Freireligiöses Quellenbuch 1.

 

Die Freireligiöse Bewegung

 

gedacht als Hinführung zum Thema

 

 

aus:

Georg Schneider

„Lehrbuch für den religiös-sittlichen

Unterricht in freireligiösen Gemeinden“

 II. Teil

1904, Frankfurt/Main,

Neuer Frankfurter Verlag

 

 

 

 

Die freireligiöse Bewegung unserer Tage ist das Produkt zweier reformistischer Bewegungen des 19. Jahrhunderts; die eine derselben vollzieht sich innerhalb der katholischen Kirche und ist unter dem Namen „Deutschkatholizismus“ bekannt geworden; die andere durchzittert den Protestantismus und wird getragen von dem Verein der „protes-tantischen Freunde“. Die Zeit dieser Doppelbewegung war das vierte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts; sie erweist sich als die unumgängliche, praktische Konsequenz der ihr vorausgegangenen aufklärerischen Bestrebungen.

 

 

 

 

Der Deutschkatholizismus

Wie die Reformation des 16. Jahrhunderts, so bedurfte auch die des 19. Jahrhunderts, wiewohl längst vorbereitet, eines äußeren Anstoßes. Sie fand denselben in der Ausstellung des sogenannten Heiligen Rockes zu Trier durch den Bischof Arnoldi. Der außerordentliche Zulauf, dessen sich die Ausstellung dieser Reliquie zu erfreuen hatte, die abgöttische Verehrung, die ihr zuteil wurde, die Riesenopfer, die der abgöttischen Pilgerschaft aus aller Herren Länder damit zugemutet  wurden, endlich die der Reliquie angedichteten Wunderkraft erregten bei allen vorurteilsfreien, denkenden Menschen Anstoß und Widerspruch. Den wirksamsten Ausdruck fand dieser Widerspruch in dem offenen Sendschreiben des katholischen Priesters Johannes Ronge in Laurahütte vom 1. Oktober 1844. Der Wortlaut des Sendschreibens, das am 15. Oktober des genannten Jahres in den „Sächsischen Vaterlandsblättern“ erschien, ist folgender:


 

Laurahütte, den 1. Oktober 1844

 

Urteil eines katholischen Priesters über den

Heiligen Rock zu Trier

 

Was eine Zeitlang wie Fabel, wie Märe an unser Ohr geklungen: dass der Bischof Arnoldi von Trier ein Kleidungsstück, genannt der Rock Christi, zur Verehrung und religiösen Schau ausgestellt, ihr habt es gehört, Christen des 19. Jahrhunderts, ihr wisst es, deutsche Männer, ihr wisst es, deutsche Volks- und Religionslehrer, es ist nicht Fabel und Märe, es ist Wirklichkeit und Wahrheit.

Denn schon sind, nach den letzten Berichten, fünfmal hunderttausend Menschen zu dieser Reliquie gewallfahrt, und täglich strömen andere Tausende herbei, zumal, seitdem erwähntes Kleidungsstück Kranke geheilt, Wunder gewirkt hat. Die Kunde davon dringt durch die Lande aller Völker, und in Frankreich haben Geistliche behauptet: „Sie hätten den wahren Rock Christi, der zur Trier sei unecht.“ Wahrlich, hier finden die Worte Anwendung: „Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verlieren kann, der hat keinen zu verlieren.“ Fünfmal hunderttausend Menschen, fünfmal Hunderttausende verständige Deutsche sind schon zu einem Kleidungsstücke nach Trier geeilt, um dasselbe zu verehren oder zu sehen! Die meisten dieser Tausende sind aus den niederen Volksklassen, ohnehin in großer Armut, gedrückt, unwissend, stumpf, abergläubisch und zum Teil entartet, und nun entschlagen sie sich der Bebauung ihrer Felder, entziehen sich ihrem Gewerbe, der Sorge für ihr Hauswesen, der Erziehung ihrer Kinder, um nach Trier zu reisen zu einem Götzenfeste, zu einem unwürdigen Schauspiele, das die römische Hierarchie aufführen lässt.

Ja, ein Götzenfest ist es, denn viele Tausende der leichtgläubigen Menge werden verleitet, die Gefühle, die Ehrfurcht, die wir nur Gott schuldig sind, einem Kleidungsstück zuzuwenden, einem Werke, das Menschenhände gemacht habe. Und welche nachteiligen Folgen haben diese Wallfahrten? Tausende der Wallfahrer darben sich das Geld ab für diese Reise und für das Opfer, das sie dem Heiligen Rock, d. h. der Geistlichkeit, spenden, sie bringen es mit Verlusten zusammen oder erbetteln es, um nach der Rückkehr zu hungern, zu darben oder von den Anstrengungen der Reise zu erkranken.

Sind diese äußeren Nachteile schon groß, sehr groß, so sind die moralischen noch weit größer. Werden nicht manche, die durch die Reisekosten in Not geratenen sind, auf unrechtmäßige Weise sich zu entschädigen suchen? Viele Frauen und Jungfrauen verlieren die Reinheit ihres Herzens, die Keuschheit, den guten Ruf, zerstören dadurch den Frieden, das Glück, den Wohlstand ihrer Familie.


 

Endlich wird durch dieses ganz unchristliche Schauspiel dem Aberglauben, der Werkheiligkeit, dem Fanatismus und, was damit verbunden ist, der Lasterhaftigkeit Tor und Angel geöffnet. Dies der Segen, den die Ausstellung des Heiligen Rockes verbreitet, von dem es im übrigen ganz gleich ist, ob er echt oder unecht.

 

Und der Mann, der dieses Kleidungsstück - ein Werk, das Menschenhände gemacht! - zur Verehrung und Schau öffentlich ausgestellt hat, der die religiösen Gefühle der leichtgläubigen, unwissenden oder der leidenden Menge irreleitet, der dem Aberglauben, der Lasterhaftigkeit dadurch Vorschub leistet, der dem armen hungernden Volke Gut und Geld entlockt, der die deutsche Nation dem Spott der übrigen Nationen preisgibt, und der die Wetterwolken, die ohnehin sehr schwer und düster über unseren Häuptern schweben, noch stärker zusammenzieht, dieser Mann ist ein Bischof, ein deutscher Bischof, es ist der Bischof
Arnoldi von Trier.

 

Bischof Arnoldi von Trier, ich wende mich darum an Sie und fordere Sie Kraft meines Amtes und Berufes als Priester, als deutscher Volkslehrer, und im Namen der Christenheit, im Namen der deutschen Nation, im Namen der Volkslehrer auf, dies unchristliche Schauspiel der Ausstellung des Heiligen Rockes aufzuheben, das erwähnte Kleidungsstück der Öffentlichkeit zu entziehen und das Ärgernis nicht noch größer zu machen, als es schon ist!

 

Denn wissen Sie nicht - als Bischof müssen Sie es wissen - dass der Stifter der christlichen Religion seinen Jüngern und Nachfolgern nicht seinen Rock, sondern seinen Geist hinterließ? Sein Rock, Bischof Arnoldi von Trier, gehört seinen Henkern! Wissen Sie nicht, - als Bischof müssen Sie es wissen, - dass Christus gelehrt: „Gott ist ein Geist, und wer ihn anbetet, soll ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten?“ Und überall kann er verehrt werden, nicht etwa bloß zu Jerusalem im Tempel, auf dem Berge Garizim oder zu Trier beim Heiligen Rocke.

Wissen Sie nicht, - als Bischof müssen Sie es wissen, - dass das Evangelium die Verehrung jedes Bildnisses, jeder Reliquie ausdrücklich verbietet? Dass die Christen der Apostelzeit und der ersten drei Jahrhunderte weder ein Bild noch eine Reliquie (sie konnten deren doch viele haben!) in ihren Kirchen duldeten? Dass die Verehrung der Bilder und Reliquien heidnisch ist, und dass die Väter der ersten drei Jahrhunderte die Heiden deshalb verspotteten?

 

Endlich, wissen Sie nicht - als Bischof müssen Sie auch dies wissen, - dass der gesunde kräftige Geist der deutschen Völker sich erst im 13. und 14. Jahrhundert durch die Kreuzzüge zur Reliquienverehrung er-


 

niedrigen ließ, nachdem man in ihm die hohe Idee, welche die christliche Religion von der Gottheit gibt, durch allerlei Fabeln und Wundergeschichten, aus dem Morgenlande gebracht, verdunkelt hatte? Sehen Sie, Bischof Arnoldi von Trier, dies wissen Sie und wahrscheinlich besser, als ich es Ihnen sagen kann, Sie kennen auch die Folgen, welche die götzenhafte Verehrung der Reliquien und der Aberglaube überhaupt für uns gehabt hat, nämlich Deutschlands geistige und äußerliche Knechtschaft, und dennoch stellen Sie Ihre Reliquie aus zur öffentlichen Verehrung! Doch, wenn Sie vielleicht dies alles nicht wüssten, wenn Sie nur das Heil der Christenheit durch die Ausstellung der Trierschen Reliquie erzielten, so haben Sie doch eine doppelte Schuld dabei auf Ihr Gewissen geladen, von der Sie sich nicht reinigen können.

Einmal ist es unverzeihlich von Ihnen, dass Sie, wenn dem bewussten Kleidungsstücke wirklich eine Heilkraft beiwohnt, der leidenden Menschheit dieselbe bis zum Jahr 1841 vorenthalten haben.

 

Zum anderen ist es unverzeihlich, dass Sie Opfergeld von den Hunderttausenden der Pilger nehmen. Oder ist es nicht unverzeihlich, dass Sie als Bischof Geld von der hungernden Armut unseres Volkes annehmen? Zumal Sie erst vor einigen Wochen gesehen haben, dass die Not Hunderte zu Aufruhr und zu verzweifeltem Tode getrieben hat? Lassen Sie sich im Übrigen nicht täuschen durch den Zulauf von Hunderttausenden und glauben Sie mir, dass, während Hunderttausende der Deutschen voll Inbrunst nach Trier eilen, Millionen gleich mir von tiefem Grauen und bitterer Entrüstung über Ihr unwürdiges Schauspiel erfüllt sind. Diese Entrüstung findet sich nicht etwa bloß bei einem oder dem anderen Stande, bei dieser oder jener Partei; sondern bei allen Ständen, ja selbst bei dem katholischen Priesterstande. Daher wird Sie das Gericht eher ereilen, als Sie es vermuten. Schon ergreift der Geschichtsschreiber den Griffel und übergibt Ihren Namen, Arnoldi, der Verachtung bei Mit- und Nachwelt und bezeichnet Sie als den Tetzel des 19. Jahrhunderts! -

 

Sie aber, meine deutschen Mitbürger, ob Sie nahe oder fern von Trier wohnen, wenden Sie alles an, dass dem deutschen Namen nicht länger eine solche Schmach angetan werde.

Sie haben Stadtverordnete, Gemeindevorsteher, Kreis- und Landstände, wohlan, wirken Sie durch dieselben. Suchen Sie ein jeder nach seinen Kräften und endlich einmal entschieden der tyrannischen Macht der römischen Hierarchie zu begegnen und Einhalt zu tun. Denn nicht bloß zu Trier wird der moderne Ablasskram getrieben; Sie wissen es ja, im Ost und West, im Nord und Süden werden Rosenkranz, Mess-, Ablass-, Begräbnisgelder und dergleichen eingesammelt, und die Geistesnacht nimmt immer mehr überhand.


 

Gehen Sie alle, ob Katholiken oder Protestanten, ans Werk, es gilt unsere Ehre, unsere Freiheit, unser Glück. Erzürnen Sie nicht die Manen Ihrer Väter, welche das Kapitol zerbrachen, indem Sie die Engelburg in Deutschland dulden. Lassen Sie nicht die Lorbeerkränze eines Huss, Hutten, Luther beschimpfen. Leihen Sie Ihren Gedanken Worte und machen Sie Ihren Willen zur Tat.

 

Endlich Sie, meine Amtsgenossen, die Sie das Wohl Ihrer Gemeinden, die Ehre, die Freiheit, das Glück Ihrer deutschen Nation wollen und anstreben, schweigen Sie nicht länger, denn Sie versündigen sich an der Religion, an dem Vaterlande, an Ihrem Beruf, wenn Sie länger schweigen, und wenn Sie länger zögern, Ihre bessere Überzeugung zu betätigen. Schon habe ich ein anderes Wort an Sie gerichtet, darum für jetzt nur diese wenigen Zeilen. Zeigen Sie sich als wahre Jünger dessen, der alles für die Wahrheit, das Licht und die Freiheit geopfert; zeigen Sie dass Sie seinen Geist, nicht seinen Rock geerbt haben.

 

Johannes Ronge, katholischer Priester

 

 

 

Die Wirkung dieses Sendschreibens war eine ungeheure; Begeisterung bei allen denjenigen, welche gleich Ronge in jener Trierer Ausstellung eine Verhöhnung des Christentums erblickten, unsägliche Wut aber bei den Veranstaltern der Ausstellung und ihren Fürsprechern. Sofort entspann sich eine heftige literarische Fehde für und wider den Reliquiendienst der katholischen Kirche.

 

Am 29, Oktober erhielt Ronge, der nach Erscheinen des Briefes Laurahütte sofort verlassen hatte, von seiten des Breslauer Domkapitels die Aufforderung zur Behebung des gegebenen Ärgernisses und der darin enthaltenen Kränkungen des hochwürdigsten Bischofs Arnoldi zu Trier, einen feierlichen Widerruf in denselben Vaterlandsblättern sowie einigen anderen viel gelesenen Zeitungen zu veranlassen.

Ronge erwiderte unterm 30. November, dass er die Wahrheit gesagt habe und niemals widerrufen werde; daraufhin wurde unterm 4. Dezember 1844 die Degradation und Exkommunikation in Gemäßheit und Kraft der kanonischen Gesetze und Bestimmungen über ihn ausgesprochen. Ronge erhielt die Exkommunikationsurkunde zu Breslau, woselbst er sich seit dem 23. November aufhielt, damit beschäftigt, in einer Reihe rasch aufeinanderfolgenden Schriften sein Tun zu rechtfertigen und die Öffentlichkeit für sich zu gewinnen.

Was er der römischen Hierarchie entgegenzustellen forderte, war „ eine freie National-Kirchenversammlung, zusammengesetzt aus frei gewählten Männern und wahren Priestern“, bestimmt, „den Glaubenszwang und die daraus entstehende Heuchelei, das Pfaffen- und Jesu-itentum auf immer zu vernichten, die Religion zu läutern, die Kirche zu ihrem wahren Berufe zu führen, zu dem Berufe, den die Bedürfnisse unserer Völker, der Geist der neuen Zeit ihr auferlegt, nämlich: auszusöhnen den hohen und niederen, den gebildeten und unwissenden, den armen und reichen Teil der Menschheit, auszusöhnen die Nationen und die Völker der Erde durch Vervollkommnung, Veredlung, durch Liebe und Freiheit aller“.

Noch deutlicher als in diesem Aufruf an seine Standesgenossen, sprach Ronge seine letzte Absicht seinen Mitbürgern gegenüber aus, indem er sie unter Hinweis auf die ihnen gegebene Vernunft aufforderte: „Wohlan, sagen wir uns los von der römischen Kirche, vom Papst, und bilden wir eine deutschkatholische Kirche“.

 

Diese Aufforderung traf die Breslauer Bürgerschaft nicht unvorbereitet; die Rationalisten waren auch in Breslau nicht müßig gewesen, so dass eine nicht unbedeutende Empfänglichkeit für die beabsichtigte Reform vorhanden war. Der Professor des Kirchenrechts an der Breslauer Universität, Dr. Regenbrecht, und einer der deutschen Freiheitskämpfer, der Maler Professor Höcker, waren die ersten, welche, nicht zufrieden, dass man Ronge nur durch Dankadressen, Pokale, Becher und goldene Denkmünzen ehre, an seine Seite traten und zur Sammlung um Ronge als Hirt und Seelsorger aufforderten. Die Aufforderung hatte Erfolg.

 

In vier aufeinander folgenden Versammlungen zwischen dem 22. Januar und 9. Februar 1845 erfolgte die Gründung der Gemeinde, die sich unterm 16. Februar 1845 auf die 24 Artikel umfassende „Grundsätze der Glaubenslehre, des Gottesdienstes und der Verfassung der allgemeinen (christlichen) Gemeinde zu Breslau“ einigte.

Am 9. März 1845 feierte die Gemeinde bei einem Mitgliederstand von 2000 ihren ersten Gottesdienst in der vom Magistrat zur Verfügung gestellten Armenhauskirche. Bis zum Osterfest desselben Jahres zählte die Gemeinde bereits 7000 Seelen. Dem von Ronge geleiteten ersten Gottesdienste wohnten zwei ebenfalls exkommunizierte Geistliche an, Johannes Czerski, welcher unabhängig von Ronge nach vorausgegangenem Konflikt mit seiner christlichen Oberbehörde, dem Generalkonsistorium zu Posen, am 19. Oktober 1844 eine „christlich-apostolisch-katholische Gemeinde“ mit Unterstützung des Stadtkämmerers Sänger zu Schneidemühl gegründet hatte, und Karl Kerbler, der unterm 5. März 1845 seinen Austritt aus der katholischen Kirche erklärt und seine Kaplanei verlassen hatte.

 

Diesen ersten Zutritten aus den Reihen der Geistlichen folgten bald andere, unter ihnen am 5. April 1845 die des protestantischen Predigers Hofferichter und des protestantischen Kandidaten Vogtherr. Die Möglichkeit für eine ersprießliche Tätigkeit mehrerer Prediger war sogleich gegeben, da dem Beispiele Breslaus zahlreiche andere Städte folgten und die deutschkatholischen Gemeinden nach Jahresfrist bereits über hundert zählten.

 

Wir führen nur an:

Aus dem Jahr 1845 die Gemeinde Worms (6. März), Wiesbaden (8. März), Offenbach (9. März), Stuttgart (9. März), Ulm (25. März), Frankfurt a.M. (5. April), Hanau (22. Mai), Wörrstadt (15. Juni), Heidelberg (28. Juni), Mannheim (16. August), Pforzheim (2. Oktober), Osthofen (22. November);

aus dem Jahr 1846: Rüdesheim (14. Januar), Frankenthal (1. Mai);

aus dem Jahr 1847: Mainz (27. Februar);

ferner Ober-Ingelheim (1.Januar 1851),  Krofdorf (8. April 1861), Essenheim (14. Oktober 1861).

 

Die so überaus rasche Verbreitung des Deutschkatholizismus war mit bedingt durch die mehreren Rundreisen, welche Ronge teils allein, teils von anderen begleitet, in der Folgezeit durch ganz Deutschland unternahm, und die wahren Triumphzügen glichen. Dem so üppig emporrankenden Deutschkatholizismus ein festes Fundament zu geben, schritt man gar bald zur Festsetzung dessen, was in den deutschkatholischen Gemeinden gelehrt werden sollte. Auf Einladung der von Robert Blum begründeten Gemeinde zu Leipzig versammelten sich in den Ostertagen des Jahres 1845 die Vertreter der inzwischen entstandenen Gemeinden vom 23. bis 26. März zu Leipzig zu dem ersten deutschkatholischen Konzil unter Vorsitz des Professors Wigard von Dresden. Das Konzil hatte dem Wunsche der Versammelten entsprechend den Charakter eines Laienkonzils, woran auch die Anwesenheit dreier Geistlicher (Ronge, Czerski, Kerbler) nicht ändern sollte.

 

Das Ergebnis der Beratungen des Konzils war die einmütige Annahme des „Leipziger Glaubensbekenntnisses“ oder der „Allgemeinen Grundsätze und Bestimmungen der deutschkatholischen Kirche“.

 

 


 

Allgemeine Grundsätze und Bestimmungen

der deutschkatholischen Kirche

 

wie sie bei dem ersten Konzil an dem Osterfeste 1845 beraten und angenommen wurden

 

I. Bestimmungen über die Glaubenslehre

 

1.      Die Grundlage des christlichen Glaubens soll einzig und allein die Heilige Schrift sein, deren Auffassungen und Auslegung der von der christlichen Idee durchdrungenen und bewegten Vernunft freigegeben ist.

 

2.      Als allgemeinen Inhalt unserer Glaubenslehre stellen wir folgendes Symbol auf: „Ich glaube an Gott den Vater, der durch sein allmächtiges Wort die Welt geschaffen, und sie in Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe regiert. Ich glaube an Jesum Christum, unseren Heiland. Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige allgemeine christliche Kirche, Vergebung der Sünden und an ein ewiges Leben. Amen.

 

3.      Wir verwerfen das Primat des Papstes, sagen uns von der Hierarchie los und verwerfen im Voraus alle Konzessionen, welche möglicherweise von der Hierarchie gemacht werden könnten, um die freie Kirche wieder unter ihr Joch zu beugen.

 

4.      Wir verwerfen die Ohrenbeichte.

 

5.      Wir verwerfen das Zölibat (erzwungene Ehelosigkeit.)

 

6.      Wir verwerfen die Anrufung der Heiligen, die Verehrung von Reliquien und Bildern.

 

7.      Wir verwerfen die Ablässe, gebotenes Fasten, Wallfahrten und alle solche bisher bestehenden kirchlichen Einrichtungen, welche nur zu einer gesinnungslosen Werksheiligkeit führen können.

 

8.      Wir stellen der Kirche und den Einzelnen die Aufgabe, den Inhalt unserer Glaubenslehre zur lebendigen, dem Zeitbewusstsein entsprechenden Erkenntnis zu bringen.

 

9.      Wir gestatten aber völlige Gewissensfreiheit, freie Forschung und Auslegung der Heiligen Schrift, durch keine äußere Autorität beschränkt, verabscheuen vielmehr allen Zwang, alle Heuchelei und alle Lüge, daher wir in der Verschiedenheit der Auffassung und Auslegung des Inhaltes unserer Glaubenslehren keinen Grund zur Absonderung oder Verdammung finden.


 

10.   Wir erkennen nur zwei Sakramente an: die Taufe und das Abendmahl, ohne jedoch die einzelnen Gemeinden in der Beibehaltung christlicher Gebräuche beschränken zu wollen.

 

11.   Die Taufe soll an Kindern, mit Vorbehalt der Bestätigung des Glaubensbekenntnisses bei erlangter Verstandesreife vollzogen werden.

 

12.   Das Abendmahl wird von der Gemeinde, wie es von Christus eingesetzt worden ist, unter beiden Gestalten empfangen.

 

13.   Wir erkennen die Ehe für eine heilig zu haltende Einrichtung an und behalten die kirchliche Einsegnung derselben bei; auch erkennen wir keine anderen Bedingungen und Beschränkungen derselben an, als die von den Staatsgesetzen gegebenen.

 

14.   Wir glauben und bekennen, dass es die erste Pflicht des Christen sei, den Glauben durch Werke christlicher Liebe zu betätigen.

 

 

 

II. Bestimmungen über die äußere Form des Gottesdienstes und über die Seelsorge

 

15.   Der Gottesdienst besteht wesentlich aus Belehrung und Erbauung. Die äußere Form des Gottesdienstes überhaupt soll sich stets nach den Bedürfnissen der Zeit und des Ortes richten.

 

16.   Die Liturgie insbesondere aber der Teil des Gottesdienstes, der zur Erbauung dienen soll, wird nach der Einrichtung der Apostel und der ersten Christen, den jetzigen Zeitbedürfnissen gemäß, geordnet. Die Teilnahme der Gemeindemitglieder und die Wechselwirkung zwischen ihnen und den Geistlichen wird als wesentliches Erfordernis angesehen.

 

17.   Der Gebrauch der lateinischen Sprache beim Gottesdienste soll abgeschafft werden.

 

18.   Der kirchliche Gottesdienst besteht in folgenden Stücken:

 

a)         Anfang: Im Namen Gottes des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

b)         Einleitendes Lied.

c)         Sündenbekenntnis (Confiteor).

d)         „Herr, erbarme dich unser“ (Kyrie).

e)         „Ehre sei Gott in der Höhe“ (Gloria).

f)          Die Gebetkollekten.

g)         Epistel.


 

h)         Evangelium.

i)          Die Predigt nebst den üblichen Gebeten (vor und nach der Predigt ein Gesangvers).

j)          Glaubensbekenntnis (Credo).

k)         Der Hymnos „Heilig, heilig“ (Sanctus).

 

NB. Diejenigen Gemeindemitglieder, welche das

Abendmahl zu nehmen gedenken, nähern sich

während diesem dem Altar.

 

l)          Statt des Kanons ein ausgewähltes Stück aus der Passion mit den Einsetzungsworten des heiligen Abendmahls, gesprochen vom Geistlichen.

 

m)       Während der Kommunion der Gemeinde: „ O Lamm Gottes“ (Agnus Dei).

n)         Das Gebet des Herrn.

o)         Schlussgesang.

p)         Segen.

 

Es soll die Vokal- und Instrumentalmusik zwar nicht ausgeschlossen, jedoch ihre Anwendung beschränkt, und nur insoweit zulässig sein, als sie wirklich zur Andacht und Gemütserhebung sich eignet.

 

19.   Außer dem feierlichen Gottesdienste finden des Nachmittags Katechisationen oder erbauliche Vorträge statt. Letztere können auch von einem Laien, nach vorheriger Genehmigung des Gemeindevorstandes, gehalten werden.

 

20.   Nur die Feiertage sollen gefeiert werden, welche nach den Landesgesetzen bestehen.

 

21.   Alle kirchlichen Handlungen, wie Taufen, Trauungen, Begräbnisse usw. sollen von dem Geistlichen ohne Stolagebühren für alle Glieder der Gemeinde gleich verrichtet werden.

 

22.   Die Stellung und überhaupt äußere Haltung in der Kirche, als der Ausdruck der inneren religiösen Ansichten und Gefühle, soll jedem überlassen sein, nur wird untersagt, was zum Aberglauben führt.

 

23.   Niemand hat einen Anspruch auf einen bestimmten Platz in der Kirche; daher dürfen keine bestimmten Kirchenplätze weder zu einem besonderen Gottesdienst, noch überhaupt an Einzelne und zwar gegen Entgelt noch unentgeltlich überlassen werden.

 


 

III.         Bestimmungen über das Gemeindewesen und die Gemeindeverfassung

 

24.   Die Gemeinde fasst als die Hauptaufgabe des Christentums auf, dasselbe nicht bloß durch öffentlichen Gottesdienst, Belehrung und Unterricht in den Gemeindegliedern zu lebendigem Bewusstsein zu bringen, sondern auch in tätiger Christenliebe das geistige, sittliche und materielle Wohl ihrer Mitmenschen ohne Unterschied nach allen Kräften zu befördern.

 

25.   Die Gemeindeverfassung schließt sich den Einrichtungen der
Apostel und ersten Christen (Presbyterialverfassung) an, kann jedoch abgeändert werden, wenn die Zeitbedürfnisse es erfordern.

 

26.   Die Aufnahme in die Gemeinde findet nach erfolgter Willenserklärung des Beitritts und Ablegung des von der Gemeinde angenommenen Glaubensbekenntnisses statt.

 

27.   Wer von einer nicht christlichen Religionsgesellschaft in die Gemeinde eintreten will, muss erst den erforderlichen Religionsunterricht erhalten, bevor er nach Ablegung des Glaubensbekenntnisses die Taufe empfängt.

 

28.   Die Gemeinde gebraucht ihr altes Recht, sich ihre Geistlichen und ihren Vorstand frei zu wählen. Wahlfähig zum Amte eines Geistlichen sind nur Theologen, die sich durch Zeugnisse über ihre Kenntnisse und ihren Lebenswandel ausweisen können.

 

29.   Jeder Geistliche wird in sein Amt durch einen feierlichen Akt eingeführt.

 

30.   Die Anstellung eines Geistlichen in einer Gemeinde ist unwiderruflich, und es gelten hinsichtlich dessen Absetzbarkeit nur die in einem Lande bestehenden gesetzlichen Bestimmungen. Über Absetzungsgründe, die nicht in den Bereich des Gesetzes fallen, kann nur von den einzurichtenden Provinzalsynoden entschieden werden.

 

31.   Die Gemeinde wird vertreten durch die Geistlichen und die gewählten Ältesten. Die Wahl der Ältesten geschieht in der Regel alljährlich am Pfingstfeste.

 

32.   Der oder die Geistlichen haben die Verwaltung der geistlichen Verrichtungen, die Ältesten mit dem aus ihrer Mitte auf ein Jahr von ihnen selbst gewählten Vorstande, die Verwaltung aller übrigen Gemeindeangelegenheiten über sich. Es ist jedoch der Geistliche Mitglied des Kollegiums der Ältesten.


 

33.   Bei Versammlungen der Gemeinde gebührt dem oder den Seelsorgern der Ehrenplatz zur Seite des Vorstandes der Gemeinde, welcher der aus der Mitte der Ältesten (siehe Bestimmung 32) gewählte Vorstand ist. Die Verhandlungen der Gemeinde aber eröffnet, leitet und schließt dieser Gemeindevorstand in allen Angelegenheiten, auch die nicht ausgenommen, welche das Glaubensbekenntnis, den Gottesdienst und die Seelsorge betreffen, und es hat jeder Geistliche seine Stimme zuletzt abzugeben. Es steht aber demselben in allen geistlichen Angelegenheiten das erste und letzte Wort zu.

 

34.   Die Gemeinde wird in ihrer festzustellenden Verfassung die Rechte und Pflichten bestimmen, welche sie den Geistlichen und ihrem Vorstande überträgt, sowie diejenigen, welche sie sich vorbehält.

 

35.   Die Gemeinde hält sich für berechtigt und befugt, selbständig und allein, je nach dem Zeitbewusstsein und den Fortschritten in Erkenntnis der Heiligen Schrift, alle diese Bestimmungen abzuändern; sie verpflichtet sich aber der Einheit willen freiwillig, diese Abänderungen der nächsten allgemeinen Kirchenversammlung anzuzeigen, und eine Entscheidung darüber zu beantragen.

 

 

 

IV.         Bestimmungen über die allgemeinen Kirchenversammlungen (Konzilien)

 

36.   Die allgemeinen Kirchenversammlungen (Konzilien) sollen die Einheit des kirchlichen Lebens bezwecken, soweit diese Einheit die Gewissensfreiheit des Einzelnen in der Gemeinde und der Gemeinde selbst nicht beschränkt.

 

37.   Die allgemeine Kirchenversammlung soll aus den Abgeordneten der einzelnen deutsch-katholischen Gemeinden bestehen, bei deren Wahl die Gemeinden unbeschränkt sind.

 

38.   Es soll jeder Gemeinde freistehen, so viele Abgeordnete zu senden, als sie für gut befindet, es haben aber sämtliche Abgeordnete einer Gemeinde bei Beschlussfassung nur eine Stimme zusammen.

 

39.   Als eine allgemeine Kirchenversammlung soll nur diejenige angesehen werden, bei welcher die Mehrzahl der konstituierten Gemeinden in Deutschland vertreten sind. Es kann jedoch ein Abgeordneter mehrere Gemeinden vertreten.


 

40.   Die Zahl der stimmfähigen Abgeordneten einer Kirchenversammlung soll wenigstens aus zwei Dritteln Laien bestehen, und nur ein Drittel kann dem geistlichen Stande angehören.

 

41.   Die Beschlüsse der allgemeinen Kirchenversammlung sind als Vorschläge zu betrachten und erlangen nur dann allgemeine Gültigkeit, wenn sie den sämtlichen einzelnen Gemeinden Deutschlands zur Beratung und Beschlussfassung vorgelegt worden sind, und wenn die Mehrzahl dieser Gemeinden sie angenommen hat.

 

42.   Die von sämtlichen einzelnen Gemeinden über Annahme oder Nichtannahme der Beschlüsse der allgemeinen Kirchenversammlung abzugebende Erklärung ist jederzeit in einer Frist von drei Monaten dem in der Bestimmung 48 genannten Ortsgemeindevorstand einzusenden, widrigenfalls eine solche Erklärung bei der Bestimmung hinsichtlich der erlangten Annahme oder Verwerfung eines Beschlusses der allgemeinen Kirchenversammlung nicht in Betracht kommen kann.

 

43.   In der Regel soll alle fünf Jahre eine allgemeine Kirchenversammlung gehalten werden, es können jedoch dermalen und bis zur gänzlichen Feststellung aller Verhältnisse der deutsch-katholischen Gemeinden öftere Versammlungen stattfinden.

 

44.   Die Dauer einer jeden allgemeinen Kirchenversammlung richtet sich nach der Menge und der Wichtigkeit der vorliegenden Beratungsgegenstände.

 

45.   Der Ort, wo die allgemeine Kirchenversammlung abzuhalten ist, soll wechseln, und dabei auf Ost- und West-, Süd- und Norddeutschland gleich Rücksicht genommen werden, soweit es die Verhältnisse gestatten.

 

46.   Jede allgemeine Kirchenversammlung beschließt daher in einer ihrer ersten Sitzungen, an welchem Orte die nächste Kirchenversammlung gehalten werden soll.

 

47.   Zur formalen Einheit sollen die beiden Gemeindevorstände desjenigen Ortes, woselbst die letzte und die nächste Kirchenversammlung abgehalten worden ist und wird, die Vereinigung in folgender Weise bewirken.

 

48.   Der Gemeindevorstand desjenigen Ortes, wo die nächste Kirchenversammlung stattfindet, erlässt die Einladung zu derselben in den öffentlichen Blättern und nach Befinden durch eigene Zirkulare an die einzelnen Gemeinden, eröffnet die allgemeine Kirchenversammlung, nach deren Konstituierung er die Akten und sonstige Gegenstände an den erwählten Vorstand (siehe Bestimmung 49) übergibt, und übernimmt sämtliche Akten und Gegenstände wieder aus dessen Händen nach dem Schluss der Kirchenversammlung.

Hierauf hat er die von den einzelnen Gemeinden an ihn zu übersendende Erklärung (siehe Bestimmungen 41 und 42) anzunehmen und das Resultat derselben nach Verlauf der festgesetzten Frist (siehe Bestimmung 42) mit Angabe der bejahenden oder verneinenden Abstimmung einer jeden Gemeinde und derjenigen, welche eine Erklärung abzugeben unterlassen haben, öffentlich bekannt zu machen, womit seine Wirksamkeit erlischt.

Er übersendet sodann alle auf die allgemeinen Kirchenversammlungen Bezug habenden Akten, Schriften und sonstige Gegenstände an den Gemeindevorstand desjenigen Ortes, woselbst die nächste Kirchenversammlung stattfindet. Dieser verfährt nun in gleicher Weise, wie angegeben worden ist.

 

49.   Die erste Handlung nach Eröffnung einer jeden Kirchenversammlung muss die Wahl eines Vorstandes mittels Stimmzettel sein.

 

50.   Die Sitzungen der allgemeinen Kirchenversammlung sind öffentlich, und ihre Verhandlungen sollen so ausführlich als möglich gedruckt werden.

 

51.   Alle diese Bestimmungen sind jedoch nicht und sollen nicht für alle Zeiten festgesetzt sein und werden, sondern können und müssen nach dem jedesmaligen Zeitbewusstsein von der Kirchengemeinde abgeändert werden.

 


 

Die protestantischen Freunde und die freien Gemeinden

 

Die seit Aufhebung des Wöllnerschen Religionsediktes* ununterbrochen fortgesetzten Kämpfe zwischen Rationalismus und Orthodoxie sollten endlich eine greifbare und sichtbare Wirkung auch im Protestantismus haben.

Im Frühling des Jahres 1841 ließ der Prediger eines kleinen Örtchens, Pömmelte in der Provinz Sachsen, Leberecht Uhlich, ein Schreiben an seine Amtsgenossen ergehen, des Inhalts, sie möchten als Geistliche sich mit ihm zur Verteidigung des Geistes und der Wahrheit gegenüber dem Buchstaben und der kirchlichen Satzung vereinigen. Das Schreiben hatte Erfolg. Am 29. Juni 1841 fanden sich 16 Gleichstehende, Prediger und Theologen, zusammen, um über ein gemeinsames Vorgehen zu beraten. Die zunächst hier nur allgemein festgestellten Voraussetzungen für dieses gemeinschaftliche Vorgehen fanden auf einer weiteren Versammlung dieser „Protestantischen Freunde“ zu Halle, am 20. September 1841, nachstehend bestimmte Fassung:

 

1.  Wir wollen uns in unserem Glauben durch Gemeinschaft stärken und weiterbilden.

 

2.  Unser Glaube ist das einfache evangelische Christentum. Seine Grundzüge sind ausgesprochen in den Worten Jesu, Joh. 17.3: „Das aber ist  das ewige Leben, dass sie dich, dass du allein wahrer Gott bist, und, den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen.“

 

3.  Wir erklären es für unser Recht und für unsere Pflicht, alles, was sich uns als Religion darbietet, mit unserer Vernunft zu prüfen, aufzunehmen, zu verarbeiten.

 

 


*Wöllnersches Religionsedikt:

„Das Wöllnersche Religionsedikt vom 9. Juli 1788 war eine Kriegserklärung gegen den bis dahin herrschenden Geist der Aufklärung. Mit Hilfe von Zensur und vexatorischen (quälerischen) Maßregeln gegen Einzelne, die selbst vor Kant und gerade vor ihm nicht Halt machten, hoffte man mit ihm fertig zu werden.         ... und so erhob sich ein heftiger Widerstand gegen diese Reaktion, an dessen Spitze man den allzu gewissenhaften und in seinem Alter auch ruhebedürftigen Kant nur ungern vermisst. Dieser Opposition war die Faulheit des „betrügerischen und intriganten Pfaffen“, wie Friedrich der Große Wöllner genannt hatte, ... nicht gewachsen .... Und ein Jahr nach dem Erlass des Edikts erhob sich im Westen die große revolutionäre Sturmflut [gemeint ist die Französische Revolution], die unter ihren Wogen schließlich Freund und Feind, Aufklärung und Reaktion verschlingen sollte.“

(Zitat aus: Theobald Ziegler  „Die geistigen und sozialen Strömungen des neunzehnten Jahrhunderts“  Berlin, 1899


 

4.     Wir erkennen, dass von den Aposteln an stets eine verschiedene Auffassung des Christentums stattgefunden hat, und dass dies nach der Verschiedenheit der menschlichen Geister nicht anders sein kann, also Gottes Wille ist. Somit achten wir es für unsere Pflicht, jede Richtung, sofern dabei redlich zu Werke gegangen wird, zu ehren als in ihrem Recht befindlich. Verketzern wollen wir nie!

 

5.      Dass das Christentum bestehe und seinen Segen bringe, dazu erachten wir für völlig ausreichend dreierlei:

seine Göttlichkeit,

des menschlichen Gemütes ewige Bedürfnisse    und

geistige Freiheit.

(Sonstige Stützen braucht das Christentum nicht und will es nicht. Einen Leib (Kirche) wird es sich schon bilden nach dem jedesmaligen Bedürfnisse. )S

 

6.      Als unsere erste, aber wichtigste Aufgabe erkennen wir an, uns in Amt und Leben rein und treu zu beweisen. Das versprechen wir einander, wie wir es ja längst Gott versprochen haben müssen. Wer nicht Wort hält, gehört uns nicht mehr an.

 

7.      Dabei wollen wir einander treue Handreichungen tun in Rat und Tat, damit wir im Amt und Leben das Rechte treffen.

 

8.      Auch um uns her wollen wir, soviel uns vergönnt ist, wirken für das Reich Jesu durch Wort und Schrift.

 

9.      Wir freuen uns in dem Bewusstsein, dass wir mit unserem Glauben und Streben stehen auf der Grundlage der protestantischen Kirche, welcher Grund nach innen Christus (1. Kor. 3. 11), nach außen Verwahrung gegen jede Bevormundung [ist] (Gal. 5,1.) Wir nennen uns darum „Protestantische Freunde“.

 

S  Hinzufügung laut „Die Gegenwart, Leipzig, F. A. Brockhaus 1853

 

 

In einer Reihe erneuter Zusammenkünfte (Pfingsten 1842 zu Leipzig, 27. September 1842 zu Köthen, Pfingsten 1843 zu Köthen, 26. September 1843 zu Köthen), die sich stets einer wachsenden Zahl von Teilnehmern aus Theologen- und Laienkreisen erfreuten, und ein durch kirchliche Repressalien angestacheltes reges Interesse bekundeten, klärten sich die Anschauungen der Protestantischen Freunde weiter, ohne indessen völlige Klarheit über ihre letzte Absichten zu erbringen.


 

Da kam es 1844 in der Pfingstversammlung zu Köthen zu einer Entscheidung. Gustav Adolf Wislicenus, Prediger an der Neumarktkirche zu Halle, forderte zur Konsequenz auf. Der Kampf gelte nicht allein den kirchlichen Formeln vergangener Jahrhunderte, sondern den Prinzipien der Kirche selbst, vor allem jenem Prinzip von der allgemeinen Autorität der Bibel; diese sei zu verwerfen. Nicht die so genannte Heilige Schrift sei uns Autorität in Glaubenssachen, vielmehr der uns selbst innewohnende lebendige Geist der Wahrheit.

Auf einer weiteren achten Versammlung am 24. September, welche vergeblich zwischen der vorsichtigen alten Richtung und den durch Wislicenus geleiteten entschiedenen „Hallensern“ zu vermitteln suchte, erreichte die Bewegung ihren Höhepunkt auf der von mehr denn 2000 Teilnehmern des In- und Auslandes besuchten neunten Versammlung zu Köthen am 15. Mai 1845.

Sie stand unter dem Eindruck der bereits vorbereiteten Maßregelung des Predigers G. A. Wislicenus, den die Versammlung als einen der Ihrigen feierte, und darauf einstimmig beschloss, „für das Recht der freien Entwicklung des protestantischen Christentums fort und fort zu zeugen und zu wirken“.

 

Eine dahin gehende Erklärung fand die Unterschrift von etwa fünfzig Geistlichen und zahlreichen Laien.

 

Diese Vorgänge in Sachsen wiederholten sich in den verschiedensten Gegenden Deutschlands, so dass Versammlungen der Protestantischen Freunde, oder wie die Gegner sie spottweise nannten, der „Lichtfreunde“, damals eine häufig wiederkehrende Erscheinung waren.

 

Man kann sich denken, dass die Kirche dem Unterfangen der Protestantischen Freunde nicht gleichgültig zusah. Dieselben sollten bald erfahren, dass die Kirche durchaus nicht geneigt war, auf die von ihnen beabsichtigten Reformen einzugehen. Verschiedene Erlasse der einzelnen Landeskirchen verboten die Teilnahme an den öffentlichen und geheimen Versammlungen der Lichtfreunde, und es zeigte sich gar bald, dass unter den Tausenden, die auf den Versammlungen für die religiöse Freiheit mit Worten geschwärmt hatten, nur verhältnismäßig sehr wenige waren, die den Mut fanden, ihre Worte durch Taten zu bekräftigen, d. h. lieber Amt und Brot zu verlieren, als ihrer Überzeugung untreu zu werden.

Es galt zu wählen, zwischen einer aller Reform und allem Fortschritt abholden protestantischen Kirche und der nur außerhalb der Kirche zu ermöglichenden freien Überzeugung.

Vergebens, dass sich weite bürgerliche Kreise und Behörden für die Protestantischen Freunde verwandten, die Ablehnung seitens der Kirche und der Regierungen blieb aufrecht erhalten. So war der Bruch mit der Kirche unvermeidlich geworden.

 

Den Ruhm, den Mut gehabt zu haben, ihn zu vollziehen, verdienten sich unter tatkräftiger Unterstützung eines Teils ihrer Gemeindemitglieder vor allem die Prediger Gustav Adolf Wislicenus, Dr. Julius Rupp, Eduard Baltzer, Karl Eduard Herrendörfer, Adolf Thimotheus Wislicenus, Leberecht Uhlich. Unter ihrer Führung entstanden die ersten freien Gemeinden zu Halle (26. September 1845), Königsberg (16. Dezember 1845), Nordhausen (5. Januar 1847), Neumarkt in Schlesien (24. Januar 1847), Halberstadt (9. Juni 1847), Magdeburg (29. November 1847).

 

Diesen ersten Gemeinden reihten sich bald andere an, alle miteinander getragen von der Liebe zur Wahrheit der religiösen Überzeugung.

 

 

 

 

 

Der Bund der freireligiösen Gemeinden Deutschlands

 

Die reformatorische Doppelbewegung der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts hatte ihre sichtbare Wirkung gefunden in den deutschkatholischen Gemeinden einerseits, in den freireligiösen Gemeinden andererseits. Aus dem Kampfe heraus geboren, waren sie in allererster Reihe Kampfgemeinden. Mit Aufbietung aller ihrer Kräfte hatten sie sich für ihre Existenz zu wehren, und Staat und Kirche ließen es ihnen wahrhaftig nicht leicht werden.

 

Unter den zahlreichen damals entstandenen Gemeinden waren nicht wenige dem auf ihnen lastenden Druck nicht gewachsen; manche kundgewordene Begeisterung für religiöse Freiheit erwies sich als Strohfeuer-Begeisterung, und manches glänzende Gold des Freimuts bestand nicht die Läuterung im Feuer der Bedrängnis. Diese Bedrängnis seitens der kirchlichen und weltlichen Mächte ward umso stärker, als die politischen Wirren der vierziger Jahre den machthabenden Gewalten die gern benutzte Gelegenheit boten, die neuen, kirchlich unabhängigen Gemeinden auch als politisch verdächtig, ihre Bestrebungen als revolutionär zu bezeichnen, während sie doch lediglich religiöse Reformgemeinden waren, die für die politischen Neigungen Einzelner ihrer Anhänger nicht hätten verantwortlich gemacht werden dürfen.

 

Was von den damals entstandenen Gemeinden über die Zeit der Revolution und der ihr folgenden Reaktion hinaus seine Existenz zu wahren vermochte, das widmete sich nur um so inniger der inneren Läuterung und Festigung in den Grundsätzen der religiösen Freiheit und des religiösen Fortschritts. Eine ganze Reihe von deutsch-katholischen Konzilen und Konferenzen diente der gemeinsamen Sammlung und Erstarkung, und es kann nicht geleugnet werden, dass der auf den Gemeinden lastende Druck redlich dabei mitgeholfen hat.

 

Da endlich, im Mai 1859, erließ der Provinzialvorstand der schlesischen Gemeinden an sämtliche deutsch-katholischen sowie alle frei-evangelischen und freien Religionsgemeinden eine Einladung zu einem allgemeinen Konzil nach Gotha auf den 16. Juni 1859, und dies in der ausgesprochenen Absicht, die lang ersehnte Union zu verwirklichen.

 

 

 


Zitat aus „Die Freireligiöse Bewegung - Wesen und Auftrag“, Mainz, 1959 herausgegeben als Gemeinschaftsarbeit des Bundes Freireligiöser Gemeinden Deutschlands

 

„... Da das Königreich Sachsen seinen deutsch-katholischen Gemeinden die Fühlungnahme mit außersächsischen Gruppen verbot, wurde Gotha in Thüringen, dem grünen Herzen Deutschlands, zum Tagungsort bestimmt. Die Wahl ist insofern interessant, weil sich dort die deutsche Genossenschaftsbewegung zusammenfand, dort 1875 der Einheitsparteitag der Deutschen Sozialdemokratie zusammentrat und seit 1878 die erste Feuerbestattungen durchgeführt wurde.

Nun tagte im Gotha am 16. und 17. Juni 1859 der erste Kongress der Freireligiösen Gemeinden Deutschlands, dessen stenografischer Bericht von L. Uhlich noch vorhanden ist. 54 Gemeinden hatten ihre Vertreter entsandt, darunter 21 Angestellte, Prediger und Lehrer, 14 Handwerksmeister, 4 Fabrikanten und Kaufleute, je 3 Beamte und Rechtsanwälte. Man sprach sich in brüderlichem Geiste über alle religiösen Fragen aus, konnte aber trotz äußerer Einheit keine innere Festigkeit beweisen ...“

 

 

 

 

52 Gemeinden folgten der Einladung. In ernster, anhaltender Beratung der erschienenen vollzog sich die Einigung sämtlicher Gemeinden zum „Bund freireligiöser Gemeinden“ mit Annahme folgender Verfassung:

 


 

Verfassung des Bundes freireligiöser Gemeinden

 

 

1.  Name

Bund freireligiöser Gemeinden.

2.  Grundsatz

Freie Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten.

3.  Zweck

Förderung unseres religiösen Lebens.

4.  Mitgliedschaft

Glied des Bundes ist jede Gemeinde, welche die Verfassung desselben anerkennt und ihren Beitritt beim Bundesvorstand angemeldet hat. - Wie der Eintritt, so geschieht auch der Austritt aus dem Bunde durch eine auf Gemeindebeschluss gegründete, dem Bundesvorstand zugestellte Erklärung des Gemeindevorstands.

5.  Bundesversammlung

Jedes dritte Jahr wird eine Bundesversammlung gehalten, zu welcher der Bundesvorstand einladet, und für welche er die Vorlagen vorher bekannt macht.

6. Ordnung der Bundesversammlung

Jede Gemeinde, auch wenn sie durch mehrere Glieder vertreten ist, führt bei Abstimmung eine Stimme; wenn ein Abgeordneter mit Vollmacht mehrerer Gemeinden erscheint, so führt er auch nur eine Stimme.

Die Wahl der Abgeordneten zur Bundesversammlung erfolgt durch die Versammlung der Gemeinde; sie sind mit schriftlicher Vollmacht zu versehen.

Die Verhandlungen der Bundesversammlung sind öffentlich.

7. Außerordentliche Versammlungen

Außerordentliche Bundesversammlungen sind auf Verlangen der Mehrheit der Bundesgemeinden durch den Bundesvorstand zu berufen.

8. Beschlüsse

Die Beschlüsse der Bundesversammlung sind Ratschläge für die Bundesgemeinden. Diejenigen Beschlüsse jedoch, welche die Verfassung des Bunds selbst betreffen, sind für alle Gemeinden bindend.

 


 

9. Bundesvorstand

Der Bund wählt für die Zeit von einer ordentlichen Bundesversammlung bis zur anderen einen Bundesvorstand. Derselbe soll

1.  die allgemeinen Angelegenheiten des Bundes leiten;

2.  die Gemeinden und Einzelnen innerhalb unserer Zwecke zu jeder Vermittlung, um welche er angesprochen wird, bereit stehen;

3.  mit Benutzung des ihm aus den Gemeinden zugehenden Stoffes die nächste Bundesversammlung vorbereiten;

4.  das Vermögen des Bundes verwalten.

 

10. Der Bundesvorstand

ist dem Bunde verantwortlich und verpflichtet, alljährlich am Schluss des Kalenderjahres den Gemeinden einen Rechenschaftsbericht zu erstatten. Er besteht aus fünf von der Bundesversammlung zu wählenden Personen. Für Todes- oder Verhinderungsfälle wählt die Bundesversammlung drei Ersatzmänner, welche nach der durch die Zahl ihrer Stimmen festgestellten Reihenfolge in den Bundesvorstand eintreten.

 

11. Bundeskasse

Zur Bestreitung notwendiger Ausgaben zu Bundeszwecken wird von den Gemeinden eine Bundeskasse durch freiwillige am Schlusse jedes Kalenderjahres einzusendende Beiträge gebildet. Der Bundesvorstand verwaltet dieselbe, gibt im Rechenschaftsbericht Auskunft über sie, und legt der Bundesversammlung Rechnung darüber ab. - Gemeinden, die aus dem Bunde scheiden, haben auf das Vermögen des Bundes keinen Anspruch.

 

 

 

Die weitere Organisation und Verfassung der freireligiösen Gemeinden

 

Der leitende Grundsatz der freien Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten bedingt es, dass, wie in Bezug auf die Lehre, so auch bezüglich der Organisation innerhalb der freireligiösen Bewegung Zwang nicht ausgeübt wird, dass also vor allem die Zugehörigkeit zum Bunde lediglich aus freier Entschließung der einzelnen Gemeinden beruht, und jederzeit mit Nichtzugehörigkeit vertauscht werden kann: Es ist doch einem Teil der freireligiösen Gemeinden, nämlich den sächsischen überhaupt verwehrt, sich dem Bunde anzuschließen.

Auch bezüglich der Namengebung für die einzelnen Gemeinden besteht

keinerlei bestimmte Verpflichtung; sind doch einzelne Gemeinden mit Rücksicht auf ihre staatlichen Rechte geradezu verhindert, sich freireligiös zu nennen. Die Bezeichnung „ freireligiös“ dient mehr zur Kennzeichnung der allen Gemeinden eigentümlichen Bestrebungen, als zur besonderen Bezeichnung einer bestimmten Gemeinde. Und diese Bezeichnung „freireligiös“ bedarf einer Erklärung, um sie vor missverständlichen Auffassungen zu bewahren. „Freireligiös“ ist mit Wortbildungen wie freigiebig, freiwillig, freisinnig auf eine Stufe zu stellen. Wie diese „frei im Geben“, „frei in seinen Willensentschließungen“, frei in der Gesinnung“ bedeuten, so freireligiös „frei in der Religion“, nicht aber frei von Religion, was gleichbedeutend mit religionslos wäre.

Religiöse Gemeinden wollen die freireligiösen Gemeinden sein, Religion ist ihr Element, aber Religion unter voller Wahrung der persönlichen Freiheit jedes Einzelnen in Bezug auf Lehre und Kultus.

 

Innerhalb des Bundes, der keine Oberbehörde darstellt, sondern lediglich eine freie Vereinigung behufs Verfolgung gemeinsamer Zwecke ist, haben sich aus räumlich näher beieinander liegenden Gemeinden besondere Verbände gebildet, wie der südwestdeutsche, der ostpreußische und schlesische, sie sind begründet auf besondere Verfassungen, haben ihre eigene Organisation, und dienen dem gemeinschaftlichen Interesse im eigenen Kreise durch Abhaltung alljährlicher Verbandstage.

 

 

Die auf diesen Verbandstagen jeweils zu leistende Arbeit bezieht sich auf die Gemeindestatistik, die freireligiöse Propaganda, die Unterrichtsangelegenheit, das Predigeramt, die Fürsorge für die Prediger, deren Witwen und Waisen, und die Förderung des Gemeindelebens im Allgemeinen. Auch die Verbände sind gegenüber den Einzelgemeinden keine vorgesetzten Verbände, und ihre Beschlüsse haben nur, soweit sie geschäftlicher Natur sind, für die einzelnen Verbandsgemeinden eine verpflichtende Bedeutung.

 

Jede Einzelgemeinde hat volle Selbständigkeit; die Ordnung in ihr ist durch eine besondere Verfassung gewährleistet; diese Verfassung entspricht derjenigen der christlichen Urgemeinden. Sie beruht auf Autonomie, d. h. Selbstverwaltung. Was in einer freireligiösen Gemeinde geschehen soll, bestimmt einzig und allein die Gemeinde; sie ist in ihren Entschließungen durch nichts gehemmt außer durch ihre eigene Verfassung, welche der Bestätigung seitens der Staatsbehörde bedarf. Irgend ein bestimmender Einfluss seitens einer Art freireligiöser Oberbehörde, wie sie die kirchlichen Gemeinschaften haben, existiert nicht.

 

Den einzelnen Staaten gegenüber sind die Rechte der freireligiösen Gemeinden gesetzlich geregelt; eine Übereinstimmung in der gesetzlichen Behandlung der freireligiösen Gemeinden seitens der Staatsregierungen besteht nicht; während ein Teil von ihnen als Religionsgemeinschaften staatliche Anerkennung genießt, wird ein anderer Teil nur geduldet, oder genießt staatliche Anerkennung nur in der Eigenschaft eines nicht politischen Vereins.

 

Die Leitung der Einzelgemeinde liegt in den Händen eines Gemeindevorstandes; er ist das ausführende Organ für alle Beschlüsse, welche die Gemeinde in der alljährlichen Generalversammlung nach Stimmenmehrheit jeweils gefasst hat. Zur Erleichterung der Verwaltung verteilt der Vorstand deren einzelne Zweige  (Schriftführung, Kassenwesen, Ökonomie, Bibliothekswesen, Oberleitung) unter seinen Mitgliedern.

Die Gemeindeverfassung gibt Auskunft über die Rechte und Pflichten jedes einzelnen Gemeindemitgliedes, über die Befugnisse des Vorstandes, des Predigers und der Gemeindeversammlung. Ohne sich auf die Gemeindeverfassung zu verpflichten, erhält niemand Aufnahme in die Gemeinde.

 

 

 

 

Lehre und Gebrauchtum der freireligiösen Gemeinden

 

Der leitende Grundsatz der ganzen freireligiösen Bewegung war von jeher Befreiung von religiöser Bevormundung, Erziehung zu religiöser Selbständigkeit.

Am striktesten ist dieser Gedanke zum Ausdruck gekommen in jenem Paragraph 2 der Bundesverfassung vom Jahr 1859: „Freie Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten“.

Diesem Grundsatz entsprechend kann von Aufstellung einer einheitlichen oder gar allgemein verpflichtenden freireligiösen Lehre keine Rede sein. Es gibt keine freireligiösen Dogmen oder Glaubenssätze. Ausgehend von der gewiss unanfechtbaren Tatsache, dass das Denken und Fühlen der Menschen eine unübersehbare Mannigfaltigkeit aufweist, strebt die freireligiöse Gemeinde danach, dass jedem einzelnen Menschen eine seinem Denken und Fühlen entsprechende Überzeugung werde. Wie er über die großen religiösen Probleme denkt, das soll ihm nicht von irgend einer äußeren Autorität aufgezwungen, sondern aus der Welt der Gedanken und Gefühle, in der er lebt, heraus geboren sein.

 

Der Unterschied zwischen Kirche und freireligiöser Gemeinde auf dem Gebiete der Lehre ist nicht der, dass die letztere schlichtweg verneint, was die erstere bezüglich der religiösen Probleme lehrt; er besteht vielmehr darin, dass die freireligiöse Gemeinde - entgegen dem kirchlichen Glaubenszwang - es jedem Einzelnen freistellt, sich eine seinem Willen und Bildungsgrad entsprechende Überzeugung betreffs der religiösen Fragen zu bilden, eine Überzeugung, die auch sein Gefühl zufriedenstellt.

 

Dementsprechend gibt auch der einzelne freireligiöse Prediger immer nur seine persönliche Überzeugung kund, die unter Umständen von der seines Berufskollegen recht erheblich abweichen kann.

Die freireligiöse Gemeinde bezeichnet es als zu Recht bestehend, was unter den Predigern der protestantischen Kirche, dem einheitlichen Glaubensbekenntnis zuwider, längst eine, wenn auch nur ungern gesehene Tatsache ist - die Meinungsverschiedenheit bezüglich religiöser Probleme.

 

Der Freireligiöse unterzieht seine religiöse Überzeugung ständig einer Überwachung beziehungsweise Korrektur gemäß seiner zunehmenden Erkenntnis. Stillschweigende Voraussetzung ist dabei, dass die religiöse Überzeugung sich aufbaue auf den Grundgesetzen des Denkens, und dass sie sich mit der fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnis wie mit der geschichtlichen Wahrheit in Übereinstimmung befinde.

Es ist immer der denkende Mensch, an welchen die freireligiöse Gemeinde sich mit ihrer Lehre wendet.

 

Damit soll nicht gesagt werden, dass Logik und Wissenschaftlichkeit das Ausschlaggebende in der Beurteilung des religiösen Menschen sind. Das liegt ausschließlich bei der persönlichen Überzeugung des Einzelnen, die sich durch Taten zu legitimieren hat. Die Wertschätzung des religiösen Menschen ist bedingt nicht durch sein Sosein oder Andersdenken, sondern allein durch sein sittliches Handeln.

 

Wie es in den freireligiösen Gemeinden keine einheitlich festgestellte Lehre gibt, so auch kein einheitlich durchgeführtes Gebrauchtum. Das Recht der freien Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten ermöglicht es der Gemeinde, bestimmte Gebräuche und Formen behufs Darstellung des religiösen Lebens einzuhalten, oder aber sie mehr oder minder abzulehnen; dasselbe Recht der freien Selbstbestimmung in allen religiösen Angelegenheiten gestattet es aber auch jedem einzelnen Gemeindemitglied, an den Gebräuchen und Formen seiner Gemeinde teilzunehmen oder nicht.

 

 

 


 

Als solche sind zu nennen:

 

1. Die sonntäglichen Gemeindeversammlungen.

Sie bilden das Gegenstück zu den sonntäglichen Gottesdiensten der Kirchengemeinschaften und tragen einen erbaulichen Charakter; sie werden darum vielfach als „Erbauungen“ bezeichnet. Als  Ort für die Abhaltung dieser sonntäglichen Gemeindeversammlungen gilt die Gemeindehalle (Kirche) oder, wo ein eigener Saal nicht im Besitz
einer solchen ist, irgend ein geeigneter Saal.

Im Mittelpunkt solcher Gemeindeversammlungen steht die Predigt oder der Vortrag; um ihn gruppieren sich, je nach Wunsch und Möglichkeit, Gemeinde- oder Chorgesang nebst Musik in Gestalt von Orgel- oder Harmoniumspiel. An die Stelle des Gebets ist die Darbietung poetischer Gaben getreten, deren Inhalt sich entweder auf die allgemeine Bedeutung des Tages bezieht oder dem Predigervortrag angepasst ist.

 

2. Die Konfirmation oder Jugendweihe.

Sie bildet den alljährlichen Höhepunkt im freireligiösen Gemeindeleben und erfährt eine möglichst glanzvolle Ausstattung; sie fällt zeitlich zusammen mit der Entlassung der Kinder aus der Volksschule. Ihrem Wesen nach ist diese Feier Weihe der Jugend zu einem rechtschaffenen und gewissenhaften Lebenswandel. Eine Verpflichtung der Konfirmanden auf irgendwelche Glaubenslehren findet in keiner Weise statt.

 

3. Neben diesen allgemein gebräuchlichen Formen der Darstellung religiösen Lebens finden sich in einer Reihe von Gemeinden noch die Taufe oder Kindesweihe, die Trauung oder Weihe des Ehebundes, das Abendmahl oder Bundesmahl zum Gedächtnis Jesu.

 

Diese Gebräuche innerhalb eines Teils der freireligiösen Gemeinden sind im Gegensatz zu den entsprechenden Bräuchen der Kirche frei von jedwedem sakramentalen Charakter; sie sind nichts anderes als eine feierliche ernste Würdigung vom Werte eines jeden einzelnen Menschenlebens im Allgemeinen und der sittlichen Bedeutung ehelichen Gemeinschaftslebens im Besonderen. Wo das Abendmahl in den Gemeinden noch gefeiert wird, geschieht es in Anlehnung an die Konfirmationsfeier unter Verwendung von Brot und Wein; dem Gedächtnis Jesu von Nazareth geweiht, soll diese Feier der Förderung menschenfreundlicher, brüderlicher Gesinnung unter den Gemeindegliedern dienen.

 

Die Bestattung der Toten, es sei nun Erdbestattung oder Feuerbestattung, erfolgt jeweils in feierlicher Weise, ohne dass dazu ein besonderes

Zeremoniell eingehalten werden müsste. Die Durchführung des Gebrauchtums innerhalb der freireligiösen Gemeinden liegt in der Regel dem Prediger ob; doch ist, da die freireligiösen Gemeinden einen Unterschied zwischen Geistlichen und Laien nicht kennen, jedes einzelne Gemeindemitglied berechtigt, im Verhinderungsfalle den Prediger zu vertreten, sobald es dazu befähigt ist.

(1904)

 


 

Johannes Ronge

 

An meine Glaubensgenossen und Mitbürger

 

(Dezember 1844)

 

Flugschrift

Altenburg

1845

 

Glaubensgenossen und Mitbürger!

 

Sie haben dem einfachen Worte, das ich am 1. Oktober aus Laurahütte über den Heiligen Rock zu Trier an Sie richtete, freudige Zustimmung gegeben, und weil Sie gefühlt, dass es aus treuem Herzen komme, haben Sie mir ihre Liebe geschenkt, eine Liebe, die sich nicht täuschen ließ durch ekelhafte Schmähreden erbitterter Gegner. Sie haben auch - und zwar in allen Teilen des Vaterlandes - eine Gesinnung ausgesprochen, welche der großen, heiligen Sache unserer Religion, unserer Gewissensfreiheit, unserer Tugend und Ehre die herrlichste Aussicht, den schönsten Sieg verspricht ...

 

Doch, Glaubensgenossen und Mitbürger, das Werk ist erst begonnen; noch sind jene großen Güter unseres Geistes und Herzens nicht gesichert, noch bedroht sie der Feind. Darum rasch weiter, um den vollen Sieg der Religion und des Vaterlandes zu erringen!

Das wollen Sie auch und das haben Stimmen und Aufforderungen von nah und fern mir bekundet. Wohlan denn, wenn wir dies wollen, so vollbringen wir es und sagen uns los von der römischen Hierarchie, vom Papst, und bilden wir eine deutsch-katholische, d. h. allgemeine Kirche; ohne dies keine Rettung, kein Heil für uns!

Lossagen muss sich die deutsche Nation von jenem italienischen Bischof, dem Papst, und dessen Herrschaft, und sie muss eine wahrhaft christliche Gemeinschaft, eine Gemeinschaft von Brüdern werden ...

 

Sie haben die Pflicht, sich von Rom loszusagen, weil die römische Hierarchie Ihren Geist und Ihr Herz in schmachvolle Fesseln gelegt hat, denn Sie sollen nur in den Grenzen denken, sprechen und schreiben, welche Ihnen Rom vorgezeichnet hat; sonst werden Sie als schlechte Katholiken ausgeschrieen, oder als Ketzer verdammt. Sie sollen die Glaubenssätze nicht frei beurteilen, obwohl der Apostel Paulus sagt: „Prüft alles und behaltet das Beste“. Sie sollen blind gehorchen und annehmen, was Ihnen der Papst und seine Prälaten vorschreiben.

Wollen Sie dies noch länger dulden? Wozu haben Sie die Vernunft von Gott erhalten, wenn Sie keinen Gebrauch davon machen sollen?

Dann brauchten ja der Papst und seine Priester bloß Vernunft, kein anderer Mensch! - Auch das Herz schlägt Ihnen die Hierarchie in Fesseln. Denn katholische Männer und Frauen sollen mit evangelischen in kein Ehebündnis treten, wenn die Kinder nicht römisch erzogen werden ...

 

Pflicht ist endlich, uns von Rom loszuschlagen, weil die Politik der Hierarchie die deutsche Nation im Zwiespalt hält und das Wohl des Vaterlandes untergräbt.

 

Wollte ich all das Unheil, die Schande schildern, welche durch Rom über die deutsche Nation gebracht worden sind, so müsste ich große Bücher schreiben. Allein dies wäre überflüssig, denn ein großer Teil von Ihnen, meine Glaubensgenossen und Mitbürger, weiß es bereits, und wer es nicht weiß, kann sich tagtäglich davon überzeugen...

 

Verlangen und sehnen wir uns nicht alle nach Einigkeit und Eintracht? ...

-    Wohlan, die Religion, die uns vorzugsweise vereinen soll, darf uns nicht länger entzweien ...

-    Der deutsche Katholik wolle, dass aller Glaubens- und Religionszwang, wodurch das größte aller Laster, die Heuchelei, erzeugt würde, aufhöre;

-    wolle, dass alle Missbräuche abgeschafft würden;

-    der deutsche Katholik wolle freie Wahl der Priester und geistlichen Oberen durch die Gemeinde,

-    er wolle freie, von den Priestern unabhängige Volksschulen.

-    Zur Erhebung des einen und Beschließung des anderen, wolle der deutsche Katholik freie Kirchenversammlungen, woran die Gemeinde den gerechten Anteil habe.

-    Denn fortan soll die Kirche nicht mehr in Formen erstarren, ihr Geist in toten Buchstaben absterben;

-    sondern sie soll sich durch lebensfrische Teilnahme der Gemeinden entwickeln, blühen und Frucht tragen.

-    Keine Pfaffen, keine Laien soll es mehr geben; sondern ein edles freies Brüdertum soll bestehen ...

 

Dies spreche ich zu Ihnen, meine Glaubensgenossen und Mitbürger! Um meine Pflicht zu erfüllen ... An die treue Erfüllung dieser Pflicht bin ich bereit meine Kräfte und mein Leben zu setzen, mit Freude zu opfern  ...

 

Johannes Ronge 1844


 

Einige Bemerkungen zu Czerski

aus:

„Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon“

Verlag Traugott Bautz

Band 1 (1990)

Autor: Friedrich Wilhelm Bautz

 

CZERSKI, Johannes, Gründer der Christlich-apostolisch-katholischen Gemeinde in Schneidemühl, geboren 12. 5. 1813 in Warlubien bei Neuenburg (Westpreußen), gestorben 22. 12. 1893 in Schneidemühl. Czerski stammte aus einer polnischen Bauernfamilie und war ursprünglich katholischer Theologe. In seiner Schrift „Rechtfertigung meines Abfalls von der römischen Hofkirche“ berichtete er über seine Entwicklung. Schon auf dem bischöflichen Seminar in Posen seit 1838  konnte C.
„über manche vorgetragene Dogmata nicht einig werden und verglich sie mit der Bibel“. 1842 wurde er zum Priester geweiht und war einundeinhalb Jahre Vikar an der Domkirche zu Posen. C. wurde in das Dorf Wyri bei Posen strafversetzt und kam schließlich im März 1844 als
Vikar nach Schneidemühl, wurde aber bereits im Mai wegen seiner intimen Beziehungen zu der jungen Polin Maria Gutowska suspendiert.

Er entsagte am 22. 8. dem geistlichen Stand und vollzog am 19. 10. 1844 seinen Austritt aus der Kirche. Mit einem großen Teil der Gemeinde in Schneidemühl gründete C. die Christlich-apostolisch-katholische Gemeinde.

Sie verwarf die katholische Lehre von

·    der Sündenvergebung,

·    dem Primat des Papstes,

·    der Heiligenverehrung,

·    dem Gebot des Fastens und

·    des Priesterzölibats,

·    empfing das Abendmahl in beiderlei Gestalten und

·    feierte das Abendmahl in der Muttersprache.

 

In einer Eingabe vom 27. 10. 1844 an die königliche Regierung in Bromberg bat die Christlich-apostolisch-katholische Gemeinde um „Anerken-nung und Regulierung und Feststellung ihrer externa“. Am 17. 2. 1845 wurde C. von dem Kapitularvikar der Erzdiözese Posen degradiert und exkommuniziert und am 21. 2. von einem evangelischen Pfarrer in Schneidemühl feierlich getraut.

Er verband sich mit dem suspendierten katholischen Priester Johannes Ronge, der am 12. 1. 1845 in Breslau als „Allgemeine Christliche Kirche“ die deutsch-katholische Gemeinde gegründet hatte. C. wandte sich seit 1860 immer stärker vom christlichen Denken ab und wurde Wanderprediger des „Bundes freier religiöser Gemeinden“.                1990

 

1887

 

Czerski über die religiösen Grundsätze der Christlich-apostolisch-katholischen Gemeinde

 

Aus:

J. Czerski

Mein Leben, mein Kämpfen und Wirken“

Schneidemühl

 

„Ich für meine Person wollte gar keine Aufstellung eines besonderen Glaubensbekenntnisses, weil ich darin nur eine neue Fessel erblicken konnte, die wir uns selbst schmiedeten. Nur die Heilige Schrift allein, Altem wie Neuem Testamentes, sollte nach meinem Dafürhalten der Untergrund sein, auf dem sich die neue Vereinigung erhöbe. Dabei wollte ich aber die volle Schriftforschung festgehalten wissen, um durch dieselbe die Freiheit und Möglichkeit der ungehinderten Weiterentwicklung unseres religiösen Bewusstseins für immer zu sichern.

Die Männer an meiner Seite waren anderer Meinung. Sie erklärten: „Wir haben nur die römische Papstkirche verlassen, nicht aber die katholischen Lehren und Glaubenssätze; diese müssen bleiben“ ... . [ Seite 29] ...

 

„Was sollte ich machen? Verharrte ich bei meiner Ansicht, so drohte das ganze Unternehmen sofort in der Entstehung wieder zu zerfallen. In der festen Zuversicht, dass diese Leute, nur erst einmal von den kirchlichen

Banden frei, schon  von selbst in kurzer Zeit ebenfalls auf meinen Standpunkt gelangen würden, gab ich nach.“ [ Seite 28 f]

 

U.a.a.O: „nach und nach gelangte ich zu dem Standpunkt, auf dem ich heute stehe. Dieser aber ist der Standpunkt der eigenen, menschlichen Erkenntnis und Wissenschaft, von dem aus man die Menschheit als in fortwährender Entwicklung begriffen und die so genannten übernatürlichen Offenbarungen nur als Ausdruck des jeweiligen religiös-sittlichen Bewusstseins erkennt, welche letztere jedoch für die menschliche Fortbildung zum Hindernis und Hemmschuh werden, sobald man sie nicht als das behandelt, was sie in Wahrheit sind, und fallen lässt, sobald ihre Zeit vorüber ist. Von diesem Standpunkt aus erkennt man dann auch, dass die Menschen sich stets ihre Götter nach dem eigenen, das heißt menschlichen Vorbilde gemacht... haben.“ [ Seite 58]

 


 

Vorentwurf eines Bekenntnisses von Johannes Ronge

 

Das im Besitz der Frei-religiösen Gemeinde Offenbach befindliche und vom Archiv-Dokumenten-Kreis der Gemeinde in heutige Schrift übertragene Original ist vermutlich der Vorentwurf Johannes Ronges sowohl für  das am 16. Februar 1845 bei der Gründung der Gemeinde Breslau beschlossene „Breslauer Bekenntnis“ als auch für das Leipziger Bekenntnis.

 

Aus:

Ferdinand Kampe

„Geschichte der religiösen Bewegung der neueren Zeit“

Band 1,

Wigand, Leipzig 1852,

S, 116 ff

 

1.     Wir sagen uns los vom Papst und seinem hierarchischen Anhang.

 

2.     Wir behaupten völlige Gewissensfreiheit und verabscheuen allen Zwang, Lüge und Heuchelei.

 

3.     Die einzige Grundlage und der Inhalt des christlichen Glaubens ist die Heilige Schrift.

 

4.     Die freie Forschung und Auslegung darf durch keine äußere Autorität beschränkt sein.

 

5.     Als wesentlichen Inhalt unserer Glaubenslehre stellen wir folgendes Symbol auf:

·        „Ich glaube an Gott, den allmächtigen Vater, der die Welt geschaffen hat und sie leitet in Weisheit, Gerechtigkeit und Liebe.“

·        „Ich glaube an Jesum Christum unseren Heiland, der uns durch seine Lehre, sein Leben und seinen Tod von der Knechtschaft der Sünde erlöst hat.“

·        „Ich glaube an das Walten des Heiligen Geistes auf Erden.“

·        „Ich glaube an eine heilige christliche Kirche, Gemeinschaft aller Gläubigen, Vergebung der Sünden und an ein ewiges Leben. Amen.“

 

6.     Wir erkennen nur die beiden von Christus eingesetzten Sakramente an: Die Taufe und das Abendmahl.

 

7.     Wir behalten die Kindertaufe bei und nehmen die in den Glaubenslehren genügend Unterwiesenen durch eine feierliche Einsegnung als selbsttätige Mitglieder in die Gemeinde auf.


 

8.     Das Abendmahl wird nach der Einsetzung Christi in beiderlei Gestalten empfangen. Wir erkennen darin das Erinnerungsmahl an das Leiden und den Tod unseres Herren Jesu Christi.

 

9.     Die Ohrenbeichte wird verworfen.

 

10.  Wir erkennen die Ehe als eine von Gott angeordnete und daher von den Menschen heilig zu haltend Einrichtung an, und behalten die kirchliche Einsegnung bei. In Betreff der Bedingungen und Hindernisse erkennen wir lediglich die Staatsgesetze als bindend an.

 

11.  Wir glauben und bekennen, dass Christus der alleinige Vermittler zwischen Gott und den Menschen ist. Wir verwerfen daher die Anrufung der Heiligen, die Verehrung der Reliquien und Bilder, die Ablässe und Wallfahrten.

 

12.  Wir halten es für die erste Pflicht des Christen, den Glauben durch Werke christlicher Liebe zu betätigen.

 

13.  Der Gottesdienst besteht wesentlich aus Belehrung und Erbauung. Die Messe in deutscher Sprache wird nach den Einrichtungen der ältesten Kirche mit Rücksicht auf die Zeitbedürfnisse geordnet. Die Teilnahme der Gemeindemitglieder und die Wechselwirkung zwischen ihnen und dem Geistlichen wird als wesentliche Erfordernis angesehen.

Gesang leitet die Feier ein und beschließt sie.

1)       Einleitendes Lied

2)       Bekenntnis

3)       Kyrie

4)       Gloria

5)       Kollekten (werden bei den hohen Festen mit Rücksicht auf ihre Bedeutung gewählt.)

6)       Epistel

7)       Evangelium (vor und nach der Predigt wird gesungen)

8)       Credo

9)       Ein ausgewähltes Stück aus der Passion mit den Einsetzungsworten gesprochen von einem Geistlichen

10)     Sanctus. Heilig, heilig

11)     Agnus Dei

12)     Vater Unser

Segen

Gesang

1845


 

Der genaue historische Zusammenhang der folgenden Nachricht innerhalb des freireligiösen Spektrums ist noch ungeklärt.

 

Eine Nachricht aus:

„Hamburger Neue Zeitung“

Nr. 61 vom 13. März 1845

 

Wismar vom 12. März [1845]

Die hiesigen katholischen und protestantischen Christen, welche sich der unabhängigen neuen deutschen Kirche einzuverleiben beabsichtigen, haben sich über nachstehendes Bekenntnis vereinigt:

 

1. Wir glauben an einen Gott, den Herrn des Himmels und der Erde, dessen urgöttliches Wesen im Worte als Vater geoffenbart worden.

 

2. Wir glauben an die Erscheinung dieses Herrn auf Erden in Jesus Christus, welcher des Höchsten Sohn ist in des Wortes geistiger Bedeutung.

 

3. Wir glauben an einen allwaltenden Geist der Liebe und Weisheit, welcher der Heilige Geist oder der Geist der Wahrheit ist.

 

4. So glauben wir an eine Einheit des göttlichen Wesens in seiner dreifachen Entfaltung als Vater, Sohn und Geist, ohne Unterscheidung dreier Personen in der Gottheit.

 

5.  Wir lassen in unserer Verbindung keine Anrufung von Heiligen zu. Wir versagen ebenso auch den lebenden Menschen jede Art von Verehrung, welche nur dem höchsten Wesen gebührt.

 

6.  Wir glauben an eine Fortdauer der Menschengeister nach dem Tode und an eine Zustands-Verschiedenheit derselben nach Maßgabe ihres Lebens und ihrer Lebensrichtung.

 

7.  Wir glauben an eine Auferstehung des Fleisches nicht, glauben aber an ein Auferstehen und Fortbestehen des Menschengeistes in einem geistigen Leibe.

 

8.  Wir halten auf Taufe - als das Bundeszeichen - und auf Abendmahl - als ein Mittel zur Erweckung des lebendigeren Andenkens an den Herrn und Herstellung einer engeren Verbindung mit ihm.

 

9.  Von der Heiligen Schrift halten wir, dass sie, als die Quelle der Glaubensüberzeugungen der Gemeinde, einer freien Forschung unterliege, dass ein  tieferer  Sinn im Buchstaben der Schrift liege und dass die Vernunft nicht ruhen, sondern angestrengt in der Erforschung dieses tieferen geistigen Sinnes fortstreben müsse.

 

10.   Die Gemeinde achtet jeden als einen Geistesverwandten, welcher bemüht ist durch die Tat zur Glaubensentschiedenheit durchzudringen, nämlich durch die Tat der Gebete des Herrn.

 

In den nächsten Tagen wird wahrscheinlich schon die Gemeinde-Ordnung festgestellt und demnächst mit dem Glaubensbekenntnis zur Kenntnis der Behörden gebracht werden.

1845

 

 

 

 

 

 


 

1845

Gottfried Keller und der Deutschkatholizismus

Nur wenige Freireligiöse wissen noch um die große Aufmerksamkeit, mit der der junge Gottfried Keller (1819 – 1890) die in Deutschland erwachende Deutschkatholische Bewegung von der Schweiz aus beobachtete. Wie nahe er den neuen religiösen Bestrebungen stand, drückte sich später in seinem Roman „Der grüne Heinrich“ (1854) z. B. in der Schilderung aus, wie er den Konfirmanden den Vorbereitungsunterricht erleben lässt.

Angesichts der Wallfahrt zum Heiligen Rock 1844 und des öffentlichen Protestes Ronges schöpfte Keller die Hoffnung auf Erneuerung des Christentums durch den in Entstehung begriffenen Deutschkatholizismus. Seine Hoffnung fasste er in ein Gedicht, in dem er die Deutschkatholiken als das „grüne Reis am dürren Baume“ des Christentums bezeichnet. Er geht so weit zu sagen, dass er in der angestrebten deutschkatholischen Reformation die letzte Hoffnung sieht, und wenn diese misslinge, so ist für ihn die letzte Chance vertan und das Christentum dem Untergang Preis gegeben.

 

An die offiziellen Christen

O nennt mir eine einz´ge Tugend nur,

die nicht ein guter Heide einst besessen!

Zeigt mir nur einer Todessünd´die Spur,

der sich nicht tausend Christen schon vermessen!

Beweiset mir, dass grüner stehn die Auen,

dass ehrlicher, die Staat und Acker bauen,

dass schöner sind und treuer unsre Frauen,

so will ich meine Zweifel gern vergessen

und gläubig mit euch auf zum Kreuze schauen.

Weh uns, dass wieder es im Herrn entschlief,

das zarte Weihnachtskindlein, kaum geboren.

Doch weg mit Scherzen! Denn ich fühl es tief,

welch ungenossen Heil mir dort verloren.

Es war ein Leuchten ferner Herrlichkeiten,

es war ein Lenzblick ewger Frühlingszeiten.

Da kamt ihr, das Bahrtuch auszubreiten,

das ihr zum Löschen zeitig schon erkoren.

Nacht ward es wieder in der Erde Weiten.


 

Glaubt ihr ein letzt´ Gerichte? Weh über euch!

Denn Gott wird euch an jenem Tage fragen

wie Kain einst: Wo ist mein Himmelreich?

Ich hieß euch schenken an des Lebens Bronnen.

Kein Tropfen ist der durst´gen Welt geronnen.

Das Wort war euer; ihr habt nicht begonnen.

Weg, weg mit euch, den schwersten Fluch zu tragen,

den ihr im wüsten Herzen selbst ersonnen.

Ein grünes Reis noch trägt der dürre Baum

In diesen Tagen und im deutschen Lande.

Noch ists nur wie ein zarter Maientraum,

der luftig schwebt auf gold´nem Wolkenrande.

Doch sollt auch dieser letzte Sprosse sterben,

soll diese letzte Blüte noch verderben,

– es wird, wenn eure Hände danach werben –

dann wird der Baum gefällt; im toten Sande

wird ihn der Wurm Vergessenheit ererben.

 

Gedicht zitiert nach:

„Der Freireligiöse“

März 1959

 


 

Vertrauensvolle und dringende Bitte

katholischer Einwohner der Stadt Offenbach a.M.

an den Hochwürdigsten

Bischof Dr. P.L. Kaiser zu Mainz

um Beistand und Anführung

gegen die

Feinde des katholischen Christentums

 

Eingegeben am 21. Februar 1845

 

gedruckte Flugschrift,

Offenbach,

20 Februar 1845

 

An Seine Bischöflichen Gnaden, den Hochwürdigsten Herrn Bischof Dr. Leopold Kaiser Hochwohlgeboren ehrfurchtsvolle Vorstellung und Bitte der Endunterzeichneten Diözesanen dringende kirchliche Bedürfnisse betreffend.

 

In der vertrauensvollen Überzeugung, dass Ew. Bischöflichen Gnaden die Quellen der Gefahren anerkennen, welche die Grundsäulen unserer heiligen katholischen Kirche zu erschüttern drohen, und dass Hochdieselben die großen, zu Ihren Geboten stehenden Heilmittel gegen diese Gefahren und die ihnen zu Grunde liegenden eingewurzelten Krankheiten freudig und mutig anwenden werden: suchen wir Unterzeichnete als getreue Glieder der Gemeinde bei unserem geistlichen Oberhirten Gewissensrat, Hilfe und Anführung auf dem Weg zum Heil.

Indem wir ferner glauben, dass die Erlösung von jedem geistigen Übel, sobald wir dessen Natur und Ursprung klar erkennen und offen bekennen, der gottvertrauenden Kraft nicht schwer fallen wird: sprechen wir uns in Folgendem offen über die Mängel und Missbräuche aus, deren Abstellung wir unerlässlich notwendig erachten, wenn uns und vielen tausenden unserer Brüder aus geistiger Sorge und Not geholfen werden soll. Wir beschränken uns dabei auf die einfachsten Grundzüge unserer Ansichten, Wünsche und Motive, überzeugt, dass Ew. Bischöfliche Gnaden tiefe Einsicht einer ausführlicheren Darstellung nicht bedarf und vielmehr unsere Gründe noch durch viele andere ergänzen wird.

 

Nach unserer Ansicht bedarf das Wohl der Katholischen Christenheit vorzüglich für folgende Punkte der Berücksichtigung und respektive Abstellung, so teils ursprüngliche Verfälschung der göttlichen Gesetze, teils

überwiegendes Missverständnis und Missbrauch ursprünglich wohlgemeinter, menschlicher Gesetze nachweislich ist.

 

1. Das Lesen der Heiligen Schrift, auch in den nicht von Rom approbierten Übersetzungen, werde gestattet. Irrtum und Wahrheit wird sich am sichersten sondern, wenn wir dem Worte des Apostels
(1 Thess. 5, 21) folgen: „Prüft alles, das Gute behaltet!“

 

2. Das Gebot des Fastens werde aufgehoben; denn: „Nicht was durch den Mund hineinkommt, verunreinigt den Menschen, sondern was aus dem Mund herauskommt, das verunreinigt den Menschen“, spricht unser Heiland (Matth. 15, 11). Darum jedoch sei es niemanden verwehrt, seinen Leib zu kasteien, wenn er es zur Bändigung seiner Sinnlichkeit und somit zu seinem Seelenheil ratsam findet.

 

3. Die Verehrung der Heiligen und der Reliquien werde aufgehoben, weil die Erfahrung bis in die allerneueste Zeit gezeigt hat, dass der Unterschied zwischen Verehrung und Anbetung von der Minderzahl der Verehrer richtig aufgefasst wird, also, dass jene Verehrung zum verabscheuungswürdigen Götzen- und Fetisch-Dienste geworden ist, mit welchem die Verehrung des „Einen Gottes“ und „Einen Mittlers“ zwischen Gott und den Menschen, nämlich des Menschen Christus Jesus “ (1. Tim. 2, 5) nicht zugleich bestehen kann.

 

4. Aus dem äußerlichen Gottesdienste werde alles entfernt, was unverständlich und tot ist, weder die Vernunft erleuchtet, noch das Herz wärmt, vielmehr durch seine Seelenlosigkeit inhaltlose Formeln an die Stelle der vom Heiligen Geiste beseelten Formen setzt; so das Lippengebet mit dem Rosenkranze und ganz besonders der Gebrauch der lateinischen und jeder fremden Sprache, welchem schon der Apostel Paulus im ganzen 14. Kapitel des ersten Korintherbriefes den Stab gebrochen hat. Wir heben nur einige seiner Worte aus (1. Korinth. 14, 16. 19.): „Wie soll, der als Unkundiger dasteht, das Amen zu deinem Segen sagen, da er nicht versteht, was du sagst? Aber ich will lieber vor der Gemeinde fünf Worte nach meinem Sinn und zur Belehrung der Anderen sagen, als zehntausend in fremder Sprache“.

 

5. Wir nehmen das alte, selbst von den Päpsten nie ganz bestrittene Recht jedes Christen in Anspruch: das Abendmahl unter beiderlei Gestalten zu genießen; vor allem, weil Christus selbst bei der Einsetzung seiner Jünger, welche als erste Gemeinde ihn als den einzigen Priester und Mittler umgaben, auffordert: „Trinkt alle daraus!“ sodann, weil der Geistliche als ein Bruder unter Brüdern, als Mitglied der Gemeinde und zugleich als ihr Seelsorger, Lehrer und Führer mit ihr der Gnadenmittel teilhaftig werden soll. Nannte ja selbst der Heiland seine „Brüder“ nicht bloß, die es dem Blute nach waren, sondern alle, die gleich ihm Gott dienten.

 

6. Die Ohrenbeichte und die Abhängigkeit der Absolution von derselben werden aufgehoben als eine spätere Erfindung von Menschen, welche ihr den Schein höherer Einsetzung zu geben wussten, um die sogenannten Laien in knechtischer Abhängigkeit von herrschsüchtigen, größtenteils fremdländischen Priestern zu erhalten. Es ist nur allzu bekannt, wie oft die Verweigerung der von der Ohrenbeichte abhängigen Absolution unschuldige Menschen, bald in ihren häuslichen und bürgerlichen Verhältnissen gekränkt, bald zu unnatürlichem Gehorsam gegen vermeintlich göttliche Gebote gebracht; wie oft andererseits gewissenlose Erteilung derselben schwache Menschen zu gänzlicher Sittenlosigkeit und Irreligiosität geführt und an die Stelle des göttlichen Gesetzes Jesu das menschliche, ja teuflische der Jesuiten und ihrer Genossen gestellt hat.

Dass fromme und treue Priester diese Einrichtung nicht missbrauchen, ist kein Grund gegen ihre unheilvolle Wirkung in anderer Hand. Auch wir glauben von Herzen, dass ohne aufrichtige Beichte, Buße und Besserung Gottes Gnade und der würdige Genuss des heiligen Abendmahls nicht zu erreichen ist. Aber nicht der Priester, sondern nur Gott selbst hat das Endurteil über unser Recht und Unrecht im Einzelnen zu sprechen, über das ihm jeder im Herzen genaue Rechenschaft abzulegen hat.

Nach der, bereits in dem vorigen Artikel bezeichneten Stellung, die dem Priester nach göttlichen und menschlichen Rechten in der Gemeinde gebührt, spreche er in ihrem und seinem Namen die heilige Verpflichtung zur durchgreifenden Selbstprüfung und Reinlichkeit des Herzens und des Wandels, und den daraus folgenden festen Glauben an Gottes Liebe und Barmherzigkeit aus.

Wer aber das Bedürfnis fühlt, die Zweifel und Vorwürfe seines Gewissens unverhohlen im Einzelnen seinem Seelsorger, als dem mit Gottes Gesetzen besonders vertrauten, in Wegen und Stellen derselben erfahrenen Freund und Ratgeber mitzuteilen: der sei wahrlich unbehindert daran und der wird sicherlich besser fahren, indem ihn freies Zutrauen zu diesem Schritte leitet, als wenn ein starres tyrannisches Gebot ihn dazu nötigt.

 

7. Was nun den Ablass betrifft: sollen wir harren, bis Christus wiederkehrt, um die Käufer und Verkäufer aus dem entweihten Hause des Herren zu verjagen?

Nein, Christus harrt vielmehr selbst darauf, dass wir, unsere Seelsorger und Lehrer an der Spitze, es in seinem Namen und Geiste tun. Um die Verderblichkeit jedes Aberglaubens in seinen Früchten zu erkennen, bedarf es nicht des Blickes auf die Seelenverkäuferei in Trier und an anderen Orten, von welchen Hochdesselben weise und liebevolle Fürsorge so viel möglich die anvertraute Gemeinde zurückhält; sondern auch unser Vaterland bietet noch zahlreiche Zeugnisse dafür, zumal in den unter den Landbewohnern am häufigsten vorkommenden Ablasswallfahrten und den dabei gebräuchlichen Gesängen und anderen Andachtsübungen.

 

8.  Alle Lieblosigkeit gegen Mitglieder anderer Glaubensbekenntnisse sei verbannt! Bevor wir jemandem die heiligsten und allgemeinsten Menschenpflichten erweisen, lasst uns nicht fragen: ob er es mit Paulus oder mit Apollo oder mit Kephas halte (1. Kor. 1, 12.) Kein Priester vermesse sich hinfort mehr, den Segen des allliebenden Gottes zu verwalten oder vielmehr zu verfälschen und in Fluch zu verkehren, indem er ihn einem Brautpaare gemischter Konfession vorenthält oder evangelischen Christen von dem Amte des Taufpaten ausschließt.

Ist nur erst die Übereinstimmung der Verbundenen in der Liebe da, so wird sie auch die im Glauben herbeiführen, so wahr die Liebe nach Christus und der Apostel Ausspruch die größte der geistigen Gewalten ist.

Kirchlicher Zwang aber hat seine Früchte schon übermäßig in Jammer und Verwirrung unter tausende Familien getragen. Und wie reimt es sich mit der Rechtsgleichheit aller Menschen und Bürger, dass hochgestellte Priester eines Nachbarlandes, in welchem ein Hofprediger die evangelischen Christen unter Schlangen und Nattern zu setzen wagte, vornehmen Brautpaaren gemischter Konfession ohne Weigern den Segen erteilten, den selbst der erleuchtete Geistliche den mittleren und niederen Ständen versagen muss, wenn er nicht sein eigenes geistliches Wohl aufs Spiel setzen will?

 

9.  Aber selbst unsere wohlwollendsten und aufgeklärtesten Priester können die Bedeutung des Segens, welchen die Menschen bei allen solchen Verbindungen und festlichen Familienereignissen ersehnen, nicht würdigen und empfinden, so lange ihnen selbst das Zölibat, die Menschensatzung unmenschlicher Herrschbegier, verbietet, nach Gottes Gesetz eine Gehilfin für das äußere und innere Leben zu wählen. Der Apostel Paulus, der, 1. Tim. 3, 2 ff (welche Stelle geflissentlich gemissdeutet worden ist), ausdrücklich die Priesterehe verlangt, weil, „Wer seinem eigenen Hause nicht vorstehen wisse, nicht für die Gemeinde Gottes sorgen könne“, nennt eben daselbst (4,1- 3) die Satzung der Ehelosigkeit eine Teufelslehre von anderen Schriftstellen zu schweigen. Bekanntlich gelang es erst über tausend Jahre nach Christus den römischen Bischöfen, einen großen Teil der katholischen Geistlichkeit durch gezwungene Ehelosigkeit von engerer Verbindung mit ihren Landsleuten und Gemeinden zu trennen und desto fester an Rom zu ketten. Bei einem großen Teil der europäischen und asiatischen Katholiken setzten sie ihren Willen nicht durch und fanden sich unter anderem genötigt, den Geistlichen einer unserer deutschen Stämme, den Ostfriesen, die Ehe zu gestatten. Menschen, welche nur die untergeordnete Bedeutung der Ehe kennen und selbst zu gemein und sinnlich denken und fühlen, um den heiligen Drang der Menschenseele nach Liebe und Teilnahme in Freud und Leid des ganzen Lebens zu würdigen, mögen immerhin dem Widerstreben unserer Priester gegen das Zölibat unreine Beweggründe unterlegen! Welche zerstörenden Wirkungen fortwährend die unnatürliche Einsamkeit des Zölibats auf Lebensglück, Berufstätigkeit, Ehre und Sitte vieler Geistlichen ausübt, ist gänzlich überflüssig zu erweisen.

10.   Wir wollen die düstere Reihe der überreifen Krankheiten unserer Kirche nicht schließen, ohne - so Gott will! - die Axt an die Wurzel des Übels zu legen! Diese Wurzel erkennen wir mit Bestimmtheit in der Abhängigkeit der Katholiken überhaupt und zunächst der deutschen von dem römischen Papst.

    Eines sichtbaren Kirchenhauptes, und wäre es auch das würdigste, bedürfen wir nicht, wenn wir anders versammelt und einig sind im Namen und Geiste dessen, der „wo auch nur Zwei oder Drei in seinem Namen versammelt sind, mitten unter ihnen ist.“ (Math. 18, 20.) Durch die Unwahrheit, dass unser Heiland selbst durch Petrus das Papsttum eingesetzt habe, lässt sich heutzutage kein geschichtskundiger Katholik mehr täuschen.

    Wir wollen hier von allem unersetzlichen Schaden schweigen, den nach unparteiischen Zeugnissen der Geschichte das Reich Gottes, das wahre Christentum durch das Reich des Papstes erlitten hat. Wir begnügen uns, darauf hinzuweisen: dass der Natur der Sache nach die Häupter eines italienischen Staates, die ihr eigenes Land und Volk, dessen Bedürfnisse und Kräfte sie doch kennen sollten, in äußerste Zerrüttung verfallen lassen: dass diese unmöglich wissen und bestimmen können, was zum Heile von Völkern dienen soll, deren Naturanlage und gegenwärtige Bildung himmelweit von der der Italiener verschieden ist. Der edle, mit deutscher Bildung vertraute Papst Ganganelli, der freilich aller Wahrscheinlichkeit nach von römischen Jesuiten gemeuchelmordet wurde, sah selbst ein, dass die Deutschen nicht Not haben, in Rom ihr Seelenheil  zu  beraten, und  sprach  darum die  Notwendigkeit einer deutschen Kirche aus.

Ganz besonders fühlen wir uns zu dem Bekenntnis gedrungen, dass wir in vielen Fällen, in welchen der Wille des ausländischen Herrschers im Namen Christi und sogar Gottes ausgesprochen, dem Wille und Wohle unseres Vaterlandes und unserer angestammten Herrscher widerspricht, auf beiden Seiten die Gefahr des Meineides sehen, wenn wir länger päpstliche Katholiken bleiben.

Es ist nicht gut, zwei Herren zu dienen, und mehrere Zeichen der neuesten Zeit begründen die Befürchtung: dass die Anhänglichkeit an die fremde, römische Kirche schon bei manchen ihrer Diener die nächsten und heiligsten Pflichten gegen Vaterland und Landesvater untergraben hat.

 

      Es ist nicht unmöglich, dass die geistliche Regierung Roms die voraussichtliche Trennung von tausenden, ja Millionen der frömmsten und klarsten Katholiken von ihr durch augenblickliche Nachgiebigkeit und scheinbares Eingehen auf deren gerechten Wünsche beschwichtigen will. Gewiss aber würde sie dies nur unter dem stillen Vorbehalt tun, bei nächster gelegener Zeit die den deutschen und überhaupt den menschlichen Geist entehrenden Fesseln wieder hervorzusuchen. Wir verwahren uns ausdrücklich: dass wir von dem römischen Bischof oder in seinem Namen keinerlei Gewährung oder Abschlag annehmen werden. 

 

Wir wollen durch diese Schrift bezeugen, dass wir nicht durch unbedachte Wünsche und törichte Unruhe, sondern durch gewissenhafte Überlegung zu der hoffnungsvollen Bitte getrieben werden: Unser verehrter Bischof möge Kraft seines Amtes als unser treuer Seelenhirt an unserer Spitze die gemeinsamen Feinde bekämpfen.

Hochderselbe darf unserer Versicherung glauben: dass eine große Zahl, ja  bei weitem die beste Mehrzahl seiner geistlichen und weltlichen Diözesanen mit Ungeduld seines Rufes harrt; wir betrachten uns nur als deren Stimmführer. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass es darum nicht an Menschen fehlen wird, welche diese unsere Aussage vor Hochderselben verdächtigen, und dass noch mehrere durch mancherlei Gründe zurückgehalten werden, ihre mit der unsrigen völlig übereinstimmende Überzeugung bis jetzt laut zu bekennen; wir aber halten uns versichert, dass diese Erscheinungen den wahren Grund und Stand der Sache nicht vor unseres hochwürdigen Bischof klarem Blick verhüllen werden.

 

Fürchten auch Sie Roms Feindschaft nicht, von einer dankbaren Gemeinde umgeben! Der von seinen Landsleuten und wahrhaftesten Glaubensgenossen frei gewählte Bischof und Priester wird überall daheim, bei Herrschenden und Dienenden, willkommener sein, als der von fremdem Segen Abhängige. Ganz besonders hoffen wir zuversichtlich, dass die Väter und Regierer des deutschen Landes und Volkes dessen Söhne gegen das ungerechte Gericht einer fremden Gewalt schützen werden, die einen Staat im Staate behaupten will. Diese Gewalt wird es nicht hindern, dass die uralte christliche Kirche, die sie zu einem Kerker verbaute, von welchem die draußen Stehenden zurückschrecken, wieder zum Hause der Freiheit werde, in welches die Mühebeladenen (Math. 11,28.) aus allem Volke einkehren. Dann erst wird sie den Namen der katholischen, der allgemeinen, auch mit der Tat in segensreicher Wahrheit führen.

 

Zu diesem hochwürdigen Namen des katholischen Christentums bekennen wir Unterzeichnete uns fortwährend von ganzem Herze, sei wider uns wer da wolle, und behalten uns in jedem Falle alle Rechte dieses Namens und unserer Gemeinde vor.

Unser gegenwärtiger Schritt bezweckt ja eben für uns und unsere Brüder die Wiedererlangung der zum Teil lange Zeit hindurch verlorenen, und den Schutz der gerade in diesen Tagen durch Gewalt und List der fremden Priester und ihren Genossen gefährdeten Rechte.

 

Was wir von Ew. Bischöflichen Gnaden vertrauensvoll erwarten, ist darum auch nichts anderes: als der Beistand zur Wahrung des Rechts, als der Vortritt auf dem rechten Weg.

 

Ehrfurchtsvoll unterzeichnen sich

Ew. Bischöfliche Gnaden

gehorsamste                 (es folgen die Unterschriften)

 

 

 

Offenbach, 20. Februar 1845

 


 

1846

Eduard Baltzer

über die Ziele der freien Gemeinden

 

„Kirchliche Reform“, Jahrgang 1846

zitiert in „Der Freireligiöse“, Juni 1959

 

„Darum wollen wir allerdings nun den Glauben, der da sagt: das ist wahr!, denn bei einem Glauben, dem die Wahrheit nicht über alles geht, sind wir vor frommem oder unfrommen Betrug nie
sicher! Drittens aber wollen wir immer festhalten, dass die echte Frömmigkeit nie mit diesem „Glauben“, um den der Streit geht, nicht etwa einerlei ist, sondern sich zu ihm verhält wie Wesen und Form. Nehmt das Gleichnis von der Sonne. Immer sahen die Menschen zu ihr empor, immer anders wurden ihre Vorstellungen über sie, und so Großes jetzt über sie bekannt ist, so viel ist auch noch verborgen: aber in ihren Strahlen sonnten sich die Menschen alle gleich gern und preisen sie ob des Lebens, das sie auf Erden schafft. Also ist es auch mit Gott. Aller Menschen Vorstellungen über ihn waren und sind verschieden, denn er „wohnt in einem Lichte, da niemand zukommen kann“.

„Drum, je mehr wir die unvollkommenen Vorstellungen unserer Väter über die Gottheit aufgeben, desto mehr bleiben wir wesentlich beim Alten, beim Uralten, beim Ewigen, das ist Gott. Erst wenn wir dies vollständig anerkennen, erkennen wir auch alle Menschen, auch alle Andersgläubigen als Kinder Gottes an, und erst dann kann bei uns von wahrer Pietät gegen Gott und die Väter die Rede sein.“

„Fassen wir die Religion nicht als etwas Fertiges, sondern als etwas Werdendes, nicht als irgend eine bestimmt ausgeprägte Ansicht über Gott und Welt, sondern als wachsende Erkenntnis, in welcher der Mensch dann die Fülle seines eigenen Lebens, je nach dem Maße seiner Kraft offenbart.“

„Die echte Religion ist Geist, erkennender Geist, alles erforschender menschlicher Geist. – Die Ahnung des Ewig-Einen in allem Endlichen ist in des Menschen Brust seine – Religion, sein Glaube.“

Eduard Baltzer war der erste Vorsitzende des Bundes Freireligiöser Gemeinden


 

Robert Blum

 

Das „hohe Ziel“: der „allgemeine Menschheitsbund“!

 

Robert Blum und

Franz Wigard (Herausgeber)

„Die zweite christkatholische Kirchenversammlung“

Abgehalten zu Berlin, Pfingsten 1847

Leipzig 1847

 

... In dem kurzen Zeitraum von zwei Jahren hatte sich die Zahl der [deutschkatholischen] Gemeinden, deren es zur Zeit der Kirchenversammlung in Leipzig (Ostern 1845) kaum einige 30 konstituierte und in der Konstitution begriffene gab, um das acht- bis neunfache vermehrt. Zwar konstituierten sich alle Gemeinden von jenem Zeitpunkt an ... auf die Grundsätze und Bestimmungen, welche die Kirchenversammlung zu Leipzig aufgestellt hatte; allein bald nachher erhob sich auf dem Felde des Glaubens ein heftiger Meinungsstreit, welcher eine geraume Zeit hindurch den Anschein gewann, dass er zu einer völligen Trennung führen werde; denn einige Posenschen Gemeinden, sowie die Christkatholiken apostolischen Bekenntnisses zu Berlin hatten die Ansicht aufgefasst, als ob das zu Leipzig festgestellte Bekenntnis die Summe der Glaubenswahrheiten enthalten sollte, über die hinauszugehen keiner Gemeinde gestattet würde, während es doch, auf dem Boden der Glaubensfreiheit wurzelnd, nur solche allgemeine Grundwahrheiten des Glaubens zu umfassen hatte, die jeder christlichen Religionsgesellschaft und jeder christlichen Religionsanschauung gemeinsam waren, und die Auffassung dieser Grundwahrheiten, ihre Auslegung und weitere Entwicklung dem religiösen Bewusstsein der einzelnen Gemeinden und ihren Gliedern überlassen musste.

 

Dieser nicht ohne Leidenschaft und Heftigkeit von einer Seite her geführte Streit verlor zwar in der letzten Zeit vor Eintritt der zweiten Kirchenversammlung, namentlich durch das Dazwischentreten und die Missbilligung einiger der betreffenden Gemeinden selbst, an Bedeutung; allein es suchte an dessen Stelle eine andere religiöse Richtung sich breitere Bahn zu brechen, von der es den Anschein gewinnen wollte - ob mit Recht oder Unrecht, lassen wir dahingestellt - als ob auch sie, der allerdings eine gleiche Berechtigung wie den übrigen christlich-religiösen Richtungen gebührt, alleinige Berechtigung in der reformierten katholischen Kirche beanspruche.

Es war dies die Annäherung an die freien evangelischen Gemeinden, - das  Streben nach Vereinigung mit denselben und Aufstellung rein philosophischer Sätze statt der in Leipzig vereinigten, auf das praktische Leben berechneten, allgemeinen Bestimmungen.

Je mehr diese Richtung sich auf der einen Seite ausbildete und vorwärts drängte, desto entschiedener erklärte sich der größere Teil der Gemeinden für unverrücktes Festhalten aller und jeder Bestimmung der Leipziger Kirchenversammlung.

 

Der ruhige und unbefangene Beobachter musste in diesen beiden sich entgegengesetzten Richtungen auch einen neuen Keim zum Kampfe erblicken, und bei dem Sieg der einen das Hinausdrängen der positiveren Richtung, bei dem Sieg der anderen aber ein ängstliches und nachteilig bindendes Festhalten bei dem einmal Aufgestellten, die Einstellung des Ausbaus der Kirche und somit in dem einen oder anderen Fall befürchten, dass entweder der gleichen Berechtigung aller christlich-religiösen Anschauungen, also dem Grundstein einer wahren christkatholischen Kirche wesentlicher Abtrag geschehe, oder dass die vernunftmäßige Fortbildung und immer vollkommenere Entwicklung der Kirche gehemmt, und demnach auch hier ein Hauptgrundsatz dieser Kirche, die Berechtigung des Zeitbewusstseins, umgestoßen werde.

 

Aus diesen angedeuteten Verhältnissen ergibt sich einerseits die mit der Leipziger Kirchenversammlung übereinstimmende und andererseits die von derselben abweichenden Wirksamkeit der Kirchenversammlung zu Berlin. Noch immer herrscht über die erste Kirchenversammlung die irrige Ansicht, als habe sie die 51 allgemeinen Grundsätze und Bestimmungen der deutsch-katholischen Kirche selbst geschaffen. Dem ist aber nicht so; ... vielmehr war das gesamte Material ihrer Beschlüsse von den frei und selbständig konstituierten Gemeinden gegeben.

 

Dieses Material war jedoch ein sehr verschiedenes, und darum bestand die Aufgabe der ersten Kirchenversammlung darin, aus dem gegebenen Material solche allgemeinen Grundsätze und Bestimmungen hervorzustellen, welche das Wesentliche einer jeden christlich-religiösen Anschauungsweise enthielten und zugleich geeignet waren, die weiteren religiösen Ideen daran zu knüpfen.

Ausgleichung, Vermittlung, Vereinbarung waren die alleinige Aufgabe der Leipziger Kirchenversammlung, und auf diesem Grunde allein beruht z. B. die nur gleichsam in Umrissen sich darstellende Fassung des Leipziger Bekenntnisses. Es sollte kein Symbol sein (unveränderliche Glaubensfestlegung), sondern vielmehr nur die Punkte enthalten, in denen sich alle damaligen religiösen Richtungen der deutsch-katholischen Bekenner vereinigten, und es wurde deshalb auch ausdrücklich festgesetzt, dass dieser Vereinigungspunkt von jeder Gemeinde weiter ausgeführt ... werden könnte. ...


 

Die deutsch- oder christ-katholische Kirche verwirft nur das, was sie in ihren allgemeinen Grundsätzen und Bestimmungen als von ihr verworfen ausdrücklich bezeichnet hat. Und mehr als die offenkundigen, geschichtlich leicht nachzuweisenden, vernunftwidrigen Irrtümer und Missbräuche der römischen Kirche, wie sie sich nach dem Gang aller menschlichen Einrichtungen im Laufe der Zeiten eingeschlichen [haben], konnte und durfte sie auch nicht verwerfen, wollte sie nicht ihren Charakter einer katholischen Kirchenversammlung aufgeben, wollte sie nicht von vorne herein aus der, zur Vermittlung der Gegensätze berufenen, die Vereinigung aller christlich-religiösen, ja überhaupt aller wahrhaft humanen Ansichten anstrebenden allgemeinen Kirche eine neue Spezial-Kirche neben der schon bestehenden machen, wollte sie nicht das hohe Ziel aus dem Auge verlieren, das schon Christus zu verwirklichen bestrebt war, in Freiheit und Liebe alle Menschen zu einer Familie, in einen allgemeinen Menschheits-Bund zu vereinigen.

 

Die Verfechter und Vertreter dieser hohen, der Menschheit Heil bringenden und segensreichen Idee konnten daher auch keine Minute darüber im Zweifel sein, dass die allgemeinen Grundsätze und Bestimmungen der Leipziger Kirchenversammlung bei der Partei der streng Rechtgläubigen Anstoß, Ärgernis und lebhaften Tadel erfahren [würde], dass sie aber auch nicht die ungeteilte Zustimmung der entgegen gesetzten Partei erhalten würden, indem die eine wie die andere ausschließlich Berechtigung der Anerkennung zu haben glaubt, und ihr Auge dem erfahrungsgemäßen, daher unleugbaren Satz verschließt, dass das göttliche Licht sich ebenso verschiedenartig in den Menschen bricht, wie das Sonnenlicht in einem Prisma, dass demnach der eine Hirte und die eine Herde nie und nimmer in der Einheit des Glaubens, sondern nur in der Einheit der Glaubensfreiheit und der tätigen Liebe entstehen werde.

 

Vergleichen wir mit dieser Aufgabe der Kirchenversammlung zu Leipzig die Kirchenversammlung zu Berlin, so finden wir, dass auch diese die Ausgleichung, Vermittlung, Vereinbarung als die eine und die Hauptseite ihrer Aufgabe ansah, dass auch sie von derselben Idee der religiösen Freiheit und der Vereinigung der sich entgegen stehenden Parteien in der Liebe ausging und an ihr festhielt. Sie musste sich darauf beschränken, den entstandenen Meinungsstreit auf dem Felde des Glaubens beizulegen, die gleiche Berechtigung einer jeden christlich-religiösen Richtung innerhalb der christ-katholischen Kirche zu bekräftigen, dem äußeren Kultus eine, das individuelle Bedürfnis berücksichtigende, daher die Verschiedenartigkeit nicht ausschließende breite Unterlage zu geben, und in der Verfassung die Freiheit und Selbständigkeit der Gemeinden unbeschadet der Einheit der Kirche zu wahren. ...


 

Die  Kirchenversammlung  zu Berlin...hat  zuerst  durch  den  Beschluss:

„das Wesen der christ-katholischen Kirche fuße auf Anerkennung der Lehre Christi in ihrer Übereinstimmung mit der Vernunft“

allen Meinungsstreit und allen Zwiespalt über Glaubensansichten beseitigt und die Freiheit des Glaubens für den Einzelnen, wie für die Gemeinden gewahrt ... Ausschließung kann bei uns nicht stattfinden, und es müsste eine Gemeinde nur sich selbst dadurch ausschließen, dass sie etwa alle diejenigen, welche ihrer Glaubensrichtung nicht mehr zugetan sind, geradezu verdammte und erklärte, mit ihnen keine Gemeinschaft haben zu wollen. ...

 

Hinsichtlich des liturgischen Textes kam es zwar zu keiner Aufstellung eines bestimmten Prinzips, doch beurkunden die Vorschläge den hohen und würdigen Standpunkt, auf dem die Versammlung stand, indem man nur auf eine würdige und wahre Gottesverehrung Bedacht genommen wissen wollte, aber hinsichtlich der Formen und Gebräuche derselben eine Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit für zulässig erachtet. ...

 

Nur auf und in Prinzipien fußend und bestehend soll sich die Kuppel des christ-katholischen Domes über den verschiedenartig gebauten Säulen der Gemeinden als eine, sie alle umschließende Einheit wölben. ...

 

Sie haben, so hoffen wir zuversichtlich, das Getrennte vereinigt, das Bestehende gestärkt, das Ideal derselben zur Anschauung gebracht, die Fortentwicklung der Kirche gesichert, und haben ein lautes Zeugnis abgelegt von dem Geist, welcher die reformierte, katholische Kirche durch und durch durchdringt, von dem Geiste der religiösen Freiheit, der gleichen Berechtigung aller christlich-religiösen Glaubensansichten innerhalb der Kirche, von dem Geiste der kirchlichen Selbständigkeit und Mündigkeit der Gemeinden, und von dem Geist der Einheit und des gleichen Strebens in der Liebe.

Und dass dieser Geist fort und fort auf allen künftigen Kirchenversammlungen walte, das gebe Gott.

 

Pfingsten 1847


 

1847

Grundsätze der freien Kirche

 

Aufgestellt von der Gemeinde zu Breslau

1847

 

1.      Das Ziel der freien Kirche ist die Vereinigung mit Gott.

 

2.      Diese Vereinigung wird erreicht durch ein göttliches Leben der Menschen in Wahrheit, Liebe und Freiheit.

 

3.      Die freie Erkenntnis der Wahrheit ist die Aufgabe des Christen.

 

4.      Die Hauptquelle christlicher Erkenntnis sind die Schriften des Neuen Bundes.

 

5.      Der Christ soll sich zu nichts bekennen, was nicht mit seiner Überzeugung übereinstimmt.

 

6.      Die freie Kirche stellt kein Glaubensbekenntnis auf.

 

7.      Ob ein Glaubensbekenntnis aufgestellt werden soll oder nicht, hängt von dem Willen jeder einzelnen Gemeinde ab.

 

8.      Die verschiedenen Auffassungen der christlichen Lehre ist kein Grund zur Spaltung und Ausschließung.

 

9.      Der Kultus der neuen Kirche ist das Leben der Liebe.

 

10.   Das Leben der Liebe äußert sich in der Erziehung, Pflege und Erbauung des Menschen.

 

11.   ...

12.   ...

 

13.   Die christliche Gemeinschaft betätigt sich in gegenseitiger Förderung des geistigen, sittlichen und leiblichen Wohls des Menschen.

 

14.   Das Bewusstsein dieser christlichen Gemeinschaft wird lebendig
erhalten durch die gegenseitige Erbauung.

 

15.   Die Erbauung ist der Ausdruck der vollendeten Gemeinschaft mit Gott. 


 

Besinnung

 

Heribert Rau

 

Nennst du das Religion, zu glauben unglaubliche Dinge?

 

Sonntags zur Kirche gehen, wie es die Sitte erheischt, sauber gekleidet und fein, und fromm auch im äußeren Wesen?

 

Wenn die Predigt vorbei, - fort mit dem lästigen Schein! - ... Oder behalte ihn auch, der dient oft als treffliche Maske, hüllt dein Inneres ein, gleich wie der Schafspelz den Wolf! -

 

Nennst du das Religion, die Augen verdrehen und seufzen?

 

Beten und fasten und knien, schuldloser Freunde ein Feind?

 

Siehe, mein Freund, wie mir deucht, so wäre das geistige Schwachheit, heuchlerisches Wesen dabei, jeglichem Wackeren ein Gräuel.

 

Nimmer mit welkendem Laub, mit falschem Gewand und mit Tränen schmücket die Himmlische sich:

Blumen umkränzen die Stirn, freudig erstrahlt das Auge, kündend die heilige Flamme göttlicher Liebe, die still, tief in dem Herzen ihr wohnt.

 

Darum ist mir Religion ein freudiges rechtliches Leben, heiter genossen und rein, Schönem und Edlem geweiht.

 

 

 

 

 

Carl Schurz

(In Folge der Ereignisse

der Revolution 1848 nach Amerika geflohen,

dort später Innenminister der USA)

 

Ich sage nicht:

Folgt mir! - Glaubt blindlings meinen Worten!

 

Aber ich sage auch:

Folgt niemandem blindlings! - vertraut nicht, sondern denkt!

 

Schafft euch im Widerstreit der Meinungen

mit gewissenhafter Sorge die eigene Überzeugung

vor 1849


 

1849

 

Besinnung

 

Johannes Ronge

 

Ich will und muss wollen und habe es von Anfang an ausgesprochen: Die innere Wiedergeburt der Völker durch die in unserer Zeit gereifte Gottes- und Menschheitsidee.

 

Ich will und muss wollen eine freie Menschenkirche, die als feste sittliche Grundlage den staatlichen und gesellschaftlichen Zuständen dienen soll.

 

Ich will und muss wollen, dass die Religion Leben werde, wodurch ein neuer Geist, der heilige Geist der Liebe, ausgeht, dem die Zukunft gehört.

 

Ich will und muss demnach wollen volle Anerkennung der freien Menschenwürde, volle Gleichberechtigung, und für die Völker vollständige Souveränität.

 

Ich will und muss es wollen, weil die freie Menschenwürde und die Liebe oder die Religion sonst stets eine Phrase bleiben werden.

1849

 

 

 


 

Zwischen 1845 und 1852

 

Aus den Memoiren einer Idealistin

 

Buch von

Malwida von Meysenbug

1875

 

Malwida von Meysenbug  (1816 – 1903)  war  eine außergewöhnlich emanzipierte und selbständige Frau des 19. Jahrhunderts. Als glühende Demokratin verließ sie Deutschland nach dem Scheitern der Revolution (1848) und ging nach England ins Exil. Sie stand mit vielen führenden Intellektuellen ihrer Zeit in Verbindung und suchte mit ihnen geistigen Dialog. Schon als junge Frau stieß sie sich an dem engen protestantischen Kirchenglauben, mit dem sie sich seit ihrer Kindheit konfrontiert sah, und den sie schnell als im Gegensatz zu den Erkenntnissen ihrer Zeit stehend erkannte. Ihre freireligiöse Haltung bildete sich stetig, und sie nahm schon früh an den Versammlungen der Freien Gemeinde in Kassel teil. Später, nach ihrem Umzug nach Hamburg, wurde sie Mitglied der dortigen Freien Gemeinde. Die Passagen in ihren Memoiren, in denen es um ihre religiösen Ansichten geht, geben einen lebendigen Eindruck von den Glaubenskonflikten wieder, in dem sie sich mit vielen anderen Zeitgenossen befand.

 

Es folgt eine Auswahl von Zitaten aus dem oben genannten Buch:

 

[1845] ... Ich empfand seine Abwesenheit [Ihr Freund und die Liebe ihres Lebens, Theodor Althaus] mit tiefem Schmerz, und hätte ich nicht täglich einige Zeilen von ihm erhalten, ich hätte es kaum ertragen. Endlich erfuhr ich als schönste Überraschung, was ihn ferngehalten hatte. Er hatte sein erstes Buch vollendet, in dem er sich öffentlich vom orthodoxen Christentum lossagte und Christus als Menschen, Reformator und Revolutionär darstellte, der nichts anderes hatte einführen wollen als ein gereinigtes Judentum und eine edlere Moral. ...

 ... Ich war ganz versenkt in dieses Buch. Nicht nur, dass ich den Geist und die Poesie des geliebten Autors bewunderte, sondern indem ich las, fiel auch ein Schleier nach dem anderen von meinen Augen. Ich erkannte, dass alle meine schmerzlichen religiösen Kämpfe nur die legitime Empörung des freien Gedankens gegen die versteinerte Orthodoxie gewesen waren und dass das, was ich für schuldig gehalten hatte, die Ausübung eines ewigen Rechts gewesen war. Ohne zu zögern folgte ich meinem Freund in die scharfe, gesunde Luft der Kritik. ...


 

Es kostete mich nichts, der Idee von Christus als Vermittler zwischen Gott und Menschen zu entsagen, denn ich hatte nie die Notwendigkeit dieser Vermittlung begriffen. Ebenso wurde es mir leicht, Gott aus der engen Grenze der Individualität, in die ihn das christliche Dogma einfasst, zu befreien; in der Tat war dies längst in meinen Gedanken geschehen. Schwer wurde es mir nur, dem Glauben an die persönliche Unsterblichkeit zu entsagen. Ich hatte diese herrliche Phase des persönlichen Egoismus, diese poetische Anmaßung des Ichs, das sich ewig bejahen möchte, diesen Traum der Liebe, die kein Ende kennen will, sehr geliebt.

Während unsere Diskussion über diesen Punkt noch dauerten, schrieb er mir einmal: „Sie sträuben sich noch ein wenig dagegen, dass alles Vergängliche vergänglich sei. Wenn ich in meinem Herzen den Glauben an seine eigene Unsterblichkeit fände, so würde die Vernunft mich nicht daran irremachen. Es sind nicht die kleinen und schlechten Geister, sondern die guten und großen, die an ihre eigene Unsterblichkeit geglaubt haben. Aber ich habe diesen Glauben nicht. Wenn ich von Unsterblichkeit sprechen wollte, dann müsste jede Rose, jeder Frühlingskranz, der Gesang der Nachtigall und alles, was je mein Herz entzückt hat, mit mir kommen, und ich weiß doch, dass die Rose welkt, dass die Kränze zerfallen, die Augen erlöschen, die Haare bleichen und das Herz selbst mit seiner Liebe in Staub zerfällt. Unsterblichkeit ist nur in der Poesie. Der Geist ist nur Geist, weil er frei ist von jeder Form, von jeder Individualität. Mein Geist ist nicht mein Geist, sein eigentliches Wesen ist der universelle Geist. Er ist das Leben, das sich unter der einen oder anderen Form fortsetzt und sie verlässt wie der Duft die abgefallene Blüte verlässt. Das Dogma folgert daraus ganz logisch, dass der Körper, „das Fleisch“, auch auferstehen müsse, denn es gibt keine Individualität ohne das Fleisch.

Aber diese Folgerung war nur möglich für ein Dogma, das Wunder, die den Naturgesetzen zuwider sind, für möglich hielt und ein letztes Gericht nötig hatte beim Schalle der Posaunen und dem Zusammensturz der Elemente. Dieses Dogma ist so einig in sich, das Sie es ganz zerstören, wenn Sie ihm nur den kleinsten Teil nehmen, so wie das Samenkorn sich zerstört, wenn der Keim treibt.

Man ist im Frühling angekommen und trägt noch aus Gewohnheit einen Winterhut. Es gibt kein Wunder in der Natur, denn die Natur ist natürlich; es gibt kein Wunder im Geist, denn der Geist ist geistig. Es gibt nur ein Wunder: das ist der Geist in der Natur, im Universum. Es ist das Wunder des Daseins, aber er macht keine Wunder, er offenbart immer das eine. Die Materie ist unbewussterweise unsterblich; die Blume, die aus den Atomen eines Dichterhauptes entspringt und ihre Wurzeln daraus nährt, hat keinen Geist. Diese Unsterblichkeit teilt der Mensch mit der Blume,  die ihre Atome auch wieder anderen Blumen oder anderen Formen gibt.

Die andere Unsterblichkeit ist frei, ist nicht notwendig, ebenso wie der Geist sich nicht notwendig in jedem Menschen entwickelt. Der Geist also, der unsterblich sein will, muss dich unsterblich machen.

Die leibliche Persönlichkeit des Menschen ist unsterblich in seinen Kindern. Seine geistige Unsterblichkeit existiert nur in den Kindern seines Geistes, die auch nicht er selbst sind, aber von ihm erzeugt und ihm ähnlich. Diese Kinder sind seine Gedanken, die übergehen und sich fortsetzen in anderen Menschen oder die Bilder der Erinnerung, die unsterblich in den liebenden und geliebten Herzen leben.

Und glauben Sie, dass wenn eine treue Hand mir einst die Augen schließt oder wenn ich in der letzten Stunde allein an die denken kann, die ich liebte oder die mich liebten, glauben Sie, dass ich in Gegenwart all der Liebe, die ich gekannt habe, noch etwas für mich wünschen würde?“. ...

 ... Ich stimmte daher eifrig dem Vorschlag ... bei, Schleiermacher ruhen zu lassen [nicht mehr weiter zu lesen] und Feuerbach vorzunehmen. Bis jetzt war der mir geradezu verboten gewesen. Meine Mutter sah in ihm den Ausdruck des vollendeten Atheismus, und  ich hatte selbst bisher noch eine Art Scheu gehabt, mich an die Freidenker zu wagen. Jetzt war diese Scheu verschwunden und ich stimmte bei, „Das Wesen des Christentums“ von Feuerbach zu lesen.

Gleich von den ersten Seiten an sagte ich sehr erstaunt: „Aber das sind ja Gedanken, die ich längst kenne, meine eigenen Folgerungen, die ich nur nicht zu gestehen wagte“. All diese angstvollen Stunden meiner Jugend mit Bezug auf die Religion wurden mir nun klar und verständlich; sie hatten ihren Grund gehabt in dem Ungestüm des Gedankens, der sich auflehnte gegen ein Joch, in dem er gefangen gehalten werden sollte.

Feuerbach nannte, so schien es mir, zum erstenmal die Dinge bei ihrem wahren Namen; er vernichtete für immer die Idee einer anderen Offenbarung als derjenigen, die sich in den großen Geistern und den großen Herzen macht. Sein Gedanke schien sich in den letzten Worten seines Buches zusammenzufassen: „Heilig sei uns Brot, heilig der Wein, aber auch heilig das Wasser.“ Also, keine übernatürliche Verwandlung mehr, kein priesterlicher Exklusivismus, sondern das ganze Leben bis in seine kleinsten Äußerungen die Ausübung einer reinen menschlichen Moral.

Der philosophische und befreiende Fortschritt, der sich so in mir vollzog, vollendete natürlich auch meine vereinzelte Stellung in der Gesellschaft. ...

 ...  Der Aufenthalt in Ostende war für mich eine wirkliche physische und moralische Auferstehung. Einige interessante Bekanntschaften erhöhten  noch die Wohltat, die diese Zeit an mir ausübte. Unter diesen Bekanntschaften war eine, die uns besonders fesselte. Wir hatten einen katholischen Priester bemerkt, der immer allein spazieren ging und gewöhnlich wie wir zu den Stunden, wo nicht viel Menschen auf den Spaziergängen waren. Er war uns aufgefallen durch seine außergewöhnliche Schönheit. Eines Tages saßen wir alle drei am Abhang des Dammes nahe am Meer, und Anna hielt ihren sehr kleinen und zierlichen Fuß den Wellen entgegen, die ihn spielend mit Schaum bespritzten. Wir waren heiter, scherzten und lachten miteinander, und ganz zufällig wandte ich den Kopf rückwärts und sah den Priester hinter uns stehen, der mit feinem, aber wohlwollenden Lächeln uns zusah.

Ehe wir es uns versahen, hatte er sich zu uns gesetzt und, als ob wir uns längst gekannt hätten, fing er ein Gespräch an, das bald von beiden Seiten sehr lebhaft wurde, auf religiöse Gegenstände überging und sich besonders auf den Zustand des Protestantismus in Deutschland und auf die überall entstehenden Freien Gemeinden bezog. Diese letzteren, die unter dem Namen des Deutschkatholizismus sich von der bestehenden Kirche losgesagt hatten, schienen ihn zu beschäftigen. Er sah sie natürlich als traurige Verirrungen an, da es für ihn nur eine wahre Kirche gab. Als ich ihm den Glauben an die Wunder entgegen hielt und ihn fragte, wie er den verteidigen wolle, erwiderte er, dass der nur ein Mittel sei, die schwachen Seelen und die unwissenden Massen zu stärken; die aufgeklärten Diener der Kirche glaubten selbst nicht daran, und er sei kein wesentlicher Bestandteil der Dogmen. Er verwies uns an Bossuet und sagte, dass allein durch diesen großen Mann wir den wahren Katholizismus verstehen könnten.

Wir trennten uns, als ob wir alte Bekannte wären, und von nun an begegneten wir uns täglich, gingen stundenlang zusammen und hatten die ernstesten Diskussionen. Ich sprach am geläufigsten französisch von uns dreien, und so war ich es meist, die ihm erwiderte und tapfer das Feld behauptete. Er wandte alle Feinheiten der Dialektik, alle Argumente der Einbildungskraft und des Gefühls an, um uns zu überzeugen, aber er sah, dass es vergebliche Mühe war.  Endlich wurde er böse, und eines Abends, als ich ihm gesagt hatte, ich glaube weder an die Gottheit Christi noch an die Bibel als göttliche Offenbarung, noch an den beschränkten persönlichen Gott, den die Kirche lehre, da rief er zornig: „Also sind Sie nicht einmal mehr Protestantin?“

„Nein“, antwortete ich, „ich habe es Ihnen ja bewiesen, dass es etwas gibt, was über den Protestantismus hinausgeht: der freie Gedanke und das Recht, alles am Lichte der reinen Vernunft zu prüfen.“

„Sie sind verloren, und ich bedauere Sie“, sagte er, indem er kaum grüßte und uns eilig verließ. Die folgenden Tage sahen wir ihn nur noch von fern; er vermied uns sichtlich; dann verschwand er ganz. Wir erfuhren  nachher, dass er ein belgischer Jesuit war, und konnten nicht umhin zu lächeln bei dem Gedanken, wie unangenehm es ihm gewesen sein mochte, so viele Mühe umsonst verschwendet zu haben. Mir hinterließ diese Begegnung ein Gefühl der Befriedigung, denn es war das erstemal, dass ich die Freiheit meiner religiösen Überzeugung so völlig ausgesprochen und verteidigt hatte. Der Kampf für eine Idee macht sie uns teuer und macht uns unserer selbst gewisser.

 

[Hamburg, Mai 1850] ... Am Abend machte ich auch die Bekanntschaft der eigentlichen Begründerin der Anstalt, von der ich schon so viel gehört hatte. Emilie Wüstenfeld war eine von den mächtigen Persönlichkeiten, die, zu scharf ausgeprägt, zunächst durch einige eckige und gleichsam absolute Seiten ihres Wesens auffallen, die aber durch nähere Bekanntschaft immer mehr Achtung und Liebe einflößen und wahrhaft mit ihren höher steigenden Zielen wachsen. – Sie empfing mich auf das Herzlichste, und indem sie mir ihre Pläne auseinandersetzte, ersah ich, dass meine Träume hier eine Form gewinnen würden. Die ökonomische Unabhängigkeit der Frau möglich zu machen durch ihre Entwicklung zu einem Wesen, das zunächst sich selbst Zweck ist und sich frei nach den Bedürfnissen und Fähigkeiten seiner Natur entwickeln kann – das war das Prinzip, auf das die Anstalt gegründet war. Man muss sagen, dass hier wie auch in anderen deutschen Städten der Gedanke der Emanzipation der Frau sich infolge der freien Bewegung in der Kirche entwickelt hatte. Die Freien Gemeinden, die sich zuerst von der katholischen, dann auch von der protestantischen Kirche unter dem Namen Deutsch-Katholiken, Lichtfreunde usw. trennten, hatten seit der Revolution von achtundvierzig [1848] einen mächtigen Aufschwung genommen. Alle großen und viele kleinen Städte Deutschlands besaßen solche. Die Reformatoren, die an der Spitze dieser Gemeinden standen, waren mehr oder weniger bedeutende Männer, aber sie handelten alle so ziemlich in gleichem Sinne. Die Unabhängigkeit des Gemeindelebens vom Staat, die eigene Verwaltung in den religiösen Angelegenheiten und denen des Unterrichts, die freie Wahl der Prediger und Schullehrer durch die Gemeinde selbst, die Gleichheit der bürgerlichen Rechte für Männer und Frauen – das waren so ziemlich überall die Grundlagen.

In einigen Gemeinden strebte man sogar auch in den äußeren Formen nach der Einfachheit der ersten christlichen Zeiten; man redete sich allgemein mit Du an und feierte die Kommunion wie Liebesmahle der Brüderlichkeit. Andere hatten Abendmahl, Taufe und andere Zeremonien des Kultus ganz abgeschafft, da sie ihnen keine Ideen mehr vorstellten. Sie tauften nur noch aus ziviler Notwendigkeit, um den Kindern ihre bürgerlichen Rechte zu sichern. Im Hamburg hatte die Freie Gemeinde, durch Johannes Ronge ins Leben gerufen, zahlreiche warme Anhänger gefunden. Die Frauen, die die Hochschule begründeten, hatten aber eingesehen, dass es nicht genug wäre, den Frauen gleiche Rechte mit den Männern in der Gemeinde zuzugestehen, sondern dass man ihnen auch die Mittel reichen müsste, würdig von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Nun gab es eben für die Frauen wie für das Volk nur ein Mittel, die Freiheit zum Segen zu gestalten: Bildung. Die gewöhnliche, bis dahin allgemein angenommene Ansicht, dass die Erziehung des jungen Mädchens aufhört, wenn sie die Schule verlässt, dass sie dann nichts zu tun hat, als in die Gesellschaft einzutreten, sich zu verheiraten und im besten Fall das häusliche Leben  durch ihre Talente zu verschönern – diese Ansicht bedurfte einer gründlichen Reform. In der Hochschule wollte man also den Mädchen, die die Schule verlassen hatten oder solchen, die schon im reifen Alter noch das Bedürfnis fühlten, die Lücken in ihrer Bildung auszufüllen, die Gelegenheit geben, höhere Studien aller Art zu verfolgen, entweder zu dem Zweck, eine Spezialität zu ergreifen, oder nur, aus sich selbst ein vollendeteres Wesen zu machen. ...

 ... Bei dem Institut befand sich ein Kindergarten und eine Elementarklasse, wo die jungen Mädchen, die Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen werden wollten, praktische Übung fanden. Auch das System des Kindergartens, von dem genialen Friedrich Fröbel erfunden, hatte sich in Deutschland zugleich mit der politischen und religiösen Bewegung rasch entwickelt. ...

 ... Eine andere beglückende Überraschung wurde mir zuteil, als man mich am Sonntag in die Versammlung der Freien Gemeinde führte, die von allen Mitgliedern der Hochschule besucht wurde. Ein großer Saal war einfach und würdig für diese Versammlung eingerichtet; ein zahlreiches Auditorium füllte ihn und folgte mit gespannter Aufmerksamkeit der Rede eines jungen, einfach und bescheiden aussehenden Mannes, der von einer Tribüne herab zu ihm sprach. Die Rede gehörte einer bereits vor meiner Ankunft begonnenen Reihe von Betrachtungen an, in denen der Redner mit der systematischen wissenschaftlichen Kritik der alten Dogmen die Entwicklung neuer Ideen auf allen Gebieten des menschlichen Lebens, im Staat, in der Gesellschaft, in der Familie, verband.

Jedes Wort, das er sprach, fand ein freudiges Echo in meiner Brust. Das war das Anbeten im Geist und in der Wahrheit, nach dem ich mich gesehnt hatte; die Religion, aus den Schranken der Kirche befreit, wurde lebendiges, blühendes Dasein, Wesen, Inhalt, und nicht leere, starre Form. Mit Entzücken sah ich den Anteil, mit dem nicht bloß Leute der gebildeten Stände, sondern Menschen aus dem Volk, schlichte Arbeiter, der Rede folgten und sich so mit jenen zu der wahren Gemeinde der geistigen Gleichheit vereinigten. Die Gleichheit im Reiche Gottes war ja bis dahin immer noch eine Lüge gewesen. Das Recht der Bildung und dessen, was Menschen adelt, die Freiheit des Gedankens, gehört nur auf die eine Seite; so wie sogar in der Kirche, wo man den Vater aller Menschen verehrte, die begünstigteren Kinder in reichem Putz auf vornehmeren Sitzen saßen, während die Aschenbrödel sich in ihren Lumpen in die Ecken drängten und mit Angst das so oft unerhörte Gebet murmelten: „Unser täglich Brot gib uns heute.“

Hier in dieser [Freien] Gemeinde war die Religion zu der wahren Soziologie geworden, wo auf dem Grunde allgemeiner humaner Lebensanschauungen die bitteren Unterschiede des Ranges, Reichtums und der vielseitigeren Kenntnisse sich milderten und versöhnten. Das Ideal war nicht mehr in der Vergangenheit als ein absolutes ein für allemal festgestellt; es leuchtete in der Zukunft wie der Stern des Orients und zeigte den Weg.

Nach der Rede begab sich der Redner, Weigelt mit Namen, in ein anstoßendes Zimmer, wo ein jedes Gemeindemitglied zu ihm gehen, ihn über etwa zweifelhafte Punkte befragen und sich überhaupt mit ihm besprechen konnte. Dort entspannen sich oft noch lebhafte Verhandlungen, die nicht wenig dazu beitrugen, „das Wort“ lebendig zu machen und die Gemeindemitglieder untereinander zu verbinden, da alle, Reiche und Arme, gleichberechtigt waren.

Als ich dem Redner vorgestellt wurde, sagte ich ihm, dass seine Rede in mir den Wunsch erweckt habe, Mitglied der Gemeinde zu werden; dass ich wohl wisse, dass für diese eine Person mehr oder weniger nichts bedeute, dass es mir aber, ebensowohl für Frauen wie für Männer, eine Pflicht scheine, in Zeiten des Kampfes wie die, in welchen wir lebten, die eigene Überzeugung rein auszusprechen und sich denen anzuschließen, die sie teilten. Er gab mir Recht; nur riet er mir, zu warten und die Sache näher zu prüfen, um nicht einen für meine soziale Stellung wichtigen Schritt übereilt zu tun. Ich folgte seinem Rat und fing damit an, seine Individualität zu studieren. Wenn man ihn vor der Gemeinde sprechen hörte, hätte man ihn für einen Menschen unbeug-
samer Energie und von festem, kühnen Charakter halten sollen. Er war aber im Gegenteil von beinah weiblicher Sanftmut, wenig praktisch im gewöhnlichen Leben, scheu und zurückhaltend in Gesellschaft, liebenswürdig im näheren Umgang. In seinen Reden jedoch zog ihn die Logik, jene des Denkens, unwiderstehlich fort; dann war er unerbittlich konse-quent. Ich widmete ihm bald eine innige Freundschaft, die ihre volle Kraft behalten hat bis auf diese Stunde, obgleich lange Jahre der Trennung zwischen uns liegen und unsere Wege sich wohl nie mehr kreuzen werden.

Nach  einiger  Zeit  ließ ich  mich  als  Mitglied  in  die  Freie  Gemeinde [Hamburg] aufnehmen.

Es war dies einfach genug: Man wendete sich an den Verwaltungsrat und wurde dann der Gemeinde vorgeschlagen, die durch allgemeine Abstimmung über die Zulässigkeit der Aufnahme entschied. Danach wurde man in die Register der Gemeinde eingeschrieben und bezahlte einen äußerst geringen jährlichen Beitrag zu den gemeinsamen Ausgaben. ...

 

 ... Ein neuer Professor [Carl Volckhausen] war zu Vorlesungen an der Hochschule gewonnen worden, ein ebenso geistig bedeutender wie liebenswürdiger Mann. Er hielt uns Vorlesungen über Geologie und Chemie. Bei dem völligen Positivismus in der Wissenschaft war er doch eine tief poetische Natur, und wenn er uns von dem Kohlenstoff-Atom erzählte, das durch die Ewigkeit der Materie wandert, um sich bald zu dem Gehirn des Genius, der Unsterbliches schafft, bald zu dem Blütenkelch, der Duft ausströmt, mit anderen Stoffen zu verbinden, so schilderte er das in einer Weise, die uns alle zur Begeisterung hinriss. Eine Welt neuer Gedanken öffnete sich mir. Ich glaubte endlich die Lösung der Fragen nach dem Grund der Dinge zu erblicken. „Die Ewigkeit der Materie“, dieses Wort erschreckte mich nicht mehr – mich, die ich nicht mehr an die persönliche Unsterblichkeit glaubte. Ein ewiges Prinzip schien mir nun gesichert, und die Materie, die durch die christliche Anschauung so tief gedemütigt war, erstand aus ihrem verachteten Grabe und rief siegend: „Ich bin der ewige Grund, und das Individuum ist nur eine vorübergehende Äußerung meiner Ewigkeit.“

 ... Meine Ferien waren auch zu Ende: Ich wurde in der Hochschule erwartet und ging ... .

In der Hochschule wurde ich mit Freude empfangen. Anna und Charlotte, die auch eine Ferienreise gemacht hatten, waren noch nicht zurück. Unser lieber Professor, der Naturalist, kam von einer Reise in das südliche Deutschland zurück, wo er Gelegenheit gehabt hatte, den Umtrieben auf die Spur zu kommen, die die pietistische Partei, die eine starke Organisation in Hamburg hatte, gegen die Hochschule ins Werk setzte. Er hatte sogar bis in kleine Orte des Schwarzwalds hinein bei Pfarrern gedruckte Pamphlete vorgefunden, die von einer pietistischen Druckerei in Hamburg herrührten, in denen die Hochschule als ein Herd der Demagogie dargestellt wurde, wo unter dem Mantel der Wissenschaft
revolutionäre Pläne geschmiedet würden, und in denen demnach Eltern davor gewarnt wurden, ihre Töchter diesem Institut anzuvertrauen. Man machte uns also einen offenen Krieg!

Die Freunde der Unwissenheit und des Aberglaubens, die sich von jeher der Religion bedient haben, um ihre Zwecke durchzusetzen, hatten sich

gegen uns bewaffnet, weil wir die Frauen ihrem schmählichen Joch entziehen wollten.

Die Gefahr machte mir die Hochschule noch teurer, und ich gelobte mir selbst, sie nicht zu verlassen und ihr Schicksal zu teilen. Die Gefahr nahte sich auch mehr und mehr den Gemeinden; schon waren mehrere in verschiedenen Gegenden Deutschlands aufgelöst worden. Inzwischen blühte unsere Gemeindeschule, und unser Prediger führte sein Auditorium durch alle Konsequenzen der Kritik, bis er offen das Wort Atheismus aussprach, indem er ihm auf der anderen Seite einen idealen und praktischen Sozialismus darlegte, der die Stelle der alten Ordnung der Dinge, die des lebendig machenden Geistes beraubt, nur noch ein gefährlicher Irrtum waren, einnehmen sollte. ...

 

... Ich erkannte immer deutlicher aus allen Verhältnissen heraus die Kette von Ursache und Wirkung, die das ganze Dasein ausmacht und durch die sich endlich die lange Antinomie [Widerspruch, Gegensatz] von Geist und Natur, von freiem Willen und der von innerer oder äußerer Notwendigkeit bedingten Handlung löst.

Ich sah zugleich, dass, wenn die absolute Freiheit hierdurch verneint wird, doch die moralische Verantwortlichkeit des Menschen nicht dadurch aufgehoben wird, denn wenn jede Tat die Folge vorhergehender Ursachen ist, so wird sie zugleich Ursache einer Kette von Wirkungen und verbindet den Menschen mit diesem großen Gewebe der Existenz, dessen Faden niemals abreißt.

Einmal den Satz festgestellt, dass eine jede Handlung sich notwendig nach den überwiegenden Motiven bestimmt, so legt uns dies die doppelte Pflicht auf, die Motive zu fliehen, die uns zum Bösen bestimmen können, und diejenigen in uns zu stärken, die bestimmende Ursache des Guten werden, sei es für uns selbst oder für die, die wir erziehen. Denn wenn es keine Freiheit des Willens gibt, so gibt es auch andererseits keinen unmittelbaren Gehorsam gegen die bestimmenden Motive, sondern dieser bereitet sich meistenteils sehr allmählich vor.

Der bewusste Mensch ist also verantwortlich für diejenigen Motive, durch die er oder die, die er zu leiten hat, bestimmt werden. Diese Verantwortlichkeit ist es, die wir seine Freiheit nennen, oder mit anderen Worten: seine Fähigkeit, in seinem Leben die Motive überwiegend zu machen, die ihn zum Guten bestimmen. In diesem Sinn ist auch die Gesellschaft verantwortlich dafür, dass sie in ihrem Schoße die Motive geltend macht, die zum Guten führen. Eine aufgeklärte Justiz sollte daher immer erst fragen, inwieweit die Gesellschaft vielleicht selbst an dem begangenen Verbrechen schuld hat, inwieweit nämlich sie es unterließ, den Schuldigen mit den Motiven zu umgeben, die zum Guten reizen und so das Verbrechen verhüten. Erst danach sollten sie richten, entschuldigen oder bestrafen. ...