Kraft und Gesetz sind immer gewesen.

17. Mit all dem stimmen die alten Vorstellungen von der Gottheit nicht zusammen, [ebenso wenig] die Vorstellungen von der Schöpfung, von der Regierung [Gottes], von den Wundern, von der Persönlichkeit Gottes. Die Menschen alter Zeit wussten es nicht besser; sie waren noch nicht tief genug in das Wesen der Dinge eingedrungen.

18. Was sie aber mit ihren Vorstellungen und Beschreibungen von der Gottheit meinten, [nämlich die Vorstellung] eine[r] erhabene[n] Macht, das finden und erkennen wir überall. Wir erkennen es in jedem Ding und Vorgang der Natur, wir erkennen es in jedem Gesetz unseres menschlichen Wesens, wir erkennen es in unserem eigenen Denken, denn das Gesetz der  Wahrheit ist das Walten dieser erhabenen Macht in unserer Seele. Wir finden die Gottheit in allem. Alles ist göttlich. Gott ist alles in allem.

19. Aus den alten mangelhaften Vorstellungen vom Wesen der Dinge ging ein Aberglaube hervor, der sich allerlei Kräfte und Mächte dachte, welche anders als die Naturgesetze wirken sollten. Man glaubte an Gespenster, man meinte durch Zauberkünste wirken zu können, man bildete sich ein, dass böse Geister ihr Wesen trieben, man erfüllte dadurch das Leben mit Furcht und Schrecken. Je mehr eindringende und sichere Naturkenntnis, desto mehr schwindet der Aberglaube.

20. Weil man in der Religion immer noch an den Vorstellungen alter Zeiten festhält, welche mit der jetzigen Erkenntnis der Welt im Widerspruch stehen, so fordert man in der Religion vor allen Dingen Glauben, das heißt: Der Mensch soll die alten Vorstellungen annehmen, wenn sie auch der Wirklichkeit und dem Denkgesetz nicht entsprechen.

21. Wir fordern in der Religion den vollen und fleißigen Gebrauch der Vernunft. Unsere Religion ruht auf klarer und sicherer Erkenntnis, welche jeder, der beobachten und nachdenken will, in der Natur, in der Menschheit und in sich selbst bestätigt findet. Jede neue und gewisse Erkenntnis ist auch eine vollkommene Erkenntnis der Gottheit. Was der Mensch nicht oder noch nicht zu sicherer Erkenntnis bringen kann, das gehört auch nicht zur Religion. Die Religion schreitet zur Vollkommenheit fort, wie alle andere menschliche Erkenntnis; sie ist die Blüte alle Erkenntnis.

22. Darum sind wir uns auch in unserer Denk- und Erkenntnisreligion bewusst, dass wir damit das göttliche Gesetz erfüllen. Du sollst denken! Du sollst nach Wahrheit streben! Du sollst in der Erkenntnis weiter schreiten! Du sollst nicht glauben, sondern erkennen! Du sollst nichts bekennen, wovon du nicht überzeugt bist! Das sind alles Gesetze ewiger Ordnung in der Natur der Menschheit, die nicht wir selbst uns gemacht haben; es sind göttliche Gebote. Das alte Verbot der Bibel: Du sollst dir kein Bildnis von der Gottheit machen! befolgen wir, indem wir in unserer Seele vom Grenzenlosen kein Bild einer Persönlichkeit machen.

 

Das Gesetz des Wahren im Menschenverkehr

24. Alle Menschen um dich her sind ebenso wie du auf Wahrheit angewiesen; hilf ihnen dazu. Was an Wahrheit in dir ist, das verdankst du zum  kleinsten Teil dem eigenen  Nachdenken, zum größten Teil deinen Erziehern und den Menschen, die vor dir waren. Trag deinen Dank an deinen Mitmenschen ab, hilf ihnen zur Wahrheit, hilf sie von Irrtum [zu] befreien, lass dir es eine Freude sein, ihre Kenntnisse zu vermehren. So haben die edelsten Menschen aller Zeiten [gehandelt]. Gelegenheit dazu hat jeder.

25. Rede die Wahrheit. Das Gesetz der Wahrheit, das für dein Denken gilt, das gilt auch für dein Reden. Wenn du jemanden fragst, so begehrst du Wahrheit von ihm; wer dich fragt, begehrt auch Wahrheit. Gedanke und Wort müssen eines sein. Du brauchst nicht jeden Gedanken aussprechen, wenn du aber sprichst, dann sprich wie du denkst! Sei aufrichtig und wahrhaftig!

26. Die Lüge ist ein Unrecht, das du an deinem Nebenmenschen tust, und mit Recht nimmt er es dir übel und glaubt dir nicht mehr. Aber die Lüge ist auch ein Unrecht, das du an dir selbst tust. Du wirst dir selbst damit untreu. Die Lüge ist der Anfang von weiterem Unrecht.

27. Viele Menschen sprechen von Notlügen. Folge ihnen nicht! Sie meinen damit, eine Lüge sei recht, wenn man sich damit vor Schaden bewahren könne. Aber was Unrecht ist, das soll der Mensch niemals tun, [weder] um einen Schaden zu vermeiden, [noch] um einen Vorteil zu erlangen. Das Recht steht höher als die Umstände. Der Mensch muss [unter] allen Umständen seinem Gesetz treu sein.

28. Sei wahr in allen Dingen, also auch in Miene, Gebärde [und] in deinem ganzen Benehmen. Verstellung, Schmeichelei, Heuchelei sind ebenso schlecht wie die Lüge. Auch nicht mit einer Miene musst du dir selbst untreu werden.

29. Die Menschen haben den Schwur, den Eid ersonnen, weil viel Lüge in der Welt ist. Durch den Eid soll das, was der Mensch sagt, als Wahrheit bekräftigt werden. Der rechte Mensch braucht keinen Eid. Sein Ja und sein Nein ist zur Bekräftigung der Wahrheit ausreichend. Er erwirbt sich bei seinen Mitmenschen das Vertrauen auf sein Wort.

 

 

Das Gesetz des Rechten

 

Von der Sittlichkeit überhaupt

1.    Das Kind hat anfangs noch keinen Unterschied zwischen Recht und Unrecht. Das Gesetz des Rechten entwickelt sich langsamer als das Gesetz des Wahren. Ebenso hat sich beim Menschengeschlecht überhaupt das Gesetz des  Rechten langsamer als  das Gesetz  des Wahren entwickelt, und so ist die Menschheit auf ihrem heutigen Standpunkt weiter in der Erkenntnis als in der Gerechtigkeit vorgerückt. Wenn die Menschen ebenso gut wären, als sie klug sind, so wäre es besser in der Welt.

2.    Aber Empfindungen hat auch das kleine Kind schon dafür, wenn seine Mutter sagt: Du hast deinem Brüderchen Unrecht getan, tue es nicht wieder; und auch der roheste Mensch macht einen Unterschied zwischen Recht und Unrecht. In jedem Menschen ist die Nötigung, sich selbst Rechenschaft zu geben, ob er Recht oder Unrecht getan hat. Diese innere Nötigung heißt das Gewissen.

3.    Das Gewissen spricht schon sein Urteil im Menschen, wenn erst der Vorsatz zu einer Tat in ihm aufsteigt; dann mahnt es ab oder redet zu. Das Gewissen spricht auch, wenn die Tat getan ist; dann lobt oder tadelt es. Das Gewissen ist Mahner und Richter im Menschen.

4.    Wie alles Geistige, so ist auch das Gewissen nicht fertig, sondern es ist ein eingeborener Kern, der durch das ganze Leben hindurch entwickelt werden soll. Es gibt heute noch Völker, die in ihrer Entwicklung des Gewissens auf einer sehr niedrigen Stufe stehen. Eine unrichtige Religion, verkehrte bürgerliche Einrichtungen hemmen und verdrehen diese Entwicklung. So war es den Israeliten möglich, die Ausrottung der Kanaaniter, den Katholiken im Mittelalter, die Verbrennung der Ketzer, den Gläubigen unserer Tage, die Bedrückung der Dissidenten für Recht zu halten.

5.    Im Ganzen aber ist derjenige Teil der heutigen Menschheit, zu dem wir gehören, zu einer solchen Entwicklung des Gewissens gelangt, dass auch der schlecht Erzogene und übel Unterrichtete in der weiteren Schule seines Lebens wohl unterscheiden lernen kann, was Recht und Unrecht ist, und was er zu tun und zu lassen hat, damit er nachher nichts zu bereuen brauche.

6.    Was ist denn Recht? Dass der Mensch ganz das werde, was er seiner Natur nach werden soll, also dass in ihm der Geist über alle anderen Regungen und Kräfte die Herrschaft gewinne. Recht ist, was meiner Menschenwürde entspricht. Da aber meine Mitmenschen dem Wesen nach dasselbe sind was ich bin, so bin ich ihnen auch dasselbe schuldig als mir. Das ist schon von alters in der Regel ausgesprochen: Was du willst, dass dir die Leute tun sollen, das tue ihnen! Und umgekehrt.

7.    In allen Dingen, bei jedem Vorsatz, der in der Seele aufsteigt, frage erst dein Gewissen: Was ist Recht? Spricht es nicht gleich deutlich und bestimmt, so denke nach, dazu hast du die Vernunft, und es wird bald deutlich sprechen. Was es sagt, das tue, nichts anderes!


 

Dann bist du gewissenhaft und kannst mit dir selbst zufrieden sein. Hast du aber anders gehandelt, dann macht dir dein Gewissen Vorwürfe, und du kannst nicht mit dir zufrieden sein.

8.    Was der Mensch gegen sein Gewissen tut, das ist Sünde. Tut er es immer wieder und lässt es zur Gewohnheit werden, so nennt man das Laster. Die Gewohnheit dagegen, seinem Gewissen zu gehor-chen, zu welcher der Mensch durch fortgesetzte Übung gelangt, ist die schöne Tugend.

9.    In jedem Augenblick ist der Mensch frei, um, wenn er ernstlich will, seinem Gewissen [zu] gehorchen, ob auch noch so viele Regungen in ihm und noch so viele Umstände außer ihm ihn zum Gegenteil hin drängten. Darum, wenn er Unrecht tut, macht ihm sein Gewissen Vorwürfe. Er weiß wohl, dass er hätte anders handeln könne. Der Lasterhafte, indem er sagt: „Ich kann nicht anders!“ erklärt sich damit selbst für einen elenden Sklaven. Festigkeit und Freudigkeit im Gehorsam gegen das Gewissen, das ist die wahre Freiheit des Menschen.

10. Wenn der Mensch Sünde getan hat, so soll er sich durch die Vorwürfe des Gewissens treiben lassen, dass er sie nicht wieder tue; er soll sich bessern. Und das kann er, wenn es ihm auch schwer wird. Denn auch im schlechtesten Mensch stirbt das Gewissen nicht, und dazu hat er noch das Leben, dass er sich bessere. Je ernstlicher er das angreift und durchführt desto weniger peinigt ihn der Vorwurf des Gewissens wegen früherer Sünden. Besser wäre es freilich, er hätte sie nicht getan.

11. In den alten Religionen leitet man den Ursprung der Sünde von einem mächtigen bösen Wesen her, das man Teufel nennt. Aber jeder Mensch kann an sich selbst bemerken, dass die Sünde daher entspringt, wenn der Mensch irgend einem Trieb gegen sein Gewissen den Willen lässt. Der Trieb an sich ist nichts Böses, sondern gehört zum menschlichen Leben, aber wenn der Mensch sich davon beherrschen lässt, so wird Böses daraus.

12. Desgleichen wird in den alten Religionen viel von der Vergebung der Sünde gesprochen. Die blutigen Opfer sollten diese Vergebung bei der Gottheit erwirken; an die Stelle der Opfer setzte das Christentum das Blut Jesu, das zur Sühne für die Sünden der Menschheit vergossen sei. Diese ganze Vorstellung fällt weg, wenn man nicht mehr an einen persönlichen Gott denkt. Der Mensch selbst soll sich seine Sünden gar nicht vergeben, sondern sein Unrecht empfinden; aber das Gefühl seiner Schuld wird milder, je gründlicher er sich bessert.


 

13. Was uns das Gewissen für jede einzelne Lage unseres Lebens als Recht vorhält, das nennen wir unsere Pflicht. Indem ich meine Pflicht erfülle, so bin ich mir bewusst, dass ich damit tue, was sich beim vernünftigen Menschen von selbst versteht; von Anspruch auf Lob und Lohn kann nicht die Rede sein. Das ganze Gebiet unserer Pflichten nennen wir Sittlichkeit, Moralität. Sittlich ist alles, worüber das Gewissen entscheidet. Fertig auf sittlichem Gebiet wird der Mensch niemals; er muss allzeit aufmerksam auf sich und tätig in sich sein, damit sein Gewissen immer deutlicher spreche und er immer besser werde; tut er das nicht, so wird er schlechter. Einen sittlichen Stillstand gibt es nicht.

 

 

Pflichtenlehre

14. Zunächst habe ich Pflichten gegen mich selbst zu erfüllen, und davon ist die erste, dass ich mein Leben erhalte; sonst kann ich ja die Aufgaben meines menschlichen Daseins nicht erfüllen. Darum ist der Selbstmord unrecht. Damit ich aber meine Aufgaben erfüllen kann, muss ich auch für meine Gesundheit Sorge tragen.

15. Zur Erhaltung des Lebens bedarf ich der Nahrung, Kleidung, Wohnung, der Ruhe, Erholung, des Vergnügens. Dazu treiben mich von selbst meine menschlichen Triebe, und es ist recht, es ist meine Pflicht, die zu befriedigen, nur muss dies stets unter der Anleitung der Vernunft und des Gewissens geschehen.

16. Das Geld hat nicht den hohen Wert, den die meisten Menschen darauf legen, aber es ist das Mittel, eine Menge Bedürfnisse zu befriedigen; es ist also meine Pflicht, es mir in geeigneter Weise zu erwerben, und mit dem Erworbenen und Besessenen sparsam Haus zu halten.

17. Die Kräfte, die ich in mir fühle, wollen angewendet sein, damit ich in der Welt etwas schaffe; Tätigkeit ist meine Pflicht, auch wenn sie nicht um des Broterwerbs willen nötig ist. Schon das Kind fühlt den Drang der Tätigkeit; sein Spiel ist nichts anderes als die ersten Versuche der Arbeit. Zur rechten Tätigkeit gehört aber eine gute Einteilung und Benutzung der Zeit.

18. Aber dicht neben allen diesen Pflichten führen Abwege zur Sünde; sei aufmerksam auf dich selbst und lausche auf dein Gewissen, dass du sie vermeidest! Übergroße Sorge für Leben und Gesundheit führt zur Feigheit. Die Lust an Nahrung, Kleidung, Wohnung verleitet zur Völlerei, Putz- und Prunksucht;  Trunksucht  erniedrigt  den Menschen unter das Tier. Der Hang zur Ruhe, Erholung, Vergnügungen verführt zu Faulheit, Liederlichkeit und Verschwendung. Die Lust am Geld verführt den Menschen zum Geiz, wobei er vergisst, dass das Geld nur Mittel zum Zweck ist. Auch die Tätigkeit kann übertrieben werden, so dass sich der Mensch zum Lasttier macht.

19. Über allen diesen Pflichten steht die Arbeit an mir selbst, dass ich stets aufmerksam bin auf meinen Gemütszustand, auf die Gelegenheit zum Rechten oder Unrechten, die in den Umständen liegt und fleißig, das Gute, was in mir ist, zu mehren und zu kräftigen, das Schlimme zu mindern und zu überwinden. Das ist eine Arbeit, die, wenn sie ernstlich ist und unermüdet fortgesetzt wird, sicher gelingt.

20. Aber auch meine Mitmenschen haben jene Bedürfnisse. Sie bedürfen wie ich des Lebens und der Gesundheit, der Nahrung, Kleidung, Wohnung, der Ruhe, Erholung, Vergnügung; sie bedürfen des Geldes; sie sind auf Tätigkeit angewiesen; die Zeit ist ihnen wichtig. Sie alle haben in dieser Beziehung das gleiche Recht wie ich, und es ist meine Pflicht, einem jeden zu lassen, was ihm gehört, einem jeden zu geben, was ihm zukommt, keinen zu beeinträchtigen. Das ist die Pflicht der Gerechtigkeit, deren Übertretung schon das Gesetz straft.

21. Darum will ich niemanden an Leben und Gesundheit, an Eigentum und Lebensgenuss beschädigen oder verkürzen. Die uralten Verbote: Du sollst noch töten!, nicht stehlen!, nicht betrügen!, nicht übervorteilen! haben ewige Geltung. Keine Beschönigung kann ein solches Unrecht zum Recht machen.

22. Jedem das Seine! Was er von die zu fordern ein Recht hat, das leiste ihm. Was du geliehen hast, gib wieder. Was du versprochen hast, halte. Sei ehrlich und treu! Das ist der Reichtum der Armen, und der Reichtum der Reichen ist eine wurmstichige Frucht, wenn dabei die Gerechtigkeit und die Treue fehlt.

23. Ehre, dem Ehre gebührt! Einer soll den anderen als Menschen, nie als Werkzeug behandeln. Hochmut, Stolz geziemt keinem; sie sind ein Zeichen, dass man noch nicht begriffen hat, was man selbst ist und was die anderen sind. Verleumden ist schlecht; aber auch richten über die wirklichen Fehler anderer steht niemandem zu; ein vollgültiger Richter ist nur das eigenen Gewissen.

24. Aber diese Pflichten der Gerechtigkeit zu erfüllen, die wir hier aufgeführt haben, das genügt einem lebendig fortentwickelten Gewissen nicht. Es treibt den Menschen, mehr zu tun, als was der Andere von ihm fordert.  Es treibt  ihn, dass er  des Guten so viel tue,  als er vermag; er treibt ihn zu der Liebe, die schon Jesus als den Inbegriff aller Gewissensvorschriften lehrte und übte.

25. Wenn sich der Mensch in der Schule des Lebens zu einem guten Menschen entwickelt hat, dann fühlt er den Trieb, die Kräfte, die er in sich trägt, zum besten der Mitmenschen anzuwenden; dann fühlt er sich als Glied der großen Menschenfamilie, die in der Ver-gangenheit so viel für ihn getan und gelitten hat, was ihm jetzt zugute kommt, und was er vergelten möchte. Darum rechnet er sich anderer Freude als eigene Freude, anderer Schmerz als eigenen Schmerz an; und sucht rings um sich her den Schmerz zu stillen, die Freude zu mehren. Das ist die Liebe, welche dann von selbst Gerechtigkeit in sich schließt.

26. Die Keime zur Liebe liegen in jedem Menschen. Ein solcher Keim ist das Mitgefühl des Kindes, dass das Weinen eines anderen ihm Schmerz, dessen Freude ihm Lächeln erweckt. Ein anderer Keim ist die bräutliche Liebe, in welcher jeder vom liebenden Paar sich selbst über dem anderen vergisst. Ferner die Elternliebe, die für das Kind alles zu tun und zu leiden bereit ist. Der Mensch kann also sich selbst über dem Wohl des anderen vergessen, und diese natürlichen Keime zu allgemeiner Menschenliebe zu entwickeln, das ist die höchste Aufgabe des menschlichen Lebens.

27. Wo Liebe im Herzen wohnt, da ist man gütig gegen den Nächsten; denn als Nächsten, als uns nahe angehend, erkennt die Liebe jeden Menschen, mit dem man eben zu tun hat. Die Liebe hat freundliche Blicke, wohlwollende Worte, einen herzlichen Gruß, ist gefällig und dienstfertig; und so klein alle diese Dinge sind, so machen sie doch das menschliche Leben reich an vielen tausend guten Stunden.

28. Wo die Liebe regiert, da ist man barmherzig. Das Wort: Der geht mich nichts an, kennt die Liebe nicht. Sie fühlt des Nächsten Leid mit, sie tröstet, sie hilft, sie wartet nicht erst die Bitte ab, sie bringt Opfer, und was sie tut, das tut sie gern. Bei großer Gefahr des Nächsten kann sie selbst das Leben wagen.

29. Wo Liebe ist, da ist auch Geduld mit den Fehlern des Nächsten. Da ist die Billigkeit, die nicht nach strengem Recht verfährt. Da ist die Hoffnung, dass der Verirrte sich noch zurechtfinden werde. Da ist Vertrauen auf den guten Kern, der in keinem Menschen ganz erstirbt; kann irgend etwas diesen Kern beleben, so kann es solches Vertrauen. Da ist tiefes Bedauern, dass der Mensch sich so vergessen und erniedrigen kann.

30. Tut aber der Nächste mir selbst Böses, so wache ich über mich, dass ich  meinerseits  nicht auch  Böses hinzufüge; es ist  genug an einem Bösen. Der Zorn, der dann in meiner Brust entbrennt, hat sein Recht; das Böse soll mir nicht gleichgültig sein, und mich vor Beschädigungen zu schützen ist meine Pflicht. Aber über mich zu herrschen, hat der Zorn kein Recht. Darum wache ich über mich, dass, was ich rede und tue mir nicht der Zorn, sondern die Vernunft aufgibt, und freue mich, wenn ich wieder die Liebe walten lassen kann. Dem Feind sei vergeben.

31. Wo die Liebe in einem Herzen Macht gewonnen hat, da mag der Mensch auch keinem Tier ohne Not weh tun, auch keine Pflanze beschädigen. Da ist es ihm eine Freude, dem Tier wohl zu tun, die Pflanze zu pflegen. Sie sind ihm zu wertvoll dazu, denn auch in ihnen erblickt er Göttliches, und auch mit ihnen als Teilen des großen Ganzen fühlt er sich verwandt.

32. So ist die Liebe. Wo aber der Mensch nur sich selbst lieb hat, da regiert die Selbstsucht, und ihre schlechten Früchte sind statt der Güte die Gleichgültigkeit und der Eigennutz statt Barmherzigkeit, die Härte und die Schadenfreude statt der Geduld, der Stolz und die Verachtung statt der Vergebung. Hass und Rachsucht; und die Selbstsucht, indem der Mensch damit gerade sich selbst zu dienen meint, füllt sein Herz mit vielen hässlichen Empfindungen und macht übel Ärger.

33. Die seligste Tat der Liebe ist, Menschenseelen zu ihrer Vervollkommnung zu helfen; wer selbst fleißig an seiner Vervollkommnung arbeitet, der findet auch und benutzt die Gelegenheiten dazu. Dagegen ist es die höchste Tat der Selbstsucht, Menschen zu verführen.

 

 

Das Gesetz des Schönen

 

Das Gesetz des Schönen im Allgemeinen

 

1.    Das Gefühl im Menschen begehrt, dass es solche Eindrücke empfange, die ihm angenehm sind. Das Nämliche begehrt auch das Gefühl der Tiere; aber ihre dumpfe Seele kann nur in beschränktem Maße, besonders durch die Nahrung, angenehme Eindrücke empfangen. Darum nennen wir das Tier im Vergleich mit dem Menschen ein armes Tier. Uns dagegen quillt das Angenehme aus der ganzen Welt und auch aus dem geistigen Leben zu. Wollen wir es mit einem Namen nennen, was unser Gefühl begehrt, so ist es das Schöne. Strebe nach dem Schönen. Das ist das dritte Grundgesetz unseres geistigen Lebens.


 

2.    Die Mutterbrust und das Licht, das ist das Schöne, wonach der neu geborene Mensch zuerst begehrt. Dann begehrt er, das Bunte zu sehen [und] das Klingende zu hören  Allmählich bildet sich sein Gefühl dahin aus, dass die Töne, die ihn ergötzen sollen, in Ordnung und Einklang, die Farben und Gestalten in Ebenmaß stehen müssen. Es gibt aber Völker, die sich in dieser Beziehung heute noch auf dem Standpunkt der Kinder befinden; ihr Gefühl ist noch nicht entwickelt. Man nennt das roh.

3.    Was ist schön? Da das Gefühl des Menschen auf so sehr verschiedenen Stufen der Entwicklung steht, so muss auch das Urteil über das, was schön ist, außerordentlich verschieden sein. Man sagt darum: Der Geschmack ist verschieden. Im Allgemeinen kann man nur sagen: Schön ist das, was unser Gefühl zufrieden stellt. Bei Menschen jedoch, die eine gewisse gleiche Stufe der Bildung erreicht haben, ist das Urteil über das Schöne ziemlich gleich, und darauf gründet sich, dass unter den gebildeten Völkern die Kunst entstehen konnte, in ihren verschiedenen Fächern der Musik und des Gesanges, der Malerei, Bildhauerkunst, Baukunst, der Dichtung, auch der Gartenkunst.

4.    Der Mensch begehrt überhaupt angenehme Empfindungen, und er hat Recht damit; es ist ein Grundgesetz alles Lebendigen: freue dich deines Lebens. Der Mensch begehrt Glück, das heißt einen Zustand mit recht vielen angenehmen Empfindungen. Aber weil er ein Mensch ist, in welchem alles, was sich in ihm regt und was von außen einen Eindruck auf ihn macht, der Geist herrschen soll, so muss er eine Ordnung unter seinen Freuden treffen und die niederen den höheren unterordnen. Sonst kann er, indem er das Glück sucht, leicht das Unglück finden.

5.    Reine Freuden gewährt die Natur durch ihre Farben und Gestalten, durch ihre Düfte und Klänge, besonders durch ihre schöne Ordnung im Einzelnen und im Ganzen. Reine Freuden gewährt auch die Kunst. Die Menschheit muss noch lernen, die Werke der Kunst allem Volke zugänglich zu machen, wie es einst beim Volk der Griechen war. Das Gesetzt des Schönen lebt in jedes Menschen Brust.

6.    Da des Menschen Inneres eine kleine Welt von Gedanken und Bestrebungen ist, und da der Mensch nicht bloß die Welt um sich, sondern auch die Welt in sich betrachten kann, so kann er sich auch da am Schönen ergötzen, wenn er ein vernünftiger und guter Mensch ist. Er kann sich dann freuen über ein wohl geordnetes Gemüt, wo das Gewissen über allen anderen Regungen herrscht, und über ein wohl geordnetes Leben, aus dem die Erinnerung wohl angewandter


 

Tage gewonnen ist. Jede erfüllte Pflicht ist eine Freude; ein edles Menschenleben ist unter dem Schönen das Allerschönste.

7.    Aber dem menschlichen Gefühl wird auch der Schmerz nicht erspart. Den erregen widrige Schicksale; den erregen schlimme Erfahrungen an den Mitmenschen; den erregt das eigene Unrecht. Dazu kommen die Not, der fortwährende Druck widriger Umstände, welchen hinweg zu heben dem Menschen nicht gelingen will. Das alles zusammen nennt man Unglück; es füllt die Seele mit Traurigkeit und presst aus den Lippen die Klage, und beides ist natürlich, also nicht Unrecht.

8.    Aber der Leidende soll sich besinnen, und da wird er, wenn er sein ganzes Leben überdenkt, bald inne werden, dass der guten Stunden doch mehr waren, als der bösen; das soll er gegenseitig abwägen und gelassen werden.

9.    Die Not hat zu allen Zeiten die Menschen geweckt und angespannt, und ist dadurch die Mutter der Empfindungen und die Führerin zu Fortschritten geworden. Darum soll der Mensch, wenn er in Not ist, sich nicht in Traurigkeit und Klage gefallen, sondern sich besinnen, was er selbst zu ihrer Abhilfe tun kann. In jedem Menschen liegt ein Kapital von Kraft, das auf Benutzung wartet. Nur nicht verzagen! Mut!

10. Zwei Mächte wollen sich immerfort in das menschliche Gemüt teilen, die Furcht und die Hoffnung. Die Furcht wird der tüchtige Mensch um so mehr überwinden, je klarer seine Gedanken sind und je fleissiger seine Tatkraft ist. Und je mehr der Mensch Vernunft und Tatkraft anspannt, desto mehr wird er erreichen, was zu hoffen vernünftig ist, desto weniger wird er hoffen, was nicht erreichbar ist.

11. Was aber den Schmerz über eigenes Unrecht und die Not aus eigener Schuld betrifft, das soll der Mensch in seiner Bitterkeit empfinden, dann aber sich nicht in müßiger Reue quälen, sondern sich das vergangene Unrecht zur Verwarnung vor künftigem dienen lassen; und wachen und arbeiten, dass er von nun an Recht tue. Wieder gut machen, wo möglich, was verdorben war, das Böse nicht wieder zu tun, dafür das Gute tun, das ist die Buße vernünftiger Menschen.

12. Wenn der Mensch traurig ist, dann ist Trost das erste, was er sucht. Die alten Religionen bieten alle eine Menge von Tröstungen dar. Wer aber das Gesetz der Wahrheit und die Pflicht des eigenen Nachdenkens zu seiner Religion rechnet, der kann einen Trost nicht gebrauchen, der sich nicht vor den Prüfungen der Vernunft bewährt. Durch diese Trostesfülle der alten Religionen ist die Menschheit vielfach behindert worden, ihre Kräfte anzuspannen,  damit die Quellen



des Unglücks erkannt und verstopft worden wären. Der beste Trost in jeder Not ist, dass der Mensch das Seine tut.

13. Auf diesem Wege, auf dem Wege des vernünftigen Nachdenkens und der treuen Pflichterfüllung, gewinnt der Mensch Zufriedenheit. Das ist ein unscheinbares und stilles aber süßes Glück, bei dem das Auge geöffnet und das Herz empfänglich wird für Tausende von kleinen Gütern und Freuden, welche der Mensch so leicht übersieht.

14. Das höchste, und für jeden Menschen erreichbare Glück ist ein wohl geordnetes Gemüt und ein wohl geordnetes Leben, worin das Gewissen herrscht, wo das Gemüt reich ist an guten Erinnerungen aus der Vergangenheit, treu für die Gegenwart und voll redlichen Willens für die Zukunft. In solchem Gemüt ist Friede; das ist, was Jesus den Frieden Gottes nannte, und das ist Seligkeit.

15. So wenig, wie im Streben nach dem Wahren und Rechten, eben so wenig wird der Mensch im Streben nach dem Schönen jemals fertig. Kein geringeres Ziel schwebt uns vor, als die Vollkommenheit, die niemand ausdenken kann. Aber jeder Schritt, der uns auf dem Wege zu ihr gelungen ist, erweckt Verlangen und Kraft, einen weiteren zu tun. Und gerade dieses Streben und Ringen, die Bewegung unserer Kräfte ist an sich eine Freude. Die Arbeit um ein Glück, verbunden mit der Hoffnung darauf, führt mehr Seligkeit bei sich, als die endliche Erlangung des Ersehnten.

 

 

Das Gesetz des Schönen in seiner Erfüllung im Einzelnen

 

16. Richte deine Umgebung nach dem Gesetz des Schönen ein. Auch im geringen Stande und im kleinen Hauswesen kann auf Ordnung, Reinlichkeit, Sauberkeit gehalten werden. Ein wohl geordnetes Gemüt mag nicht Unordnung um sich herum leiden.

17. Was deine Hand verfertigt, daran lege stets den Maßstab des Schönen. Auch die geringste Arbeit mache so vollkommen als du kannst. Wenn du sie vollendet hast und noch einmal betrachtest, muss sie so sein, dass du selbst deine Freude daran haben kannst. Jeder Pfuscher erniedrigt sich selbst.

18. Halte Maß in allen Dingen, die du in deinen Genuss ziehst. Das Übermaß hört auf, schön zu sein, gewährt nicht mehr reinen Genuss, macht zum Schmerz, was Freude bringen sollte. Besonders in den  Genüssen,  die  der Mensch mit dem Tier gemein hat, ist das Maßhalten äußerst wichtig, damit der Mensch nicht zum Tier herabsinke und sich an Leib und Seele schade.

19. Darum sei keusch! Die Unkeuschheit ist ein fressendes Feuer, das Seele und Leib verdirbt. Sei keusch auch in Worten und Gedanken.

20. Denke groß von dir, du darfst es. Bis du nicht ein Mensch? Und im Menschen lebt vom Göttlichen das Göttlichste. Wie niedrig oder hoch du auf der Stufe bürgerlicher Rangordnung stehen mögest, du bist zu vornehm, um dich durch gemeine, rohe und schlechte Dinge selbst zu erniedrigen. Die Natur hat dir deshalb die Scham gegeben als Warnerin, wenn du dich vergessen solltest. Der Freche, der die Scham ausgezogen hat, der hat damit auch seine Menschenwürde ausgezogen.

21. Leicht wirst du den Schein der Ehre entbehren, welche die oberflächlich urteilende Menge dem Stand, dem Reichtum, der Abkunft und allerlei äußeren Zeichen beimisst. Aber nach wahrer Ehre sollst du streben, nach der Achtung, dem Vertrauen und der Liebe der Vernünftigen und Wackeren, und ihr Urteil soll dir nicht gleichgültig sein. Sie müssen dich in jeder Probe bewährt gefunden haben, als einen edlen Menschen, in dem der schöne Keim der Menschennatur zu schöner Entfaltung gekommen ist.

22. Wo du das Schöne in der Welt mehren kannst, da tue es. Die schöne Erde kann und soll durch menschliche Pflege noch viel schöner werden. Die Werke der Menschenhand, bis herab auf das geringste Gerät, können und sollen dem Gesetz des Schönen immer besser entsprechen. Das Leben der Menschen kann durch vernünftige Einrichtungen viel heiterer werden. Das Schönste aber, woran du, wer du auch seist, an deinem Teil mitarbeiten kannst, ist jenes Reich der Wahrheit, das schon Jesus verkündete, und das er das Himmelreich nannte.

 

Das Gesetz des Schönen in seiner ewigen Grundlage

 

23. Der innere Zug, der den Menschen von Kindheit auf zum Schönen hinzieht, ist ebensowohl ein Zug der Gottheit, als das Gewissen eine Stimme der Gottheit ist. In besonders begabten Menschen ist dieser göttliche Zug besonders stark; diese sollen Meister der Kunst werden und bei Mitwelt und Nachwelt den Sinn für das Schöne weiter entwickeln helfen. Derselbe göttliche Zug geht durch die ganze Menschheit und zieht sie langsam von der Rohheit zu einem edlen Menschentum empor.


 

24. Dem Menschen allein ist es gegeben, dass er den Gedanken der Vollkommenheit vor der Seele trägt und der Verwirklichung derselben entgegen strebt. Die sämtlichen anderen Wesen bleiben in ihren engen Schranken; der Vogel baut sein Nest noch heute so, wie es das Tier dieser Art vor Jahrtausenden baute. Aber seitdem man aus den Felsenschichten und ihren Versteinerungen erkannt hat, dass die Erde in unberechenbaren Zeiträumen schon viele Veränderungen durchgemacht hat, so weiß man auch, dass unvollkommeneren Wesen immer vollkommenere folgten, bis das bis heute vollkommenste, der Mensch, in das Dasein trat. Das göttliche Gesetz des Schönen  oder  der Vollkommenheit  waltete  also in der Welt  von Ewigkeit.

25. Darum fühlt sich auch der Mensch, je vollkommener er wird, um so näher mit der Gottheit einig und verwandt. Wer ein vernünftiger, tätiger, guter Mensch ist und immer mehr wird, der blickt voll Seligkeit in die ganze Welt hinein und Himmel und Erde strahlt wiederum Seligkeit in sein Herz hinein. Das ist der Sinn des Ausspruchs Jesu: Selig, die reinen Herzens sind, sie werden Gott schauen.

26. So verlieren die einzelnen Regungen im Gemüt und die einzelnen Umstände in der Außenwelt, welche den Menschen beherrschen wollen, ihre Macht, der Mensch fühlt sich immer mehr als Glied des großen Ganzen und unterwirft sein Denken, Fühlen und Bestreben der heiligen Ordnung, der ihm seine Stelle im großen Ganzen zugewiesen hat. Das ist das Leben in Gott, die wahre Frömmigkeit.

 

 

 

Die besonderen menschlichen Verhältnisse

 

1.    Der Mensch ist mehr als jedes andere Wesen auf Gemeinschaft angewiesen. Durch die Gemeinschaft, die sich vom Anfang der Menschheit bis auf den heutigen Tag erstreckt, und darin besteht, dass sich die Leistungen eines Geschlechts im Wahren, Rechten und Schönen immer auf das folgende Geschlecht vererbten, ist die Menschheit auf ihren heutigen Standpunkt gekommen; ein geistiges Band zieht sich durch alle Jahrtausende. Mit denen, die zur gleichen Zeit mit uns leben, sind wir schon dadurch verbunden, dass für alles, was wir besitzen und genießen, unzählige Hände gearbeitet haben. Aber unsere Aufgabe, im Wahren, Rechten und Guten der Vollkommenheit zuzustreben, können wir gar nicht erfüllen, wenn wir nicht in der Gemeinschaft mit den Mitmenschen die Gelegenheit dazu hätten.    Diese Gemeinschaft  lebt in kleineren und  größeren Kreisen beisammen, welche einander umschließen: es ist der Kreis der Familie, der Gemeinde, des Staates.

 

Die Familie

2.    Ehegatten sind durch die bräutliche Liebe zusammengeführt. Diese soll nun zu der bleibenden, treue Liebe werden, dass sie einander das Leben verschönern, mit einander in allem Guten weiter streben, und dadurch immer mehr ein Herz und eine Seele werden. Ehebruch ist eine schwere Versündigung; Ehescheidung darf nur nach langer und gewissenhafter Überlegung stattfinden.

3.    Die natürliche Liebe der Eltern zu ihren Kindern soll zu der vernünftigen, gewissenhaften Liebe werden, welche die Kleinen zu wackeren Menschen zu bilden strebt. Dies Bestreben wird wieder auf die Veredlung der Eltern zurück wirken, und das Wirksamste bei der Erziehung ist das eigne edle Leben der Eltern.

4.    Die Kinder sollen durch ihr ganzes Leben streben, den Eltern ihre Liebe zu vergelten. Sie sollen die Eltern ehren als ihre nächsten von der Gottheit gegebenen Vorgesetzten.

5.    Die Kinder untereinander, die Geschwister, sollen sich vertragen lernen; ihr Beisammenleben soll ihnen eine Schule der Gerechtigkeit und Liebe sein für ihr späteres Leben unter allerlei Menschen.

6.    Herrschaften sollen ihre Diener als Menschen ehren, niemals als bloße Werkzeuge behandeln. Die Liebe der Herrschaft soll den Dienenden an die Familie binden, als wäre er ein Glied derselben.

7.    Der Dienende soll treu sein, und das wird er sein, wenn er nicht bloß um des Lohnes willen, sondern zugleich um des Gewissens willen seinen Dienst versieht.

8.    Verwandte sollen in ihrer Verwandtschaft ein Band erblicken, das die Gottheit geknüpft hat, und das sie willig macht, in Güte und Treue zusammen zu halten.

 

Die Gemeinde [gemeint ist die Kommune, Ortsgemeinde]

9.    In der  Gemeinde, das heißt in dem Kreise von Menschen, die an einem Ort beisammen wohnen, stehen die Nachbarn einander am nächsten, und mögen diese Gelegenheit zu Gefälligkeit und Dienstfertigkeit benutzen.


 

10. Es ist ein großes Glück, einen oder einige treue Freunde zu besitzen. Darum ist es der Mühe wert, einen Freund zu suchen, ihn unter den Besten durch eigene Tüchtigkeit zum Freund zu gewinnen, und ihn durch Treue als Freund zu erhalten.

11. Wer in der Gemeinde ein Amt bekleidet, dem sei es wert um der Gelegenheit willen, Gutes zu wirken; er verwalte es treu, und dass er Gutes wirkt, rechne er sich zum schönsten Lohn.

12. Eine Gemeinde soll nicht bloß darum zusammenhalten, weil sie beisammen wohnt und gemeinsamen Nutzen zu wahren hat, sondern auch darum, weil gemeinsame Kräfte viel Gutes stiften, viel Schlimmes mindern können. Mit Gemeinsinn soll jeder dazu mithelfen.

13. Wenn eine Gemeinde durch ein religiöses Band verbunden ist, so liegt darin ein um so stärkerer Antrieb, um im Gemeinsinn zusammen zu halten und die Ämter der Gemeinde treu zu verwalten.

14. Jeder Stand, sei er auch noch so gering, darf überzeugt sein, dass er seine Stelle wert ist und der Gemeinschaft Nutzen bringt, so gut, wie in der Natur jedes Wesen seine Stelle wert ist und dem Ganzen Nutzen bringt. Es ist nun Sache des Einzelnen in jedem Stande, dass er durch seine Tüchtigkeit seinem Stande Ehre mache.

15. Der Vornehme bleibe eingedenk, dass er ein Mensch ist, also dem Wesen nach nicht besser als die anderen. Er verdiene seine äußerlich höhere Stellung durch sittliche Vorzüge. Der Geringere bleibe eingedenk, dass er ein Mensch ist, also an sich nicht niedrig, wenn er nicht sich selbst erniedrigt. Beide müssen sich zu allem Schlechten zu vornehm erachten.

16. Der Reiche strebe reich zu werden an Weisheit und Tugend, damit nicht die Armut seiner Seele zu seinem Gütervorrat einen kläglichen Gegensatz bilde. Der Arme strebe, an den Gütern reich zu werden, die jedem Menschen zugänglich sind.

17. Der Gebildete soll beherzigen, dass Kenntnisse und Kunst ohne die rechte Lebenstat dem Menschen keinen Wert geben; er teile gern den anderen von seinen geistigen Gaben mit. Der Ungebildete soll beherzigen, dass die Einsicht, um ein guter Mensch zu werden, auch ohne vielen Unterricht erworben werden kann; er benutze aber die reichen Bildungsmittel unserer Zeit, um zu erwerben, was ihm die Schule nicht gegeben hat.

18. Das Alter sei reich an wohl erworbener Achtung; ein verächtlicher Greis, wozu hat er so lange gelebt?  Die Jugend sei bescheiden, lerne fleißig und sei fröhlich in Unschuld.

 


 

Der Staat

19. Der Staat, das heißt die geordnete Gemeinschaft der Bewohner eines ganzen Landes, besteht auf Gesetzen, und diese müssen gehalten werden, nicht bloß aus Furcht vor der auf ihrer Übertretung gesetzten Strafe, sondern aus der Überzeugung, dass nur durch Gesetzlichkeit der Staat zusammen gehalten werden und gedeihen kann.

20. Die Wohlfahrt des Staates ruht auf der Achtung vor dem Recht. Jedem Staatsbürger muss das Recht des anderen heilig sein. Weil
aber alle Einrichtungen des Staates menschlich, also der Vervollkommnung bedürftig sind, so muss durch die Gesetze für ein solches Maß der Freiheit gesorgt sein, dass die Einrichtungen des Staates vervollkommnet werden können. Die Religion, als Sache des Gewissens, hat im Staat auf volle Freiheit Anspruch.

21. Zur Überwachung der Gesetze ist die Obrigkeit gesetzt; ihr ist Gehorsam zu leisten, sofern sie nichts wider das Gewissen befiehlt.

22. Die Vaterlandsliebe, die dem menschlichen Herzen eben so natürlich ist, wie die Liebe zur Heimat und zu den Eltern, ist dadurch zu beweisen, dass jeder nach seinen Kräften dem Vaterlande dient, und dazu ist niemand ganz ohne Kräfte.

 

 

Die Zukunft

1.    Unbekannt, was die einzelnen Ereignisse betrifft, liegt die Zukunft vor mir; aber die Gegenwart trägt die Keime in sich von dem, was künftig geschehen soll, so wie die Ereignisse der Gegenwart die Entwicklung von Keimen sind, welche aus der Vergangenheit stammen. Darum ist jede wohl angewendete Stunde eine gute Vorbereitung auf die Zukunft.

2.    Ruhig kann ich der Zukunft entgegen sehen; was sie auch bringe, meinen Frieden kann sie mir nicht nehmen, denn der hängt nicht von Umständen ab. Alle Umstände, die da eintreten, werden mir Gelegenheit geben, weiser und besser und dadurch seliger zu werden.

3.    Ich werde sterben. Das Leben ist lang genug, um sich mit dem Gedanken des Todes vertraut zu machen. Je mehr ich würdig leben gelernt habe, desto ruhiger werde ich sterben können.


Die Bekenner der verschiedenen Religionen sollten doch einmal aufhören zu behaupten, dass man nur bei ihrer Religion ruhig sterben könne. Die Erfahrung beweist, dass das nicht wahr ist.

4.    Geistig werde ich unter den Menschen fortleben. Ich werde in der Erinnerung derer fortleben, deren Achtung und Liebe ich erwarb. Der gute Name, den ich mir im Leben erwarb, wird noch geraume Zeit nach meinem Tode dauern, um so mehr, da die Menschen geneigt sind, Mängel des Nächsten, an die sie sich während seines Lebens stießen, nach seinem Tode zu vergessen. Länger aber wird dauern, was ich geistig wirkte. Von den guten Samenkörnern, die ich mit Wort und Tat in Menschenseelen, besonders meiner Kinder, ausstreute, wird manches seine Frucht bringen, vielleicht nach bei Kindeskindern und noch später.

5.    Mein persönliches Wesen wird sich in seine Bestandteile auflösen, und diese werden nach dem ewigen Kreislauf der Natur in andere Wesen übergehen; denn Vernichtung gibt es nirgends.

6.    Von jeher ist in dem Menschen die Hoffnung aufgestiegen, dass sie nach dem Tode persönlich fortleben würden. Diese Fortdauer ist bald gröber bald feiner gedacht worden, und viele Religionen haben diese Hoffnung als eine gewisse Sache unter ihren Lehren aufgenommen. Das Beste, was sich darüber sagen lässt ist: „Da der Mensch in seinem Erdenleben sich zu dem Vollkommensten, was wir kennen, zu einem selbständigen Ich entwickelt habe, zu einer eigenen kleinen Welt, welche aber noch nicht geworden sei, wozu die Anlage in ihr war, so dürfe er auf Fortdauer hoffen.“ Aber mehr als Ahnung, Vermutung, Wunsch ist diese Hoffnung nicht, darum in eine Religionslehre der sicheren Erkenntnis gehört sie nicht hinein.

7.    Dagegen darf der Gedanke, der in die Zukunft fliegt, gewiss noch auf einer langen Reihe von Geschlechtern der Menschen ruhen, die aufeinander folgen werden, wohl noch manches Jahrtausend hindurch; denn die Menschheit hat gewiss noch lange an ihrer großen Aufgabe zu arbeiten. Die Nähe des jüngsten Tages ist eine seltsame Täuschung, die schon so oft durch die Erfahrung widerlegt ist, dass sie wohl endlich in ihrer Richtigkeit erkannt sein sollte.

8.    Aber an der Aussicht darf sich der Mensch weiden, dass die Menschheit in der Erkenntnis, in der Tüchtigkeit, in der Seligkeit immer weiter kommen wird; sind ihre Schritte in der Vervollkommnung bisher sehr langsam und schwankend gewesen, so wächst doch mit jedem Schritt die Kraft, und gewiss wird in der Zukunft noch viel Irrtum,  Sünde und Plage verschwinden,  und das  Reich der Wahrheit, des Rechts und des allgemeinen Wohls wird zunehmen. Dazu an seinem Teil beizutragen, ist wahre menschliche Ehre und Freude.

9.    Die Zukunft der Menschheit mit ihren schönen Aufgaben und ihren sicheren Siegen, das ist unsere Ewigkeit, von der wir mit Überzeugung sprechen können. Für diese Ewigkeit leben, die Lebensaufgabe jeder Stunde so ausfüllen, dass man sich dabei von den ewigen Gesetzen des Wahren, Rechten und Schönen leiten lässt, das heißt jetzt schon Ewigkeit leben.

 

 

Freie Gemeinden

1.    Viele Religionen sind unter der heutigen Menschheit vorhanden. Unter den etwa 1300 Millionen, die man jetzt in ungefährer Berechnung annimmt, zählt man 335 Millionen Christen, 5 Millionen Juden, 600 Millionen von jenen alten asiatischen Religionen, denen trotz ihrer Götterbilder doch die Idee der einen Gottheit zu Grunde liegt (Brahma- und Buddhareligionen). 160 Millionen Mohammedaner, 200 Millionen Heiden. In jeder dieser Religionen liegt ein Kern von Wahrheit, in jeder wird das Gewissen zum Rechten angeregt, jede hat Befriedigung für das Gefühl, aber jede hat auch ihre Mängel. Der Hauptfehler aller ist, dass sie im Namen der Gottheit ihre eigene Berichtigung verwehren.

2.    Die freireligiösen Gemeinden, welche in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts entstanden sind, unterscheiden sich dadurch von allen anderen Religionsgenossenschaften, dass sie die Religion in den allgemeinen Fluss der menschlichen Dinge hineinstellen. Ihnen gilt das große Gesetz der Vervollkommnung in der Religion ebensowohl als in Wissenschaft, Kunst und jeder menschlichen Leistung. Wenn morgen eine richtige Erkenntnis in der Religion gewonnen ist, so muss die heutige weichen.

3.    In der Lehre der freien Gemeinden steht darum der Grundsatz allen geistigen Lebens voran: Denke nach! Ein Glaubensbekenntnis, wie die anderen Gemeinschaften, haben sie nicht; sie versuchen nicht, die Gottheit in einem Begriff zu fassen. Was sich nicht sicher erkennen lässt, das rechnen sie nicht zur Religion. Auch wenn sie ein Bekenntnis ihrer Grundsätze aufstellten, so ist es der Ausdruck ihrer gegenwärtigen Überzeugung, und will weder die Gesamtheit noch die Zukunft binden. Sie erachten sich bloß gebunden durch Gewis-senhaftigkeit.

4.    In den Gebräuchen der freien Gemeinden herrscht Einfachheit. Was in den anderen Religionen Kultus oder Gottesdienst heißt, das
haben sie nicht. Sie kommen zusammen, dass eine Person ihres Vertrauens ihnen einen religiösen Vortrag halte; die meisten verbinden damit Gemeindegesang. Es ist eine Aufgabe ihrer weiteren Entwicklung, die Leistungen der Kunst in ihre Versammlungen und Versammlungsorte hinein zu ziehen, ebenso Veranstaltungen zu treffen, dass die Ergebnisse der Wissenschaft allem Volk zugänglich gemacht werde. Gleichfalls liegt heitere Geselligkeit im Geiste ihrer Religion.

5.    Die Verfassung der freireligiösen Gemeinden ruht auf dem Grundsatz voller Freiheit. Sie ordnen und leiten ihre Angelegenheiten selbst durch Versammlungen mit gleichem Stimmrecht eines jeden Erwachsenen und durch selbst gewählte Vorsteher. Die Gemeinden in Deutschland haben in diesem 1859sten Jahr einen Bund geschlossen, der den Grundsatz freier Selbstbestimmung an die Spitze seiner Verfassung gestellt hat.

6.    Hier folgt als Beispiel von Lehre, Brauch und Verfassung einer freireligiösen Gemeinde das gegenwärtige Statut der Magdeburgischen:

 

 

 

 

Statut

der freien Religions-Gesellschaft

in Magdeburg

 

 

A. Das Allgemeine

 

1.    Wir haben das Bedürfnis religiöser Gemeinschaft, finden es aber bei den um uns bestehenden Religions-Gesellschaften nicht befriedigt. Darum treten wir zu einer neuen Gemeinschaft zusammen, und nennen uns eine freie Religions-Gesellschaft.

2.    Uns ist Religion die freudige Gewissenhaftigkeit, welche das Gesetz des menschlichen Lebens zu erfüllen beflissen ist, und darin das Glück findet. Darum lassen wir uns angelegen sein, unsere Stelle in der großen Weltordnung zu erkennen und auszufüllen. Zu solcher Erkenntnis soll uns der freie Gebrauch der Vernunft verhelfen, welche aus der Betrachtung der Natur, der Geschichte und des eigenen Wesens zu schöpfen hat. Für ein entsprechendes Leben erkennen wir die Wahrhaftigkeit, die Gerechtigkeit und die Liebe als die Richtschnur. Der Glückseligkeit sind wir um so gewisser, je mehr diese drei in unserem Leben zur Herrschaft kommen.

3.    Die richtige Erkenntnis, die rechte Tat und die Herzensbefriedigung gedenken wir durch unsere Gemeinschaft zu fördern, insbesondere durch Zusammenkünfte, welche durch Vorträge, Beratung und Unterhaltung ausgefüllt werden.

4.    Unsere Religions-Gesellschaft regiert sich selbst in Gemeinde-versammlungen und durch auf Zeit gewählten Vorstand.

5.    Was das Landesgesetz von den Religionsgrundsätzen der Landesangehörigen fordert, nämlich dass sie der Ehrfurcht gegen die Gottheit, dem Gehorsam gegen die Gesetze, der Treue gegen den Staat und der allgemeinen Sittlichkeit entsprechen, das gebietet uns schon das Wesen unserer Religion, was wir ausdrücklich erklären.

 

B. Das Besondere

1.    Jedem, der nach den Landesgesetzen das Recht hat, sich seine Religionsgesellschaft zu wählen, steht der Zutritt zu unserer Religionsgesellschaft offen. Dieser Zutritt erfolgt durch eigenhändige Einzeichnung in unsere Liste.

2.    Stimmberechtigt ist jeder nach vollendetem zwanzigsten Jahr. Jeder Gemeindebeschluss muss durch zwei beratende Versammlungen gehen. Zu einer Statutenänderung sind zwei Drittel der anwesenden Stimmen notwendig.

3.    Wir versammeln uns allsonntäglich bei Vortrag und Gesang.

4.    Wir versammeln uns in der Woche zur Beratung und Unterhaltung.

5.    Die Geschäfte der Religionsgesellschaft werden von gewählten Ältesten besorgt. Sie werden auf zwei Jahre gewählt; am Ende des ersten scheidet die Hälfte durch Verlosung aus. Die Ältesten wählen aus ihrer Mitte einen Vorsteher und deren Stellvertreter. Sie wählen einen Kassenführer. Sie besetzen besondere Stellen am Gemeindedienst, sofern die Gesellschaft solche für nötig findet. Nach Übereinkunft zwischen ihnen ist einer in jeder Versammlung der Religionsgesellschaft zugegen und führt den Vorsitz.

6.    Was die Vorträge in den Sonntagsversammlungen betrifft, so überträgt unsere Religionsgesellschaft dieselben der oder den geeigneten Personen.  Was etwaige Vorträge und Mitteilungen in der Unterhaltung der Wochenversammlungen betrifft, so ist es der Vorsitzende, der das Wort zu erteilen hat.

Die Geldbedürfnisse der Religionsgesellschaft werden aus freiwilligen Beiträgen bestritten.

 


7.    Die sämtlichen anderen Religionsgemeinschaften stehen zu uns im entschiedenen Gegensatz, weil sie das Heil in ihren fertigen Lehren und Formen erblicken. Wir dagegen stehen zu ihnen nicht in diesem schroffen Gegensatz, weil wir auch bei ihnen Wahrheit und Heil erblicken, dem nur die Freiheit der Fortentwicklung fehlt. Wir fordern von jedem ihrer Angehörigen, dass er bei seiner Religion verbleibe, so lange ihn sein Gewissen dabei festhält.

8.    Die staatlichen Mächte in Deutschland haben bisher die freireligiösen Gemeinden mit Misstrauen als etwas der bürgerlichen und staatlichen Ordnung Gefährliches betrachtet. Darum sind in mehreren deutschen Ländern diese Gemeinden verboten; rechtlich gleichgestellt mit den anderen Religionsgemeinschaften sind sie in keinem. Es ist also unsere Aufgabe, durch die Tat jenes Misstrauen zu überwinden.

9.    An Zahl, an bürgerlichen Ehren, an Vermögen sind die freireligiösen Gemeinden dieser Zeit schwach. Die Zahl der Gemeinden in Deutschland beträgt etwa Einhundert. Aber auf ihrer Seite steht die ewige Ordnung der Menschheit, und ihre Bundesgenossen heute schon sind die Gedanken, welche Millionen Zeitgenossen mit ihnen teilen, ohne sich deshalb von ihrer alten Religionsgemeinschaft los zu machen.

10. In der näheren Zukunft werden die freien Gemeinden noch manche Schwierigkeit zu überwinden haben. Aber ihre große Bedeutung ist, dass in ihnen das Recht der freien Wahrheit, der vollen Aufrichtigkeit in der Religion und des lebendigen Fortschritts offen ausgesprochen und vertreten wird. Die spätere Zukunft der Menschheit gehört ihnen, vorausgesetzt, dass sie in der freien Selbstbestimmung niemals untreu werden.

11. Schon jetzt genießt jedes Mitglied freireligiöser Gemeinden, das dies mit ganzer Seele ist, die Seligkeit des Bewusstseins, dass er durch seine Religion mit der Natur, mit dem Entwicklungsgang der Menschheit, mit den Gesetzen seiner eigenen Seele in Harmonie steht. Dass diese Harmonie dadurch vollkommen werde, dass auch unsere Taten, unser ganzes Leben mit unserer Religion immer mehr in Einklang trete, das ist unsere tägliche allerwichtigste Aufgabe.

1859